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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920.

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9. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] stürmischer und vorbehaltloser in Heinrich Manns fast
gleichzeitig erschienener Romandichtung: "Die kleine Stadt"
zum Ausdruck gelangt." Errettung bringt schließlich nach
diesem Werk die Einsicht, daß das Ringen um das Werk
die ethische Erfüllung des Daseins bedeutet.

Thomas Mann hatte nun eine Höhe seiner inneren Ent-
wicklung erreicht. Mit deren einer Seite, der artistischen,
rechnete er im folgenden Werke "Der Todin Venedig"
nochmals ab. Er schrieb sich in dieser kostbaren Novelle
die Qual seiner Arbeitsweise von der Seele und geriet
darüber in die beklemmende Sterbenserfahrung Venedigs,
ohne Erlösung zu finden. Aus dem ästhetischen Genuß der
Knabenschönheit erwächst menschlichste Leidenschaft voll allen
Grauens der sexuellen Phantasie und des männlichen Wol-
lens. Nur ein nicht gesuchter Tod befreit von der völligen
Zersetzung des inneren Seins. Erschütternd bekennt der
Dichter das ewig Zweideutige, Zweifelhafte, Anrüchige in
der Natur des Künstlers: alles, was er sich aufgebaut, um
Schönheit und Sittlichkeit, um Schönheit und Würde ganz
zu vereinen, zu besitzen, zerfällt.

So findet der Künstler in Thomas Mann nicht zur Ein-
heit mit dem Menschen. Während dieser darauf aus ist, sich
eine sittliche Welt zu erwerben, muß jener sie immer wieder
aus Erlebnis- und Schönheitsbegier verneinen, ablehnen.
Der ewige Zwiespalt bleibt. Was Thomas Mann subjektiv
in sich erfuhr und zu Ende dachte, gestaltete er zu typischer
Geltung: das Künstlertum geht nie einig mit dem Menschen-
tum. Freilich: der Denker leistet hier Thomas Mann scharfe
Hilfe: im "Tod in Venedig" steht höchst Anschauliches neben
völlig Abstraktem, die epische und essayistische Ausdrucks-
weise wechseln beständig; die zu kleine Erkenntnis löst die
Gestaltungskraft auf. Der Individualismus wird letzten
Endes zur Sackgasse und der Einzelfall Thomas Mann kann
nicht für die Gesamtgattung der Künstler Gültigkeit haben,
sondern nur für eine Künstlerart, für alle die, in denen die
Sehnsucht nach naivem Erleben ebenso unmittelbar ist wie
ihr Drang, Schaffender zu sein. In kleinen Werkstücken,
die das größere Schaffen begleiteten, wiederholte der Dichter
zur Uebung und Erholung, aus Studiumszwecken und zur
eigenen Klärung die Untersuchung und Gestaltung des Pro-
blems: im "Wunderkind" (1914).

Der Ausbruch des Weltkrieges allein war es nicht, der
den Dichter aus der Sackgasse herausführte. Schon im
Roman "Königliche Hoheit" meldeten sich erste Aufblicke in
eine neue Entwicklung bei Betrachtung des Fürstenproblems
in ethisch-sozialer Hinsicht. Ebenso führer die Studien zu
"Friedrich und die große Koalition" vor das
Jahr 1914 zurück. Der Wille, sich mit dem ihm persönlich
tief verbundenen nationalen Problem auseinanderzusetzen,
wuchs. Thomas Mann sah den Weg der Gegenwartsentwick-
lung, dumpf ahnend, halb unbewußt und unklar. Seine
konservative Natur trieb ihn, das Volk zu lieben auf
patriarchalischer Grundlage; seine individualistische Kultur
zur Bejahung des Aristokratismus, der Persönlichkeit, der
Bedeutung alles Führertums. In Friedrich dem Großen
wuchs ihm die Gestalt zu, in der er einen einzelnen sich
herausheben sah aus einer Masse ihn anfeindender Men-
schen und in der er diesen einzelnen siegen sah. Das gleiche
Prohlem lag vor wie bei seinen bisherigen Büchern, nun
aber nicht mehr auf psychologisch-künstlerischem, sondern
auf politisch-nationalem Gebiete. Der Kriegsausbruch ließ
den großen Abschluß der Studien und ihr volles Ausreifen
zum Kunstwerk nicht zu: vorzeitig wurde der "Abriß für
den Tag und die Stunde" fertiggestellt. Voll symbolischer
Kraft: die Gestalt des Königs wurde zu Deutschland --
Deutschland wurde Friedrich der Große. In einer Figur, in
deren Formung Thomas Manns Wissen um den Menschen
Blutwärme erzeugte, sammelte sich wie in einer Linse seine
Liebe zu allem, was deutsch ist. Er suchte hinter das Wesen
der Politik zu schauen, auch hier das Menschliche als das
Fruchttreibende erkennend. Er sah Friedrich den Großen
als Problem nach Rousseauschem Ausspruch: "il pense en
philosophe et se conduit en roi
". Er sah auch diesen
König ausgeliefert dem Widerstreit eines Dualismus, der
natürliches Genie und Lebensaufgabe kontrastierte und den
[Spaltenumbruch] Menschen zum Opfer machte, Leidenschaft unter preußische
Dißiplin und strengstes Zweckbewußtsein zwang und dadurch
ein haßerzeugendes Mißtrauen gegen das eigene Handeln
aus nie erschlaffender Vitalität erzeugte. Auch über diesen
König herrschte ein Unglück gebärender innerer Konflikt
zwischen dem angeborenen Geist und der ererbten Verpflich-
tung, ein Konflikt, der durch seine Folgen die Verleumdung
der Welt auslöste, wie er für seinen Träger den Haß des
Desillusionierten gegen die Frauen mit sich brachte: diesen
Haß, diese Verleumdung trug er aber, "damit eines großen
Volkes Erdensendung sich erfülle". Reinste Männlichkeit
enthüllte sich in diesem Spiel der Kräfte. Das Problem des
Ichs war überwunden, Thomas Mann ging über sich hinaus
zum Problem des Deutschtums überhaupt.

Wie er damit rang, enthüllte er in Tagebuchform in den
"Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918).
Eine zweite Seite seines Wesens, sein denkendes Erleben
als Zeitgenosse, ward hier unter Beobachtung, Selbsterkennt-
nis genommen, zur Selbstdarstellung gebracht durch Aus-
einandersetzung mit einer zweiten Person, einem Gegen-
spieler, dem Zivilisationsliteraten. Der sammelte all die
Eigenschaften in sich, die er in seinem ringenden Künstler-
leben als unfruchtbar und gefahrvoll erkannt hatte: die
wurzellose Hingabe an den Geist und die verantwortungslose
Betätigung dieses Gebietes ohne Rücksicht auf Wirklichkeit,
Staat, Volk, Familie, Sittlichkeit und Kultur. Alles, was
Thomas Mann zu diesem Thema auf der Seele hatte, drängte
nun heraus: nicht in Gestaltung, sondern in Rhetorik, in
hemmungslosem Strome, in steter Auseinandersetzung, stel-
lenweise ohne scharfe Selbstkritik, nur in der Sucht nach
Aussprache, nach innerlicher Erlösung von dem furchtbaren
Drucke, unter dem die Innenwelt infolge der Zustände der
Außenwelt lebte, nur um frei zu werden von all dem das
künstlerische Schaffen hemmenden Denkstoff, nur um zu be-
kennen, um mit dem Bekennen eine Tat für sein Volk
zu tun.

In dieser Tat barg sich das fünfzehnjährige Kämpfen
des Dichters um seine Weltanschauung und um das Gewin-
nen eines festen Standpunktes gegenüber den politischen
und kulturellen Problemen. Klar ergab sich der Umriß der
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hauer, Nietzsche, Wagner, um nur die Nichtklassiker zu nen-
nen, und der Absage eines ehrlich und überzeugt national
empfindenden Menschen gegen den kosmopolitischen Geist
der Demokratie. Er sah die deutsche Welt seit anderthalb
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alte Reich schließlich zerrissen hat: auf der einen Seite die
deutsche Bürgerlichkeit, die gebildete humane, kultivierte
Bürgerlichkeit in ihrem nicht im Patriziersinne konser-
vativen Verhältnis zur Politik, das auf patriarchalischer
Ordnung beruhende Ethos aristokratischer Menschen, und
auf der anderen Seite das in seiner Ausdehnung und Macht
nicht stark genug einzuschätzende Literatentum mit seiner
offenen Neigung zur westeuropäischen Weltauffassung, zur
romanisch bestimmten Kunst, zur demokratischen Staats- und
Lebensordnung und zur sozialistischen Zukunftsentwicklung
im Sinne des Internationalismus. Thomas Mann hatte
erlebt, wie das Literatentum mehr und mehr erreichte, was
es erstrebte: die geistige Welt Deutschlands zu politisieren,
so daß keine reine Welt-, Menschen- und Kunstbetrachtung
mehr möglich war und sein sollte, so daß es gefährlich wurde,
national selbst über den Parteien zu sein, weil darin schon
ein Angriff auf das idealisierte demokratische Prinzip -- ein
Prinzip der Zivilisation und nicht der Kultur, weil allein
des Verstandes -- erblickt wurde. Thomas Mann kämpft
wieder den uralten Kampf der Kultur gegen die Zivilisation!
Einen tragischen Kampf! Warum? Um Deutschland deutsch
zu erhalten! Deutsch sein h[ei]ßt nichts anderes als ein An-
erkenntnis der deutschen Innerlichkeit, der menschlichen
Seele, wie die Demokratie sie nicht kennt. Denn sie will
die Glücksfrage mit der Politik beantworten, sie politisiert
das Ausdrucksgebiet der Innerlichkeit, der Seele, das gei-
stige Leben, die Kunst, die Erziehung, die "Menschenbildung"
ist, das nationale Leben, das erhaben über jedes politische
Interesse sein muß, vollends über jedes parteipolitische

9. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] ſtürmiſcher und vorbehaltloſer in Heinrich Manns faſt
gleichzeitig erſchienener Romandichtung: „Die kleine Stadt“
zum Ausdruck gelangt.“ Errettung bringt ſchließlich nach
dieſem Werk die Einſicht, daß das Ringen um das Werk
die ethiſche Erfüllung des Daſeins bedeutet.

Thomas Mann hatte nun eine Höhe ſeiner inneren Ent-
wicklung erreicht. Mit deren einer Seite, der artiſtiſchen,
rechnete er im folgenden Werke „Der Todin Venedig
nochmals ab. Er ſchrieb ſich in dieſer koſtbaren Novelle
die Qual ſeiner Arbeitsweiſe von der Seele und geriet
darüber in die beklemmende Sterbenserfahrung Venedigs,
ohne Erlöſung zu finden. Aus dem äſthetiſchen Genuß der
Knabenſchönheit erwächſt menſchlichſte Leidenſchaft voll allen
Grauens der ſexuellen Phantaſie und des männlichen Wol-
lens. Nur ein nicht geſuchter Tod befreit von der völligen
Zerſetzung des inneren Seins. Erſchütternd bekennt der
Dichter das ewig Zweideutige, Zweifelhafte, Anrüchige in
der Natur des Künſtlers: alles, was er ſich aufgebaut, um
Schönheit und Sittlichkeit, um Schönheit und Würde ganz
zu vereinen, zu beſitzen, zerfällt.

So findet der Künſtler in Thomas Mann nicht zur Ein-
heit mit dem Menſchen. Während dieſer darauf aus iſt, ſich
eine ſittliche Welt zu erwerben, muß jener ſie immer wieder
aus Erlebnis- und Schönheitsbegier verneinen, ablehnen.
Der ewige Zwieſpalt bleibt. Was Thomas Mann ſubjektiv
in ſich erfuhr und zu Ende dachte, geſtaltete er zu typiſcher
Geltung: das Künſtlertum geht nie einig mit dem Menſchen-
tum. Freilich: der Denker leiſtet hier Thomas Mann ſcharfe
Hilfe: im „Tod in Venedig“ ſteht höchſt Anſchauliches neben
völlig Abſtraktem, die epiſche und eſſayiſtiſche Ausdrucks-
weiſe wechſeln beſtändig; die zu kleine Erkenntnis löſt die
Geſtaltungskraft auf. Der Individualismus wird letzten
Endes zur Sackgaſſe und der Einzelfall Thomas Mann kann
nicht für die Geſamtgattung der Künſtler Gültigkeit haben,
ſondern nur für eine Künſtlerart, für alle die, in denen die
Sehnſucht nach naivem Erleben ebenſo unmittelbar iſt wie
ihr Drang, Schaffender zu ſein. In kleinen Werkſtücken,
die das größere Schaffen begleiteten, wiederholte der Dichter
zur Uebung und Erholung, aus Studiumszwecken und zur
eigenen Klärung die Unterſuchung und Geſtaltung des Pro-
blems: im „Wunderkind“ (1914).

Der Ausbruch des Weltkrieges allein war es nicht, der
den Dichter aus der Sackgaſſe herausführte. Schon im
Roman „Königliche Hoheit“ meldeten ſich erſte Aufblicke in
eine neue Entwicklung bei Betrachtung des Fürſtenproblems
in ethiſch-ſozialer Hinſicht. Ebenſo führer die Studien zu
Friedrich und die große Koalition“ vor das
Jahr 1914 zurück. Der Wille, ſich mit dem ihm perſönlich
tief verbundenen nationalen Problem auseinanderzuſetzen,
wuchs. Thomas Mann ſah den Weg der Gegenwartsentwick-
lung, dumpf ahnend, halb unbewußt und unklar. Seine
konſervative Natur trieb ihn, das Volk zu lieben auf
patriarchaliſcher Grundlage; ſeine individualiſtiſche Kultur
zur Bejahung des Ariſtokratismus, der Perſönlichkeit, der
Bedeutung alles Führertums. In Friedrich dem Großen
wuchs ihm die Geſtalt zu, in der er einen einzelnen ſich
herausheben ſah aus einer Maſſe ihn anfeindender Men-
ſchen und in der er dieſen einzelnen ſiegen ſah. Das gleiche
Prohlem lag vor wie bei ſeinen bisherigen Büchern, nun
aber nicht mehr auf pſychologiſch-künſtleriſchem, ſondern
auf politiſch-nationalem Gebiete. Der Kriegsausbruch ließ
den großen Abſchluß der Studien und ihr volles Ausreifen
zum Kunſtwerk nicht zu: vorzeitig wurde der „Abriß für
den Tag und die Stunde“ fertiggeſtellt. Voll ſymboliſcher
Kraft: die Geſtalt des Königs wurde zu Deutſchland —
Deutſchland wurde Friedrich der Große. In einer Figur, in
deren Formung Thomas Manns Wiſſen um den Menſchen
Blutwärme erzeugte, ſammelte ſich wie in einer Linſe ſeine
Liebe zu allem, was deutſch iſt. Er ſuchte hinter das Weſen
der Politik zu ſchauen, auch hier das Menſchliche als das
Fruchttreibende erkennend. Er ſah Friedrich den Großen
als Problem nach Rouſſeauſchem Ausſpruch: „il pense en
philosophe et se conduit en roi
“. Er ſah auch dieſen
König ausgeliefert dem Widerſtreit eines Dualismus, der
natürliches Genie und Lebensaufgabe kontraſtierte und den
[Spaltenumbruch] Menſchen zum Opfer machte, Leidenſchaft unter preußiſche
Diſziplin und ſtrengſtes Zweckbewußtſein zwang und dadurch
ein haßerzeugendes Mißtrauen gegen das eigene Handeln
aus nie erſchlaffender Vitalität erzeugte. Auch über dieſen
König herrſchte ein Unglück gebärender innerer Konflikt
zwiſchen dem angeborenen Geiſt und der ererbten Verpflich-
tung, ein Konflikt, der durch ſeine Folgen die Verleumdung
der Welt auslöſte, wie er für ſeinen Träger den Haß des
Desilluſionierten gegen die Frauen mit ſich brachte: dieſen
Haß, dieſe Verleumdung trug er aber, „damit eines großen
Volkes Erdenſendung ſich erfülle“. Reinſte Männlichkeit
enthüllte ſich in dieſem Spiel der Kräfte. Das Problem des
Ichs war überwunden, Thomas Mann ging über ſich hinaus
zum Problem des Deutſchtums überhaupt.

Wie er damit rang, enthüllte er in Tagebuchform in den
Betrachtungen eines Unpolitiſchen“ (1918).
Eine zweite Seite ſeines Weſens, ſein denkendes Erleben
als Zeitgenoſſe, ward hier unter Beobachtung, Selbſterkennt-
nis genommen, zur Selbſtdarſtellung gebracht durch Aus-
einanderſetzung mit einer zweiten Perſon, einem Gegen-
ſpieler, dem Ziviliſationsliteraten. Der ſammelte all die
Eigenſchaften in ſich, die er in ſeinem ringenden Künſtler-
leben als unfruchtbar und gefahrvoll erkannt hatte: die
wurzelloſe Hingabe an den Geiſt und die verantwortungsloſe
Betätigung dieſes Gebietes ohne Rückſicht auf Wirklichkeit,
Staat, Volk, Familie, Sittlichkeit und Kultur. Alles, was
Thomas Mann zu dieſem Thema auf der Seele hatte, drängte
nun heraus: nicht in Geſtaltung, ſondern in Rhetorik, in
hemmungsloſem Strome, in ſteter Auseinanderſetzung, ſtel-
lenweiſe ohne ſcharfe Selbſtkritik, nur in der Sucht nach
Ausſprache, nach innerlicher Erlöſung von dem furchtbaren
Drucke, unter dem die Innenwelt infolge der Zuſtände der
Außenwelt lebte, nur um frei zu werden von all dem das
künſtleriſche Schaffen hemmenden Denkſtoff, nur um zu be-
kennen, um mit dem Bekennen eine Tat für ſein Volk
zu tun.

In dieſer Tat barg ſich das fünfzehnjährige Kämpfen
des Dichters um ſeine Weltanſchauung und um das Gewin-
nen eines feſten Standpunktes gegenüber den politiſchen
und kulturellen Problemen. Klar ergab ſich der Umriß der
Perſönlichkeit, ihres Bildungsuntergrundes auf Schopen-
hauer, Nietzſche, Wagner, um nur die Nichtklaſſiker zu nen-
nen, und der Abſage eines ehrlich und überzeugt national
empfindenden Menſchen gegen den kosmopolitiſchen Geiſt
der Demokratie. Er ſah die deutſche Welt ſeit anderthalb
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alte Reich ſchließlich zerriſſen hat: auf der einen Seite die
deutſche Bürgerlichkeit, die gebildete humane, kultivierte
Bürgerlichkeit in ihrem nicht im Patrizierſinne konſer-
vativen Verhältnis zur Politik, das auf patriarchaliſcher
Ordnung beruhende Ethos ariſtokratiſcher Menſchen, und
auf der anderen Seite das in ſeiner Ausdehnung und Macht
nicht ſtark genug einzuſchätzende Literatentum mit ſeiner
offenen Neigung zur weſteuropäiſchen Weltauffaſſung, zur
romaniſch beſtimmten Kunſt, zur demokratiſchen Staats- und
Lebensordnung und zur ſozialiſtiſchen Zukunftsentwicklung
im Sinne des Internationalismus. Thomas Mann hatte
erlebt, wie das Literatentum mehr und mehr erreichte, was
es erſtrebte: die geiſtige Welt Deutſchlands zu politiſieren,
ſo daß keine reine Welt-, Menſchen- und Kunſtbetrachtung
mehr möglich war und ſein ſollte, ſo daß es gefährlich wurde,
national ſelbſt über den Parteien zu ſein, weil darin ſchon
ein Angriff auf das idealiſierte demokratiſche Prinzip — ein
Prinzip der Ziviliſation und nicht der Kultur, weil allein
des Verſtandes — erblickt wurde. Thomas Mann kämpft
wieder den uralten Kampf der Kultur gegen die Ziviliſation!
Einen tragiſchen Kampf! Warum? Um Deutſchland deutſch
zu erhalten! Deutſch ſein h[ei]ßt nichts anderes als ein An-
erkenntnis der deutſchen Innerlichkeit, der menſchlichen
Seele, wie die Demokratie ſie nicht kennt. Denn ſie will
die Glücksfrage mit der Politik beantworten, ſie politiſiert
das Ausdrucksgebiet der Innerlichkeit, der Seele, das gei-
ſtige Leben, die Kunſt, die Erziehung, die „Menſchenbildung“
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[175/0005] 9. Mai 1920 Allgemeine Zeitung ſtürmiſcher und vorbehaltloſer in Heinrich Manns faſt gleichzeitig erſchienener Romandichtung: „Die kleine Stadt“ zum Ausdruck gelangt.“ Errettung bringt ſchließlich nach dieſem Werk die Einſicht, daß das Ringen um das Werk die ethiſche Erfüllung des Daſeins bedeutet. Thomas Mann hatte nun eine Höhe ſeiner inneren Ent- wicklung erreicht. Mit deren einer Seite, der artiſtiſchen, rechnete er im folgenden Werke „Der Todin Venedig“ nochmals ab. Er ſchrieb ſich in dieſer koſtbaren Novelle die Qual ſeiner Arbeitsweiſe von der Seele und geriet darüber in die beklemmende Sterbenserfahrung Venedigs, ohne Erlöſung zu finden. Aus dem äſthetiſchen Genuß der Knabenſchönheit erwächſt menſchlichſte Leidenſchaft voll allen Grauens der ſexuellen Phantaſie und des männlichen Wol- lens. Nur ein nicht geſuchter Tod befreit von der völligen Zerſetzung des inneren Seins. Erſchütternd bekennt der Dichter das ewig Zweideutige, Zweifelhafte, Anrüchige in der Natur des Künſtlers: alles, was er ſich aufgebaut, um Schönheit und Sittlichkeit, um Schönheit und Würde ganz zu vereinen, zu beſitzen, zerfällt. So findet der Künſtler in Thomas Mann nicht zur Ein- heit mit dem Menſchen. Während dieſer darauf aus iſt, ſich eine ſittliche Welt zu erwerben, muß jener ſie immer wieder aus Erlebnis- und Schönheitsbegier verneinen, ablehnen. Der ewige Zwieſpalt bleibt. Was Thomas Mann ſubjektiv in ſich erfuhr und zu Ende dachte, geſtaltete er zu typiſcher Geltung: das Künſtlertum geht nie einig mit dem Menſchen- tum. Freilich: der Denker leiſtet hier Thomas Mann ſcharfe Hilfe: im „Tod in Venedig“ ſteht höchſt Anſchauliches neben völlig Abſtraktem, die epiſche und eſſayiſtiſche Ausdrucks- weiſe wechſeln beſtändig; die zu kleine Erkenntnis löſt die Geſtaltungskraft auf. Der Individualismus wird letzten Endes zur Sackgaſſe und der Einzelfall Thomas Mann kann nicht für die Geſamtgattung der Künſtler Gültigkeit haben, ſondern nur für eine Künſtlerart, für alle die, in denen die Sehnſucht nach naivem Erleben ebenſo unmittelbar iſt wie ihr Drang, Schaffender zu ſein. In kleinen Werkſtücken, die das größere Schaffen begleiteten, wiederholte der Dichter zur Uebung und Erholung, aus Studiumszwecken und zur eigenen Klärung die Unterſuchung und Geſtaltung des Pro- blems: im „Wunderkind“ (1914). Der Ausbruch des Weltkrieges allein war es nicht, der den Dichter aus der Sackgaſſe herausführte. Schon im Roman „Königliche Hoheit“ meldeten ſich erſte Aufblicke in eine neue Entwicklung bei Betrachtung des Fürſtenproblems in ethiſch-ſozialer Hinſicht. Ebenſo führer die Studien zu „Friedrich und die große Koalition“ vor das Jahr 1914 zurück. Der Wille, ſich mit dem ihm perſönlich tief verbundenen nationalen Problem auseinanderzuſetzen, wuchs. Thomas Mann ſah den Weg der Gegenwartsentwick- lung, dumpf ahnend, halb unbewußt und unklar. Seine konſervative Natur trieb ihn, das Volk zu lieben auf patriarchaliſcher Grundlage; ſeine individualiſtiſche Kultur zur Bejahung des Ariſtokratismus, der Perſönlichkeit, der Bedeutung alles Führertums. In Friedrich dem Großen wuchs ihm die Geſtalt zu, in der er einen einzelnen ſich herausheben ſah aus einer Maſſe ihn anfeindender Men- ſchen und in der er dieſen einzelnen ſiegen ſah. Das gleiche Prohlem lag vor wie bei ſeinen bisherigen Büchern, nun aber nicht mehr auf pſychologiſch-künſtleriſchem, ſondern auf politiſch-nationalem Gebiete. Der Kriegsausbruch ließ den großen Abſchluß der Studien und ihr volles Ausreifen zum Kunſtwerk nicht zu: vorzeitig wurde der „Abriß für den Tag und die Stunde“ fertiggeſtellt. Voll ſymboliſcher Kraft: die Geſtalt des Königs wurde zu Deutſchland — Deutſchland wurde Friedrich der Große. In einer Figur, in deren Formung Thomas Manns Wiſſen um den Menſchen Blutwärme erzeugte, ſammelte ſich wie in einer Linſe ſeine Liebe zu allem, was deutſch iſt. Er ſuchte hinter das Weſen der Politik zu ſchauen, auch hier das Menſchliche als das Fruchttreibende erkennend. Er ſah Friedrich den Großen als Problem nach Rouſſeauſchem Ausſpruch: „il pense en philosophe et se conduit en roi“. Er ſah auch dieſen König ausgeliefert dem Widerſtreit eines Dualismus, der natürliches Genie und Lebensaufgabe kontraſtierte und den Menſchen zum Opfer machte, Leidenſchaft unter preußiſche Diſziplin und ſtrengſtes Zweckbewußtſein zwang und dadurch ein haßerzeugendes Mißtrauen gegen das eigene Handeln aus nie erſchlaffender Vitalität erzeugte. Auch über dieſen König herrſchte ein Unglück gebärender innerer Konflikt zwiſchen dem angeborenen Geiſt und der ererbten Verpflich- tung, ein Konflikt, der durch ſeine Folgen die Verleumdung der Welt auslöſte, wie er für ſeinen Träger den Haß des Desilluſionierten gegen die Frauen mit ſich brachte: dieſen Haß, dieſe Verleumdung trug er aber, „damit eines großen Volkes Erdenſendung ſich erfülle“. Reinſte Männlichkeit enthüllte ſich in dieſem Spiel der Kräfte. Das Problem des Ichs war überwunden, Thomas Mann ging über ſich hinaus zum Problem des Deutſchtums überhaupt. Wie er damit rang, enthüllte er in Tagebuchform in den „Betrachtungen eines Unpolitiſchen“ (1918). Eine zweite Seite ſeines Weſens, ſein denkendes Erleben als Zeitgenoſſe, ward hier unter Beobachtung, Selbſterkennt- nis genommen, zur Selbſtdarſtellung gebracht durch Aus- einanderſetzung mit einer zweiten Perſon, einem Gegen- ſpieler, dem Ziviliſationsliteraten. Der ſammelte all die Eigenſchaften in ſich, die er in ſeinem ringenden Künſtler- leben als unfruchtbar und gefahrvoll erkannt hatte: die wurzelloſe Hingabe an den Geiſt und die verantwortungsloſe Betätigung dieſes Gebietes ohne Rückſicht auf Wirklichkeit, Staat, Volk, Familie, Sittlichkeit und Kultur. Alles, was Thomas Mann zu dieſem Thema auf der Seele hatte, drängte nun heraus: nicht in Geſtaltung, ſondern in Rhetorik, in hemmungsloſem Strome, in ſteter Auseinanderſetzung, ſtel- lenweiſe ohne ſcharfe Selbſtkritik, nur in der Sucht nach Ausſprache, nach innerlicher Erlöſung von dem furchtbaren Drucke, unter dem die Innenwelt infolge der Zuſtände der Außenwelt lebte, nur um frei zu werden von all dem das künſtleriſche Schaffen hemmenden Denkſtoff, nur um zu be- kennen, um mit dem Bekennen eine Tat für ſein Volk zu tun. In dieſer Tat barg ſich das fünfzehnjährige Kämpfen des Dichters um ſeine Weltanſchauung und um das Gewin- nen eines feſten Standpunktes gegenüber den politiſchen und kulturellen Problemen. Klar ergab ſich der Umriß der Perſönlichkeit, ihres Bildungsuntergrundes auf Schopen- hauer, Nietzſche, Wagner, um nur die Nichtklaſſiker zu nen- nen, und der Abſage eines ehrlich und überzeugt national empfindenden Menſchen gegen den kosmopolitiſchen Geiſt der Demokratie. Er ſah die deutſche Welt ſeit anderthalb Jahrzehnten geſpalten in eine Gegenſätzlichkeit, die das alte Reich ſchließlich zerriſſen hat: auf der einen Seite die deutſche Bürgerlichkeit, die gebildete humane, kultivierte Bürgerlichkeit in ihrem nicht im Patrizierſinne konſer- vativen Verhältnis zur Politik, das auf patriarchaliſcher Ordnung beruhende Ethos ariſtokratiſcher Menſchen, und auf der anderen Seite das in ſeiner Ausdehnung und Macht nicht ſtark genug einzuſchätzende Literatentum mit ſeiner offenen Neigung zur weſteuropäiſchen Weltauffaſſung, zur romaniſch beſtimmten Kunſt, zur demokratiſchen Staats- und Lebensordnung und zur ſozialiſtiſchen Zukunftsentwicklung im Sinne des Internationalismus. Thomas Mann hatte erlebt, wie das Literatentum mehr und mehr erreichte, was es erſtrebte: die geiſtige Welt Deutſchlands zu politiſieren, ſo daß keine reine Welt-, Menſchen- und Kunſtbetrachtung mehr möglich war und ſein ſollte, ſo daß es gefährlich wurde, national ſelbſt über den Parteien zu ſein, weil darin ſchon ein Angriff auf das idealiſierte demokratiſche Prinzip — ein Prinzip der Ziviliſation und nicht der Kultur, weil allein des Verſtandes — erblickt wurde. Thomas Mann kämpft wieder den uralten Kampf der Kultur gegen die Ziviliſation! Einen tragiſchen Kampf! Warum? Um Deutſchland deutſch zu erhalten! Deutſch ſein heißt nichts anderes als ein An- erkenntnis der deutſchen Innerlichkeit, der menſchlichen Seele, wie die Demokratie ſie nicht kennt. Denn ſie will die Glücksfrage mit der Politik beantworten, ſie politiſiert das Ausdrucksgebiet der Innerlichkeit, der Seele, das gei- ſtige Leben, die Kunſt, die Erziehung, die „Menſchenbildung“ iſt, das nationale Leben, das erhaben über jedes politiſche Intereſſe ſein muß, vollends über jedes parteipolitiſche

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1920/5>, abgerufen am 21.11.2024.