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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 22. Januar 1929.

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Gotthold Ephraim Lessing
zu seinem 200. Geburtstag
[Abbildung]

Der große deutsche Denker
und Dichter Gotthold
Ephraim Lessing erblickte
am 22. Januar 1729 als ältester von
10 Söhnen des Gelehrten und frommen
Diakons Johann Gottfried Lessing in
dem kleinen Städtchen Kamenz in der
Oberlausitz das Licht der Welt. Früh
schon entwickelte sich in dem aufge-
weckten und begabten Knaben ein aus-
gesprochener Hang zu Büchern und zur
Gelehrsamkeit, und als er, dreizehn-
jährig, in die Fürstenschule zu Meißen
eintrat, beschäftigte er sich in der
freien Zeit die die Anforderungen der
Schule ihm ließ, aus eigenem Antriebe
mit Mathematik, alter und neuer
Literatur und Philosophie. Mit
17 Jahren bezog er 1746 die Universi-
tät Leipzig, um auf Wunsch seiner
Eltern Theologie zu studieren. Mehr
Befriedigung als die Gottesgelehrt-
heit aber gewährten dem jungen Stu-
diosen die Vorlesungen über Philo-
sophie, Sprachen und Literatur, denen
er sich mit so großem Eifer widmete,
daß das Brotstudium darüber zu kurz
kam. Die größte Anziehungskraft
Leipzigs aber bildete für den jungen
Lessing das Theater, das damals unter
der Leitung der Schauspielerin Karoline
Neuber auf einer achtbaren Höhe
stand. In jenen Jahren schrieb
Lessing -- neben vielen kleineren literarischen Versuchen -- sein
erstes größeres Lustspiel "Der junge Gelehrte", das von der
Neuberschen Truppe mit großem Erfolg aufgeführt wurde.
Allein Lessings Tage in Leipzig waren gezählt. Seine Eltern,
durch übertriebene Gerüchte über einen wilden und unmora-
lischen Lebenswandel des Sohnes erschreckt, beriefen
ihn 1747 nach Hause, wo sie sich zwar überzeugen
konnten, daß der Charakter des Jünglings rein
und unverdorben geblieben war, gleichzeitig
aber einsehen mußten, daß Lessing zum Stu-
dium der Theologie wenig tauge. So
willigten sie denn ein, daß er fortan Philo-
logie und Medizin studierte, eine Zu-
sammenstellung, die zu jener Zeit nichts
Außergewöhnliches war. Wieder ging
der junge Lessing nach Leipzig, allein
sein diesmaliger Aufenthalt sollte nur
von kurzer Dauer sein. Unvorsichtiger-
weise hatte er sich dazu verleiten lassen,
für einige Schauspieler der Neuberschen
Truppe Bürgschaft zu leisten, eines
Tages war die Neuberin mit den ihren auf
und davon nach Wien gezogen, und Lessing
sah sich den drängenden Forderungen der
Gläubiger gegenübergestellt. Um seinen Ver-
pflichtungen nachkommen zu können, blieb ihm
nichts anderes übrig, als mit dem Gelde, das ihm für
seine Universitätsstudien zur Verfügung stand, die Schulden zu
tilgen, sich selbst aber einen praktischen Broterwerb zu suchen.
Er entschstloß sich, nach Berlin zu gehen, wo sein Leipziger
Freund Mylius, der inzwischen Redakteur der damaligen
"Rüdigerschen (späteren "Vossischen") Zeitung" geworden war,
ihm eine Stellung im Feuilleton der gleichen Zeitung ver-
schaffte. In den Berliner Jahren schrieb Lessing neben zahl-
reichen Kritiken, Abhandlungen und Uebersetzungen, das Trauer-
spiel "Miß Sara Sampson", ein Stück, das als die erste bahn-
brechende bürgerliche Tragödie der deutschen Literatur anzusehen
ist. Mit der Tradition, die es verbot, andere als adlige Per-
sonen auf der Bühne als Helden erscheinen zu lassen, hat der
[Spaltenumbruch] Dichter in seinem Werk gründlich aufgeräumt. "Miß Sara Sampson" wurde im
Herbst 1755 in Leipzig von der Truppe des Lessing befreundeten Schauspielers Koch zum
ersten Male, aufgeführt. Der Dichter, der kurz vorher ohne Wissen seiner Berliner
Freunde nach Leipzig gekommen war, lernte hier einen reichen jungen Patrizier kennen,
der ihm anbot, mit ihm als Reisebegleiter eine dreijährige Fahrt durch Europa zu
unternehmen. Als aber die Reisenden in Holland waren, machte der Ausbruch des sieben-
jährigen Krieges allen weiteren Plänen ein Ende. Sie kehrten nach Leipzig zurück und
Lessing sah sich aufs neue in die Notwendigkeit versetzt, mit der Feder sein Brot zu er-
werben. 1758 sehen wir
ihn wieder als Schrift-
steller in Berlin, von wo
er nach 31/2 Jahren als
Gouvernementssekretär des
Generals von Tauentzien
nach Breslau geht. Dort
widmet er sich in den
nächsten fünf Jahren dem
Staatsdienst und schrieb
nebenbei den "Laokoon"
und die "Minna von Barn-
heim", das klassische Lust-
viel der Deutschen, das
heute noch ebenso lobens-
sprudelnd und reizvoll
wirkt, wie zu Lebzeiten
des Dichters. 1766 gab
Lessing Veruf und Wohnsitz
in Breslau auf, um nach
kurzem Aufenthalte in
Berlin einem Rufe als
Dramaturg und Kritiker
an ein Hamburger The-
ater Folge zu leisten.
Seine während der dor-
tigen Wirksamkeit ver-
faßten Kritiken und Stu-
dien zur Theatergeschichte
veröffentlichte er als Ge-
samtwerk unter dem Titel
"Hamburgische Drama-
turgie." Vierzigjährig
verlobte er sich mit Eva
König, der Witwe eines
langjährigen Freundes,
des Hamburger Kauf-
manns König. Aber erst
mehrere Jahre später, als
seine Verhältnisse sich
geklärt hatten und eine
Stellung als Bibliothekar
an der herzoglich braunschweigischen Bibliothek in Wolfsbüttel
ihm ein gesichertes, wenn auch äußerst bescheidenes Einkommen
verschaffte, konnte er seine Braut heimführen. Mehrfache, von
zahlreichen Freunden unterstützte Bestrebungen, von Friedrich
dem Großen einen Bibliotheksposten zu erhalten, waren an der
durch Voltaires Beeinflussung hervorgerufenen
ungerechtfertigten Abneigung des Königs
gegen Lessing, gescheitert und äußerst de-
mütigend mußte es für diesen sein,
einen ganz unbedeutenden Franzosen
mit dem von ihm selber gewünschten
Posten betraut zu sehen. Dennoch
sind diese Jahre der Unsicherheit
vor der Gründung eines eigenen
Heims fruchtbar an schöpferischer
Arbeit für den Dichter, die Ent-
stehung seiner Tragödie "Emilia
Galotti", sowie zahlreicher litera-
rischer und philosophischer Ab-
handlungen und Aufsätze fällt in
diese Zeit. An der Seite seiner
Gattin war Lessing nur ein kurzes
Jahr des Glückes beschieden, dann
starb Eva an der Geburt eines Sohnes,
der 24 Stunden, nachdem er das Licht der
Welt erblickt hatte, seiner Mutter bereits im
Tode vorangegangen war. Die letzten Jahre
seines Lebens verbrachte der Dichter als ein
einsamer Mann, der bei zunehmender
Kränklichkeit seine ganze ihm noch ver-
bleibende Kraft ausschließlich in den Dienst
seiner Arbeit stellte. Seine bekannten
scharfen theologischen und philosophischen
Streitschriften sind in dieser Zeit entstanden.
Er schuf aber auch "Nathan der Weise", die
reifste Frucht eines von rastlosem Kampfe
um das Edle und Gute erfüllten Lebens.

Am 15. Februar 1781 erlöste der Tod
Lessing, den Menschen, dessen Leben zwar
arm an Freuden gewesen war, dessen
Geist aber der Welt seltene und kostbare
Gaben aus der Fülle seines Reichtums
gespendet hat.

[Abbildung]
[Abbildung]

Unsere Bilder:
Links oben: Minna von Barnhelm, 1. Akt. 2. Auftritt;
Just: "Herr Wirt, er ist doch ein Grobian" -- Rechts
oben: 2. Aufzug, 7. Auftritt; Minna: "Ich hab' ihn, ich
hab' ihn, ich bin glücklich und fröhlich!" (Illustrationen
von Chodowiecki, 1770.) -- Mitte: Lessing, im Alter von
40 Jahren. -- Links unten: Lessing, zur Zeit, da er die
Minna von Barnhelm schrieb. (Zeichnungen nach alten
Stichen.) -- Rechts Mitte: Lessings Frau Eva Katerina,
geb. Hahn. (Nach einem alten Oelgemälde.) -- Mitte
unten: Lessings Geburtshaus- in Kamenz.

Anekdotisches über Lessing.

An einem Wintertage ging Lessing mit
einem Bekannten über Land. Beide Herren
kamen an einer Anhöhe vorbei, auf der ein Galgen stand. Ein
Gerichteter hing, von Krähen umschwärmt, daran. -- Der
Begleiter sagte zu Lessing: "Herr Hofrat, machen Sie
[Spaltenumbruch] doch einmal schnell einen
Grabspruch auf das arme
Sünderlein da oben!"

"Das ist ganz einfach",
entgegnete Lessing, "sagen
wir: Hier ruht er, wenn
der Wind nicht weht!"

[Abbildung]

Lessings Haupthaar war
außerordentlich voll und
kräftig entwickelt. Des-
halb trug der Dichter sel-
ten eine Perücke, sondern
ließ sein eigenes Haar nach der
damals herrschenden Mode fri-
sieren. Dieser Gewohnheit ver-
dankte der Dichter, als er in Hamburg
als Bräutigam weilte, seine Rettung aus Lebensgefahr. Lessing
war bei einer Kahnpartie in die Alster gefallen und wurde von
seinem Retter im letzten Augenblick beim Haarbeutel gepackt, der
festgewachsen war.

Ein berühmter Zeitgenosse unserer Klassiker, Anton Graff
(1736--1813) malte auch Lessing. Das am besten erhaltene und
auch wohl wertvollste Graffsche Lessingporträt ist das sogen. Ham-
burger. Als Lessing das fertige Bild erblickte, soll er ausgerufen
haben: "Sehe ich denn so -- verteufelt freundlich aus?"

[Abbildung]

Lessing war weder
Raucher noch Schnupfer;
er unterließ es aber
selten, namentlich wenn
der Halberstädter "Papa
Gleim", der berühmte
Dichter und Kanoni-
kus, ein Hauptschmöker,
anwesend war, "kalt"
mitzurauchen. Anwe-
sende Gäste belustigte
diese Gewohnheit des
Dichters.

"Niemals habe ich
während meiner Man-
nesjahre geraucht,
meine Herrschaften,"
sagte Lessing eines
Tages, "bloß einige
Male auf der Schule;
aber nur deshalb,
weil es so streng ver-
boten war!"

Folgendes Geschicht-
chen sei bei dieser
Gelegenheit noch erwähnt: Einst erbat sich der Bibliothekar
Ebert in Wolfenbüttel angeregt durch die Worte Goethes, daß
alle oder doch viele bedeutende Männer, darunter auch Lessing
Nichtraucher oder Tabakfeinde gewesen wären, von der alten
Aufwärterin Lessings genaue Auskunft über einige Lebens-
gewohnheiten des "Herrn Hofrates". Ebert erhielt jedoch von
der mürrischen, altersschwachen Person folgende Antwort in
breitem Braunschweiger Platt, die des Humors nicht entbehrt:

"Jä, jä, smöten (!) un schriewen (schreiben) konne hei (er)
woll! Aber tau weiter was hei nich tau bruken!" (Zu Besserem
war er nicht zu gebrauchen.)

Auf einer Reise von Hamburg nach Wolfenbüttel nahm
Lessing in einem Landstädtchen Aufenthalt, wo auch eine wan-
dernde Komödiantentruppe mit ihrem Thespiskarren eingezogen
war. Die "Palmarumbrüder", so nannte man in alter Zeit in
Niedersachsen die wandernden Schauspieler, erfuhren von der
Anwesenheit des großen "Komödiendichters" und setzten schleu-
nigst in ihrem primitiven Theatersaal "Minna von Barnhelm"
dem Publikum vor. Lessing wurde von einem Freunde gut zu-
geredet, der Vorstellung beizuwohnen. "Welcher Vater sieht nicht
gern sein Kind wieder, wo es auch sei!"

"Wenn er aber fürchten muß, es am Galgen zu sehen?"
entgegnete Lessing.

[Abbildung]

Das fast vollendete
"Nathan" - Manuskript
beschmutzte einst das
kranke Kätzchen des
Dichters. Für die große
Tierliebe Lessings spricht
der Umstand, daß das
Tier mit keiner Züch-
tigung bedacht wurde,
sondern sofort in liebe-
volle Behandlung kam.

Die Katze hatte einige
Szenen des "Nathan"
derartig verunreinigt,
daß Lessing sich der
mühevollen Arbeit des
Abschreibens unterziehen
mußte. Diese Tätigkeit
unterbrach der Dichter
mehrfach und nahm das erkrankte Kätzchen in Augenschein.
Auch sorgte er für ein gutes Lager und brachte dem vier-
füßigen Patienten Milch.

Gotthold Ephraim Leſſing
zu ſeinem 200. Geburtstag
[Abbildung]

Der große deutſche Denker
und Dichter Gotthold
Ephraim Leſſing erblickte
am 22. Januar 1729 als älteſter von
10 Söhnen des Gelehrten und frommen
Diakons Johann Gottfried Leſſing in
dem kleinen Städtchen Kamenz in der
Oberlauſitz das Licht der Welt. Früh
ſchon entwickelte ſich in dem aufge-
weckten und begabten Knaben ein aus-
geſprochener Hang zu Büchern und zur
Gelehrſamkeit, und als er, dreizehn-
jährig, in die Fürſtenſchule zu Meißen
eintrat, beſchäftigte er ſich in der
freien Zeit die die Anforderungen der
Schule ihm ließ, aus eigenem Antriebe
mit Mathematik, alter und neuer
Literatur und Philoſophie. Mit
17 Jahren bezog er 1746 die Univerſi-
tät Leipzig, um auf Wunſch ſeiner
Eltern Theologie zu ſtudieren. Mehr
Befriedigung als die Gottesgelehrt-
heit aber gewährten dem jungen Stu-
dioſen die Vorleſungen über Philo-
ſophie, Sprachen und Literatur, denen
er ſich mit ſo großem Eifer widmete,
daß das Brotſtudium darüber zu kurz
kam. Die größte Anziehungskraft
Leipzigs aber bildete für den jungen
Leſſing das Theater, das damals unter
der Leitung der Schauſpielerin Karoline
Neuber auf einer achtbaren Höhe
ſtand. In jenen Jahren ſchrieb
Leſſing — neben vielen kleineren literariſchen Verſuchen — ſein
erſtes größeres Luſtſpiel „Der junge Gelehrte“, das von der
Neuberſchen Truppe mit großem Erfolg aufgeführt wurde.
Allein Leſſings Tage in Leipzig waren gezählt. Seine Eltern,
durch übertriebene Gerüchte über einen wilden und unmora-
liſchen Lebenswandel des Sohnes erſchreckt, beriefen
ihn 1747 nach Hauſe, wo ſie ſich zwar überzeugen
konnten, daß der Charakter des Jünglings rein
und unverdorben geblieben war, gleichzeitig
aber einſehen mußten, daß Leſſing zum Stu-
dium der Theologie wenig tauge. So
willigten ſie denn ein, daß er fortan Philo-
logie und Medizin ſtudierte, eine Zu-
ſammenſtellung, die zu jener Zeit nichts
Außergewöhnliches war. Wieder ging
der junge Leſſing nach Leipzig, allein
ſein diesmaliger Aufenthalt ſollte nur
von kurzer Dauer ſein. Unvorſichtiger-
weiſe hatte er ſich dazu verleiten laſſen,
für einige Schauſpieler der Neuberſchen
Truppe Bürgſchaft zu leiſten, eines
Tages war die Neuberin mit den ihren auf
und davon nach Wien gezogen, und Leſſing
ſah ſich den drängenden Forderungen der
Gläubiger gegenübergeſtellt. Um ſeinen Ver-
pflichtungen nachkommen zu können, blieb ihm
nichts anderes übrig, als mit dem Gelde, das ihm für
ſeine Univerſitätsſtudien zur Verfügung ſtand, die Schulden zu
tilgen, ſich ſelbſt aber einen praktiſchen Broterwerb zu ſuchen.
Er entſchſtloß ſich, nach Berlin zu gehen, wo ſein Leipziger
Freund Mylius, der inzwiſchen Redakteur der damaligen
„Rüdigerſchen (ſpäteren „Voſſiſchen“) Zeitung“ geworden war,
ihm eine Stellung im Feuilleton der gleichen Zeitung ver-
ſchaffte. In den Berliner Jahren ſchrieb Leſſing neben zahl-
reichen Kritiken, Abhandlungen und Ueberſetzungen, das Trauer-
ſpiel „Miß Sara Sampſon“, ein Stück, das als die erſte bahn-
brechende bürgerliche Tragödie der deutſchen Literatur anzuſehen
iſt. Mit der Tradition, die es verbot, andere als adlige Per-
ſonen auf der Bühne als Helden erſcheinen zu laſſen, hat der
[Spaltenumbruch] Dichter in ſeinem Werk gründlich aufgeräumt. „Miß Sara Sampſon“ wurde im
Herbſt 1755 in Leipzig von der Truppe des Leſſing befreundeten Schauſpielers Koch zum
erſten Male, aufgeführt. Der Dichter, der kurz vorher ohne Wiſſen ſeiner Berliner
Freunde nach Leipzig gekommen war, lernte hier einen reichen jungen Patrizier kennen,
der ihm anbot, mit ihm als Reiſebegleiter eine dreijährige Fahrt durch Europa zu
unternehmen. Als aber die Reiſenden in Holland waren, machte der Ausbruch des ſieben-
jährigen Krieges allen weiteren Plänen ein Ende. Sie kehrten nach Leipzig zurück und
Leſſing ſah ſich aufs neue in die Notwendigkeit verſetzt, mit der Feder ſein Brot zu er-
werben. 1758 ſehen wir
ihn wieder als Schrift-
ſteller in Berlin, von wo
er nach 3½ Jahren als
Gouvernementsſekretär des
Generals von Tauentzien
nach Breslau geht. Dort
widmet er ſich in den
nächſten fünf Jahren dem
Staatsdienſt und ſchrieb
nebenbei den „Laokoon“
und die „Minna von Barn-
heim“, das klaſſiſche Luſt-
viel der Deutſchen, das
heute noch ebenſo lobens-
ſprudelnd und reizvoll
wirkt, wie zu Lebzeiten
des Dichters. 1766 gab
Leſſing Veruf und Wohnſitz
in Breslau auf, um nach
kurzem Aufenthalte in
Berlin einem Rufe als
Dramaturg und Kritiker
an ein Hamburger The-
ater Folge zu leiſten.
Seine während der dor-
tigen Wirkſamkeit ver-
faßten Kritiken und Stu-
dien zur Theatergeſchichte
veröffentlichte er als Ge-
ſamtwerk unter dem Titel
„Hamburgiſche Drama-
turgie.“ Vierzigjährig
verlobte er ſich mit Eva
König, der Witwe eines
langjährigen Freundes,
des Hamburger Kauf-
manns König. Aber erſt
mehrere Jahre ſpäter, als
ſeine Verhältniſſe ſich
geklärt hatten und eine
Stellung als Bibliothekar
an der herzoglich braunſchweigiſchen Bibliothek in Wolfsbüttel
ihm ein geſichertes, wenn auch äußerſt beſcheidenes Einkommen
verſchaffte, konnte er ſeine Braut heimführen. Mehrfache, von
zahlreichen Freunden unterſtützte Beſtrebungen, von Friedrich
dem Großen einen Bibliothekspoſten zu erhalten, waren an der
durch Voltaires Beeinfluſſung hervorgerufenen
ungerechtfertigten Abneigung des Königs
gegen Leſſing, geſcheitert und äußerſt de-
mütigend mußte es für dieſen ſein,
einen ganz unbedeutenden Franzoſen
mit dem von ihm ſelber gewünſchten
Poſten betraut zu ſehen. Dennoch
ſind dieſe Jahre der Unſicherheit
vor der Gründung eines eigenen
Heims fruchtbar an ſchöpferiſcher
Arbeit für den Dichter, die Ent-
ſtehung ſeiner Tragödie „Emilia
Galotti“, ſowie zahlreicher litera-
riſcher und philoſophiſcher Ab-
handlungen und Aufſätze fällt in
dieſe Zeit. An der Seite ſeiner
Gattin war Leſſing nur ein kurzes
Jahr des Glückes beſchieden, dann
ſtarb Eva an der Geburt eines Sohnes,
der 24 Stunden, nachdem er das Licht der
Welt erblickt hatte, ſeiner Mutter bereits im
Tode vorangegangen war. Die letzten Jahre
ſeines Lebens verbrachte der Dichter als ein
einſamer Mann, der bei zunehmender
Kränklichkeit ſeine ganze ihm noch ver-
bleibende Kraft ausſchließlich in den Dienſt
ſeiner Arbeit ſtellte. Seine bekannten
ſcharfen theologiſchen und philoſophiſchen
Streitſchriften ſind in dieſer Zeit entſtanden.
Er ſchuf aber auch „Nathan der Weiſe“, die
reifſte Frucht eines von raſtloſem Kampfe
um das Edle und Gute erfüllten Lebens.

Am 15. Februar 1781 erlöſte der Tod
Leſſing, den Menſchen, deſſen Leben zwar
arm an Freuden geweſen war, deſſen
Geiſt aber der Welt ſeltene und koſtbare
Gaben aus der Fülle ſeines Reichtums
geſpendet hat.

[Abbildung]
[Abbildung]

Unſere Bilder:
Links oben: Minna von Barnhelm, 1. Akt. 2. Auftritt;
Juſt: „Herr Wirt, er iſt doch ein Grobian“ — Rechts
oben: 2. Aufzug, 7. Auftritt; Minna: „Ich hab’ ihn, ich
hab’ ihn, ich bin glücklich und fröhlich!“ (Illuſtrationen
von Chodowiecki, 1770.) — Mitte: Leſſing, im Alter von
40 Jahren. — Links unten: Leſſing, zur Zeit, da er die
Minna von Barnhelm ſchrieb. (Zeichnungen nach alten
Stichen.) — Rechts Mitte: Leſſings Frau Eva Katerina,
geb. Hahn. (Nach einem alten Oelgemälde.) — Mitte
unten: Leſſings Geburtshaus- in Kamenz.

Anekdotiſches über Leſſing.

An einem Wintertage ging Leſſing mit
einem Bekannten über Land. Beide Herren
kamen an einer Anhöhe vorbei, auf der ein Galgen ſtand. Ein
Gerichteter hing, von Krähen umſchwärmt, daran. — Der
Begleiter ſagte zu Leſſing: „Herr Hofrat, machen Sie
[Spaltenumbruch] doch einmal ſchnell einen
Grabſpruch auf das arme
Sünderlein da oben!“

„Das iſt ganz einfach“,
entgegnete Leſſing, „ſagen
wir: Hier ruht er, wenn
der Wind nicht weht!“

[Abbildung]

Leſſings Haupthaar war
außerordentlich voll und
kräftig entwickelt. Des-
halb trug der Dichter ſel-
ten eine Perücke, ſondern
ließ ſein eigenes Haar nach der
damals herrſchenden Mode fri-
ſieren. Dieſer Gewohnheit ver-
dankte der Dichter, als er in Hamburg
als Bräutigam weilte, ſeine Rettung aus Lebensgefahr. Leſſing
war bei einer Kahnpartie in die Alſter gefallen und wurde von
ſeinem Retter im letzten Augenblick beim Haarbeutel gepackt, der
feſtgewachſen war.

Ein berühmter Zeitgenoſſe unſerer Klaſſiker, Anton Graff
(1736—1813) malte auch Leſſing. Das am beſten erhaltene und
auch wohl wertvollſte Graffſche Leſſingporträt iſt das ſogen. Ham-
burger. Als Leſſing das fertige Bild erblickte, ſoll er ausgerufen
haben: „Sehe ich denn ſo — verteufelt freundlich aus?“

[Abbildung]

Leſſing war weder
Raucher noch Schnupfer;
er unterließ es aber
ſelten, namentlich wenn
der Halberſtädter „Papa
Gleim“, der berühmte
Dichter und Kanoni-
kus, ein Hauptſchmöker,
anweſend war, „kalt“
mitzurauchen. Anwe-
ſende Gäſte beluſtigte
dieſe Gewohnheit des
Dichters.

„Niemals habe ich
während meiner Man-
nesjahre geraucht,
meine Herrſchaften,“
ſagte Leſſing eines
Tages, „bloß einige
Male auf der Schule;
aber nur deshalb,
weil es ſo ſtreng ver-
boten war!“

Folgendes Geſchicht-
chen ſei bei dieſer
Gelegenheit noch erwähnt: Einſt erbat ſich der Bibliothekar
Ebert in Wolfenbüttel angeregt durch die Worte Goethes, daß
alle oder doch viele bedeutende Männer, darunter auch Leſſing
Nichtraucher oder Tabakfeinde geweſen wären, von der alten
Aufwärterin Leſſings genaue Auskunft über einige Lebens-
gewohnheiten des „Herrn Hofrates“. Ebert erhielt jedoch von
der mürriſchen, altersſchwachen Perſon folgende Antwort in
breitem Braunſchweiger Platt, die des Humors nicht entbehrt:

„Jä, jä, ſmöten (!) un ſchriewen (ſchreiben) konne hei (er)
woll! Aber tau weiter was hei nich tau bruken!“ (Zu Beſſerem
war er nicht zu gebrauchen.)

Auf einer Reiſe von Hamburg nach Wolfenbüttel nahm
Leſſing in einem Landſtädtchen Aufenthalt, wo auch eine wan-
dernde Komödiantentruppe mit ihrem Theſpiskarren eingezogen
war. Die „Palmarumbrüder“, ſo nannte man in alter Zeit in
Niederſachſen die wandernden Schauſpieler, erfuhren von der
Anweſenheit des großen „Komödiendichters“ und ſetzten ſchleu-
nigſt in ihrem primitiven Theaterſaal „Minna von Barnhelm“
dem Publikum vor. Leſſing wurde von einem Freunde gut zu-
geredet, der Vorſtellung beizuwohnen. „Welcher Vater ſieht nicht
gern ſein Kind wieder, wo es auch ſei!“

„Wenn er aber fürchten muß, es am Galgen zu ſehen?“
entgegnete Leſſing.

[Abbildung]

Das faſt vollendete
„Nathan“ - Manuſkript
beſchmutzte einſt das
kranke Kätzchen des
Dichters. Für die große
Tierliebe Leſſings ſpricht
der Umſtand, daß das
Tier mit keiner Züch-
tigung bedacht wurde,
ſondern ſofort in liebe-
volle Behandlung kam.

Die Katze hatte einige
Szenen des „Nathan“
derartig verunreinigt,
daß Leſſing ſich der
mühevollen Arbeit des
Abſchreibens unterziehen
mußte. Dieſe Tätigkeit
unterbrach der Dichter
mehrfach und nahm das erkrankte Kätzchen in Augenſchein.
Auch ſorgte er für ein gutes Lager und brachte dem vier-
füßigen Patienten Milch.

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[0011] Gotthold Ephraim Leſſing zu ſeinem 200. Geburtstag [Abbildung] Der große deutſche Denker und Dichter Gotthold Ephraim Leſſing erblickte am 22. Januar 1729 als älteſter von 10 Söhnen des Gelehrten und frommen Diakons Johann Gottfried Leſſing in dem kleinen Städtchen Kamenz in der Oberlauſitz das Licht der Welt. Früh ſchon entwickelte ſich in dem aufge- weckten und begabten Knaben ein aus- geſprochener Hang zu Büchern und zur Gelehrſamkeit, und als er, dreizehn- jährig, in die Fürſtenſchule zu Meißen eintrat, beſchäftigte er ſich in der freien Zeit die die Anforderungen der Schule ihm ließ, aus eigenem Antriebe mit Mathematik, alter und neuer Literatur und Philoſophie. Mit 17 Jahren bezog er 1746 die Univerſi- tät Leipzig, um auf Wunſch ſeiner Eltern Theologie zu ſtudieren. 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Auftritt; Juſt: „Herr Wirt, er iſt doch ein Grobian“ — Rechts oben: 2. Aufzug, 7. Auftritt; Minna: „Ich hab’ ihn, ich hab’ ihn, ich bin glücklich und fröhlich!“ (Illuſtrationen von Chodowiecki, 1770.) — Mitte: Leſſing, im Alter von 40 Jahren. — Links unten: Leſſing, zur Zeit, da er die Minna von Barnhelm ſchrieb. (Zeichnungen nach alten Stichen.) — Rechts Mitte: Leſſings Frau Eva Katerina, geb. Hahn. (Nach einem alten Oelgemälde.) — Mitte unten: Leſſings Geburtshaus- in Kamenz.] Anekdotiſches über Leſſing. An einem Wintertage ging Leſſing mit einem Bekannten über Land. Beide Herren kamen an einer Anhöhe vorbei, auf der ein Galgen ſtand. Ein Gerichteter hing, von Krähen umſchwärmt, daran. — Der Begleiter ſagte zu Leſſing: „Herr Hofrat, machen Sie doch einmal ſchnell einen Grabſpruch auf das arme Sünderlein da oben!“ „Das iſt ganz einfach“, entgegnete Leſſing, „ſagen wir: Hier ruht er, wenn der Wind nicht weht!“ [Abbildung] Leſſings Haupthaar war außerordentlich voll und kräftig entwickelt. Des- halb trug der Dichter ſel- ten eine Perücke, ſondern ließ ſein eigenes Haar nach der damals herrſchenden Mode fri- ſieren. Dieſer Gewohnheit ver- dankte der Dichter, als er in Hamburg als Bräutigam weilte, ſeine Rettung aus Lebensgefahr. Leſſing war bei einer Kahnpartie in die Alſter gefallen und wurde von ſeinem Retter im letzten Augenblick beim Haarbeutel gepackt, der feſtgewachſen war. Ein berühmter Zeitgenoſſe unſerer Klaſſiker, Anton Graff (1736—1813) malte auch Leſſing. Das am beſten erhaltene und auch wohl wertvollſte Graffſche Leſſingporträt iſt das ſogen. Ham- burger. Als Leſſing das fertige Bild erblickte, ſoll er ausgerufen haben: „Sehe ich denn ſo — verteufelt freundlich aus?“ [Abbildung] Leſſing war weder Raucher noch Schnupfer; er unterließ es aber ſelten, namentlich wenn der Halberſtädter „Papa Gleim“, der berühmte Dichter und Kanoni- kus, ein Hauptſchmöker, anweſend war, „kalt“ mitzurauchen. Anwe- ſende Gäſte beluſtigte dieſe Gewohnheit des Dichters. „Niemals habe ich während meiner Man- nesjahre geraucht, meine Herrſchaften,“ ſagte Leſſing eines Tages, „bloß einige Male auf der Schule; aber nur deshalb, weil es ſo ſtreng ver- boten war!“ Folgendes Geſchicht- chen ſei bei dieſer Gelegenheit noch erwähnt: Einſt erbat ſich der Bibliothekar Ebert in Wolfenbüttel angeregt durch die Worte Goethes, daß alle oder doch viele bedeutende Männer, darunter auch Leſſing Nichtraucher oder Tabakfeinde geweſen wären, von der alten Aufwärterin Leſſings genaue Auskunft über einige Lebens- gewohnheiten des „Herrn Hofrates“. Ebert erhielt jedoch von der mürriſchen, altersſchwachen Perſon folgende Antwort in breitem Braunſchweiger Platt, die des Humors nicht entbehrt: „Jä, jä, ſmöten (!) un ſchriewen (ſchreiben) konne hei (er) woll! Aber tau weiter was hei nich tau bruken!“ (Zu Beſſerem war er nicht zu gebrauchen.) Auf einer Reiſe von Hamburg nach Wolfenbüttel nahm Leſſing in einem Landſtädtchen Aufenthalt, wo auch eine wan- dernde Komödiantentruppe mit ihrem Theſpiskarren eingezogen war. Die „Palmarumbrüder“, ſo nannte man in alter Zeit in Niederſachſen die wandernden Schauſpieler, erfuhren von der Anweſenheit des großen „Komödiendichters“ und ſetzten ſchleu- nigſt in ihrem primitiven Theaterſaal „Minna von Barnhelm“ dem Publikum vor. Leſſing wurde von einem Freunde gut zu- geredet, der Vorſtellung beizuwohnen. „Welcher Vater ſieht nicht gern ſein Kind wieder, wo es auch ſei!“ „Wenn er aber fürchten muß, es am Galgen zu ſehen?“ entgegnete Leſſing. [Abbildung] Das faſt vollendete „Nathan“ - Manuſkript beſchmutzte einſt das kranke Kätzchen des Dichters. Für die große Tierliebe Leſſings ſpricht der Umſtand, daß das Tier mit keiner Züch- tigung bedacht wurde, ſondern ſofort in liebe- volle Behandlung kam. Die Katze hatte einige Szenen des „Nathan“ derartig verunreinigt, daß Leſſing ſich der mühevollen Arbeit des Abſchreibens unterziehen mußte. Dieſe Tätigkeit unterbrach der Dichter mehrfach und nahm das erkrankte Kätzchen in Augenſchein. Auch ſorgte er für ein gutes Lager und brachte dem vier- füßigen Patienten Milch.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-01-02T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 22. Januar 1929, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1929/11>, abgerufen am 21.11.2024.