Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.

Bild:
<< vorherige Seite

2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Shakespeare, liegt auch über Wolframs persönliche Schick-
sale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigste literarische
Forschung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über sein
Leben wissen, ist die Dürftigkeit selber.

Um 1170 herum mochte er geboren sein zu Eschenbach
(bei Ansbach) und dortselbst oder im nahen Weiler Wilden-
berg hat er wohl den größten Teil seines Lebens verbracht
als armer ritterlicher Lehensmann eines Grafen Wertheim.
Indessen lebte er eine Zeitlang als Gast des literaturkun-
digen Thüringer Landgrafen Hermann zu Eisenach und dort
-- wahrscheinlich zwischen 1205 und 1215 -- schrieb er sein
Lebenswerk, oder vielmehr er diktierte es einem Schreiber,
denn er selbst konnte weder lesen noch schreiben. Bald nach
Vollendung des Parzifal -- wie man annimmt ums Jahr
1220 -- starb er, ehe er noch seine beiden andern großen
Werke Willehalm und Titurel vollenden konnte.

Französisch waren die Quellen, aus denen Wolfram
schöpfte. Mag somit auch der Stoff des Parzifal -- wie
der der meisten andern mittelhochdeutschen Kunstepen --
weniger dem nationalen Sonderleben als dem internatio-
nalen Kreise des christlichen Rittertums angehören, so ist
diese Dichtung doch so tief durchtränkt von deutschem Ge-
müt und Gedankenadel, so neugestaltet aus genialem Geist,
daß sie als echtes Werk unserer Literatur gelten darf. Was
Wolfram in dem Artusroman vorfand, war (nach Wacker-
nagels Wort) ein "planloses Gewirr von Namen und Aben-
teuern". Es fehlte noch die religiöse Tiefe, es fehlte die
verbindende höhere Idee, es fehlte vor allem jener Zug des
allgemein Menschlichen, der das Lokale und Individuelle
zum Typischen, das Zufällige zum Notwendigen erhebt, es
fehlte mit einem Wort all das, was wir heute noch nach
siebenhundert Jahren an Parzifal bewundern, als sein
Eigentümlichstes und Höchstes. Nur das Genie kann derart
den rohen Stoff adeln und ihm unvergängliches Leben ein-
hauchen. So verlieh erst ein Goethe der alten Faustsage
den ewigen Gehalt und die klassische Form, so ein Syake-
speare dem Sammelsurium kümmerlicher Hof- und Liebes-
historien den tief menschlichen Zug, ohne den sie längst ver-
schollen wären.

Den unübersehbar handlungsreichen Inhalt des Par-
zifal in wenigen Zeilen zu erzählen ist nicht möglich und
würde auch keineswegs dem, der sie noch nicht kennt, einen
Begriff von der sprachgewaltigen, tiefsinnigen, von der Idee
der seelischen Läuterung dunkel durchglühten Dichtung
geben. Aus tumpheit durch Zwifel zur saelde geht der Weg
Parzifals. Aus kindlicher Einfalt und jungendlicher Unbe-
sonnenheit durch wilden Zwiespalt mit Gott, mit der Welt,
mit sich selbst zum großen Ziel der Seligkeit, des wahren
Glückes, das in der Lauterkeit und Reinheit des sich selbst
treu bleibenden Herzens besteht. Das ist die innere Ent-
wicklung des Helden, dem Wolfram, wie jeder echte Dichter
seinem Geschöpfe, Züge seines eigenen Wesens und Wan-
delns verliehen. Wolframs sittliches Ideal ist die Treue,
dieses alte Kleinod des unverdorbenen Deutschtums. Sie ist
ihm der Inbegriff aller edleren Regungen der Seele, der
Schutzschild gegen alle Gefahren der Welt und Verlockungen
der Sünde. Dieser Zug macht Wolframs Dichtung so weihe-
voll, macht sie zum erquickenden Borne, aus dem wir in
Zeiten der Not, innerer wie äußerer, Mut und Zuversicht
schöpfen können.*) Während sein großer Antipode Gott-
fried von Straßburg, ganz von weltlichem Sinne beherrscht
erscheint und das Recht der schönen Sinnlichkeit predigte,
sehen wir Wolfram von tiefstem Ethos erfüllt, das die auf-
richtige Einkehr des denkenden Menschen in das eigene
Innere unweigerlich fordert. (Wir sehen im 18. Jahrhun-
dert in Wieland und Klopstock einen schwachen Abglanz die-
ses Verhältnisses zweier Zeitgenossen aufleuchten.)

Aber es ist bezeichnend: der religiöse Sinn führte den
Dichter (wie besonders der Willehalm zeigt) nicht zu un-
christlichem Fanatismus, der die Vernichtung des Heiden
[Spaltenumbruch] z. B. für ein gottgefälliges Werk ansah: Wie sehr er auch
von der Wahrheit seines Glaubens durchdrungen war, er
fordert verstehende Duldung der Andersgläubigen und An-
erkennung der Menschenrechte. Diese edle Weltanschauung
schon so tief im Mittelalter verkündet zu finden, möchte
überraschen, wenn anders uns am wahren Genius etwas
überraschen dürfte. Jedenfalls ist gerade hier für uns
Moderne auf immer die Brücke geschlagen zu diesem gott-
begnadeten Dichter. Mit mehr als einem Gedanken berührt
sich übrigens Wolfram mit keinem Geringeren als Goethe.
Doch hier im einzelnen darauf einzugehen ist nicht der Ort.

Genug, wir hier im deutschen Süden dürfen stolz sein
auf unsern Wolfram; es ist ja nicht der einzige Bayer aus
jener Blütezeit der deutschen Dichtung, dessen Ruhm weit
über die Grenzen seines Stammlandes drang: der Dichter
der Nibelungen, des Kudrunliedes und vor allem der größte
vorgoethesche Lyriker, Walther von der Vogelweide, sie alle
-- ob ihre Wiege im Altmühltale stand oder am Brenner,
am Donaustrom oder im Tal der Etsch --, sie gehören zu
unserm Stamm, ohne den nicht nur die deutsche Geschichte,
ohne den auch das deutsche Schrifttum gar nicht denkbar ist!
Dort auf der Wartburg, wo er sein Meisterwerk schuf, im
Herzen Thüringens, schrieb der fränkische Wolfram stolz
seine Worte "wir Beier" (Parzifal Vers 3594).

Hugo von Trinebergs schönes Wort über den unver-
gleichlichen Walther, wir wollen es auch von Wolfram,
seinem ebenbürtigen Zeitgenossen sagen:

"swer des vergaeze, der taet mir leide."



Thomas Mann.

In Thomas Manns Adern eint sich feste norddeutsche
Kultur und lockere, lose kreolische Leidenschaft. Aus bür-
gerlichem Hause entstammend, ward er dem Künstlertum
anheimgegeben, ohne freilich diesem ausschließlich angehören
zu können, sondern mit stets lebendigem Heimweh nach
dem verlorenen einfachen, tatsächlichen Sein. Der Zwie-
spalt seines Daseins blieb: die Sehnsucht nach bürgerlicher
Menschlichkeit, dem Erbe seiner Väter, aus der Problematik
alles Künstlertums heraus.

Von der ersten Zeile an wurde sein Schaffen die Stimme
dieser Sehnsucht. Sie vertiefte sich immer bedeutender. Sie
wich aber nie aus dem Melodienkreise ihrer Schwermut,
die sich um so lastender auf ihn niedersenkte, als das
Künstlertum nicht den Sinn des Lebens offenbarte, als
der Glaube an das Künstlertum nicht fest werden wollte,
woran die bürgerliche Menschlichkeit in seinem Innern
hinderte. Das Ringen um Weltklarheit und -anschauung
klammerte sich, der skeptischen Veranlagung gemäß, an
Schopenhauer. Das Urleid des Daseins ward von der sen-
siblen Genialität des Jünglings im Kampf mit den bürger-
lichen Mächten der Heimat als Lebensgesetz erlebt, nicht
nur erkannt, und damit Unterströmung seiner Werke, bis
in die Auffassung vom Tode als dem Erlöser von der Qual
dieses Daseins, bis in die Stellung zur Musik hinein, die
sich in so zahlreichen musikalischen Szenen der Werke kund-
gibt. Letzte Rettung vor der Gefahr, durch den Pessimismus
erdrückt zu werden, brachte einzig der schaffende Instinkt,
das Künstlertum. Es ward nicht im romantischen Lichte
gesehen, sondern in der Beleuchtung des Psychologen, des
Intellekts. Die Künstler sind für Mann Menschen, die
den Trug des Lebens durchschauen und nicht mehr
den blinden Geboten des Willens zum Leben unter-
worfen sind. Sie sind Einsame unter den Mitmenschen,
mit dem Fluch und dem Leid des "Andersseins" als die
Alltagsmenschen belastet, und gelangen deshalb nie zum
Glücksgefühl im Lebenszustand. Wohl gibt es eine Glücks-
möglichkeit, aber nach Manns Anschauung nur unter denen,
die "möglichst wenig von der Erkenntnis berührt, von des
Gedankens Blässe angekränkelt sind, die das Leben stark,
kräftig, mit naiver, ursprünglicher Sicherheit und Unbe-
fangenheit führen". Nietzsche pries diese unbefangenen, un-

*) In der Ursprache ist gerade Wolfram nur dem guten
Kenner des Mittelhochdeutschen verständlich, doch haben wir seit
mehr als zwanzig Jahren die meisterhafte Uebersetzung des
Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber-
tragung des Originales würdig zu nennen ist.

2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Shakeſpeare, liegt auch über Wolframs perſönliche Schick-
ſale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigſte literariſche
Forſchung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über ſein
Leben wiſſen, iſt die Dürftigkeit ſelber.

Um 1170 herum mochte er geboren ſein zu Eſchenbach
(bei Ansbach) und dortſelbſt oder im nahen Weiler Wilden-
berg hat er wohl den größten Teil ſeines Lebens verbracht
als armer ritterlicher Lehensmann eines Grafen Wertheim.
Indeſſen lebte er eine Zeitlang als Gaſt des literaturkun-
digen Thüringer Landgrafen Hermann zu Eiſenach und dort
— wahrſcheinlich zwiſchen 1205 und 1215 — ſchrieb er ſein
Lebenswerk, oder vielmehr er diktierte es einem Schreiber,
denn er ſelbſt konnte weder leſen noch ſchreiben. Bald nach
Vollendung des Parzifal — wie man annimmt ums Jahr
1220 — ſtarb er, ehe er noch ſeine beiden andern großen
Werke Willehalm und Titurel vollenden konnte.

Franzöſiſch waren die Quellen, aus denen Wolfram
ſchöpfte. Mag ſomit auch der Stoff des Parzifal — wie
der der meiſten andern mittelhochdeutſchen Kunſtepen —
weniger dem nationalen Sonderleben als dem internatio-
nalen Kreiſe des chriſtlichen Rittertums angehören, ſo iſt
dieſe Dichtung doch ſo tief durchtränkt von deutſchem Ge-
müt und Gedankenadel, ſo neugeſtaltet aus genialem Geiſt,
daß ſie als echtes Werk unſerer Literatur gelten darf. Was
Wolfram in dem Artusroman vorfand, war (nach Wacker-
nagels Wort) ein „planloſes Gewirr von Namen und Aben-
teuern“. Es fehlte noch die religiöſe Tiefe, es fehlte die
verbindende höhere Idee, es fehlte vor allem jener Zug des
allgemein Menſchlichen, der das Lokale und Individuelle
zum Typiſchen, das Zufällige zum Notwendigen erhebt, es
fehlte mit einem Wort all das, was wir heute noch nach
ſiebenhundert Jahren an Parzifal bewundern, als ſein
Eigentümlichſtes und Höchſtes. Nur das Genie kann derart
den rohen Stoff adeln und ihm unvergängliches Leben ein-
hauchen. So verlieh erſt ein Goethe der alten Fauſtſage
den ewigen Gehalt und die klaſſiſche Form, ſo ein Syake-
ſpeare dem Sammelſurium kümmerlicher Hof- und Liebes-
hiſtorien den tief menſchlichen Zug, ohne den ſie längſt ver-
ſchollen wären.

Den unüberſehbar handlungsreichen Inhalt des Par-
zifal in wenigen Zeilen zu erzählen iſt nicht möglich und
würde auch keineswegs dem, der ſie noch nicht kennt, einen
Begriff von der ſprachgewaltigen, tiefſinnigen, von der Idee
der ſeeliſchen Läuterung dunkel durchglühten Dichtung
geben. Aus tumpheit durch Zwifel zur ſaelde geht der Weg
Parzifals. Aus kindlicher Einfalt und jungendlicher Unbe-
ſonnenheit durch wilden Zwieſpalt mit Gott, mit der Welt,
mit ſich ſelbſt zum großen Ziel der Seligkeit, des wahren
Glückes, das in der Lauterkeit und Reinheit des ſich ſelbſt
treu bleibenden Herzens beſteht. Das iſt die innere Ent-
wicklung des Helden, dem Wolfram, wie jeder echte Dichter
ſeinem Geſchöpfe, Züge ſeines eigenen Weſens und Wan-
delns verliehen. Wolframs ſittliches Ideal iſt die Treue,
dieſes alte Kleinod des unverdorbenen Deutſchtums. Sie iſt
ihm der Inbegriff aller edleren Regungen der Seele, der
Schutzſchild gegen alle Gefahren der Welt und Verlockungen
der Sünde. Dieſer Zug macht Wolframs Dichtung ſo weihe-
voll, macht ſie zum erquickenden Borne, aus dem wir in
Zeiten der Not, innerer wie äußerer, Mut und Zuverſicht
ſchöpfen können.*) Während ſein großer Antipode Gott-
fried von Straßburg, ganz von weltlichem Sinne beherrſcht
erſcheint und das Recht der ſchönen Sinnlichkeit predigte,
ſehen wir Wolfram von tiefſtem Ethos erfüllt, das die auf-
richtige Einkehr des denkenden Menſchen in das eigene
Innere unweigerlich fordert. (Wir ſehen im 18. Jahrhun-
dert in Wieland und Klopſtock einen ſchwachen Abglanz die-
ſes Verhältniſſes zweier Zeitgenoſſen aufleuchten.)

Aber es iſt bezeichnend: der religiöſe Sinn führte den
Dichter (wie beſonders der Willehalm zeigt) nicht zu un-
chriſtlichem Fanatismus, der die Vernichtung des Heiden
[Spaltenumbruch] z. B. für ein gottgefälliges Werk anſah: Wie ſehr er auch
von der Wahrheit ſeines Glaubens durchdrungen war, er
fordert verſtehende Duldung der Andersgläubigen und An-
erkennung der Menſchenrechte. Dieſe edle Weltanſchauung
ſchon ſo tief im Mittelalter verkündet zu finden, möchte
überraſchen, wenn anders uns am wahren Genius etwas
überraſchen dürfte. Jedenfalls iſt gerade hier für uns
Moderne auf immer die Brücke geſchlagen zu dieſem gott-
begnadeten Dichter. Mit mehr als einem Gedanken berührt
ſich übrigens Wolfram mit keinem Geringeren als Goethe.
Doch hier im einzelnen darauf einzugehen iſt nicht der Ort.

Genug, wir hier im deutſchen Süden dürfen ſtolz ſein
auf unſern Wolfram; es iſt ja nicht der einzige Bayer aus
jener Blütezeit der deutſchen Dichtung, deſſen Ruhm weit
über die Grenzen ſeines Stammlandes drang: der Dichter
der Nibelungen, des Kudrunliedes und vor allem der größte
vorgoetheſche Lyriker, Walther von der Vogelweide, ſie alle
— ob ihre Wiege im Altmühltale ſtand oder am Brenner,
am Donauſtrom oder im Tal der Etſch —, ſie gehören zu
unſerm Stamm, ohne den nicht nur die deutſche Geſchichte,
ohne den auch das deutſche Schrifttum gar nicht denkbar iſt!
Dort auf der Wartburg, wo er ſein Meiſterwerk ſchuf, im
Herzen Thüringens, ſchrieb der fränkiſche Wolfram ſtolz
ſeine Worte „wir Beier“ (Parzifal Vers 3594).

Hugo von Trinebergs ſchönes Wort über den unver-
gleichlichen Walther, wir wollen es auch von Wolfram,
ſeinem ebenbürtigen Zeitgenoſſen ſagen:

„ſwer des vergaeze, der taet mir leide.“



Thomas Mann.

In Thomas Manns Adern eint ſich feſte norddeutſche
Kultur und lockere, loſe kreoliſche Leidenſchaft. Aus bür-
gerlichem Hauſe entſtammend, ward er dem Künſtlertum
anheimgegeben, ohne freilich dieſem ausſchließlich angehören
zu können, ſondern mit ſtets lebendigem Heimweh nach
dem verlorenen einfachen, tatſächlichen Sein. Der Zwie-
ſpalt ſeines Daſeins blieb: die Sehnſucht nach bürgerlicher
Menſchlichkeit, dem Erbe ſeiner Väter, aus der Problematik
alles Künſtlertums heraus.

Von der erſten Zeile an wurde ſein Schaffen die Stimme
dieſer Sehnſucht. Sie vertiefte ſich immer bedeutender. Sie
wich aber nie aus dem Melodienkreiſe ihrer Schwermut,
die ſich um ſo laſtender auf ihn niederſenkte, als das
Künſtlertum nicht den Sinn des Lebens offenbarte, als
der Glaube an das Künſtlertum nicht feſt werden wollte,
woran die bürgerliche Menſchlichkeit in ſeinem Innern
hinderte. Das Ringen um Weltklarheit und -anſchauung
klammerte ſich, der ſkeptiſchen Veranlagung gemäß, an
Schopenhauer. Das Urleid des Daſeins ward von der ſen-
ſiblen Genialität des Jünglings im Kampf mit den bürger-
lichen Mächten der Heimat als Lebensgeſetz erlebt, nicht
nur erkannt, und damit Unterſtrömung ſeiner Werke, bis
in die Auffaſſung vom Tode als dem Erlöſer von der Qual
dieſes Daſeins, bis in die Stellung zur Muſik hinein, die
ſich in ſo zahlreichen muſikaliſchen Szenen der Werke kund-
gibt. Letzte Rettung vor der Gefahr, durch den Peſſimismus
erdrückt zu werden, brachte einzig der ſchaffende Inſtinkt,
das Künſtlertum. Es ward nicht im romantiſchen Lichte
geſehen, ſondern in der Beleuchtung des Pſychologen, des
Intellekts. Die Künſtler ſind für Mann Menſchen, die
den Trug des Lebens durchſchauen und nicht mehr
den blinden Geboten des Willens zum Leben unter-
worfen ſind. Sie ſind Einſame unter den Mitmenſchen,
mit dem Fluch und dem Leid des „Andersſeins“ als die
Alltagsmenſchen belaſtet, und gelangen deshalb nie zum
Glücksgefühl im Lebenszuſtand. Wohl gibt es eine Glücks-
möglichkeit, aber nach Manns Anſchauung nur unter denen,
die „möglichſt wenig von der Erkenntnis berührt, von des
Gedankens Bläſſe angekränkelt ſind, die das Leben ſtark,
kräftig, mit naiver, urſprünglicher Sicherheit und Unbe-
fangenheit führen“. Nietzſche pries dieſe unbefangenen, un-

*) In der Urſprache iſt gerade Wolfram nur dem guten
Kenner des Mittelhochdeutſchen verſtändlich, doch haben wir ſeit
mehr als zwanzig Jahren die meiſterhafte Ueberſetzung des
Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber-
tragung des Originales würdig zu nennen iſt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jVarious" n="1">
        <div type="jArticle" n="2">
          <p><pb facs="#f0009" n="Seite 167[167]"/><fw place="top" type="header">2. Mai 1920 <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/><cb/>
Shake&#x017F;peare, liegt auch über Wolframs per&#x017F;önliche Schick-<lb/>
&#x017F;ale ein Schleier gebreitet, den auch eifrig&#x017F;te literari&#x017F;che<lb/>
For&#x017F;chung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über &#x017F;ein<lb/>
Leben wi&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t die Dürftigkeit &#x017F;elber.</p><lb/>
          <p>Um 1170 herum mochte er geboren &#x017F;ein zu E&#x017F;chenbach<lb/>
(bei Ansbach) und dort&#x017F;elb&#x017F;t oder im nahen Weiler Wilden-<lb/>
berg hat er wohl den größten Teil &#x017F;eines Lebens verbracht<lb/>
als armer ritterlicher Lehensmann eines Grafen Wertheim.<lb/>
Inde&#x017F;&#x017F;en lebte er eine Zeitlang als Ga&#x017F;t des literaturkun-<lb/>
digen Thüringer Landgrafen Hermann zu Ei&#x017F;enach und dort<lb/>
&#x2014; wahr&#x017F;cheinlich zwi&#x017F;chen 1205 und 1215 &#x2014; &#x017F;chrieb er &#x017F;ein<lb/>
Lebenswerk, oder vielmehr er diktierte es einem Schreiber,<lb/>
denn er &#x017F;elb&#x017F;t konnte weder le&#x017F;en noch &#x017F;chreiben. Bald nach<lb/>
Vollendung des Parzifal &#x2014; wie man annimmt ums Jahr<lb/>
1220 &#x2014; &#x017F;tarb er, ehe er noch &#x017F;eine beiden andern großen<lb/>
Werke Willehalm und Titurel vollenden konnte.</p><lb/>
          <p>Franzö&#x017F;i&#x017F;ch waren die Quellen, aus denen Wolfram<lb/>
&#x017F;chöpfte. Mag &#x017F;omit auch der Stoff des Parzifal &#x2014; wie<lb/>
der der mei&#x017F;ten andern mittelhochdeut&#x017F;chen Kun&#x017F;tepen &#x2014;<lb/>
weniger dem nationalen Sonderleben als dem internatio-<lb/>
nalen Krei&#x017F;e des chri&#x017F;tlichen Rittertums angehören, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
die&#x017F;e Dichtung doch &#x017F;o tief durchtränkt von deut&#x017F;chem Ge-<lb/>
müt und Gedankenadel, &#x017F;o neuge&#x017F;taltet aus genialem Gei&#x017F;t,<lb/>
daß &#x017F;ie als echtes Werk un&#x017F;erer Literatur gelten darf. Was<lb/>
Wolfram in dem Artusroman vorfand, war (nach Wacker-<lb/>
nagels Wort) ein &#x201E;planlo&#x017F;es Gewirr von Namen und Aben-<lb/>
teuern&#x201C;. Es fehlte noch die religiö&#x017F;e Tiefe, es fehlte die<lb/>
verbindende höhere Idee, es fehlte vor allem jener Zug des<lb/>
allgemein Men&#x017F;chlichen, der das Lokale und Individuelle<lb/>
zum Typi&#x017F;chen, das Zufällige zum Notwendigen erhebt, es<lb/>
fehlte mit einem Wort all das, was wir heute noch nach<lb/>
&#x017F;iebenhundert Jahren an Parzifal bewundern, als &#x017F;ein<lb/>
Eigentümlich&#x017F;tes und Höch&#x017F;tes. Nur das Genie kann derart<lb/>
den rohen Stoff adeln und ihm unvergängliches Leben ein-<lb/>
hauchen. <hi rendition="#b">So verlieh er&#x017F;t ein Goethe der alten Fau&#x017F;t&#x017F;age</hi><lb/>
den ewigen Gehalt und die kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Form, &#x017F;o ein Syake-<lb/>
&#x017F;peare dem Sammel&#x017F;urium kümmerlicher Hof- und Liebes-<lb/>
hi&#x017F;torien den tief men&#x017F;chlichen Zug, ohne den &#x017F;ie läng&#x017F;t ver-<lb/>
&#x017F;chollen wären.</p><lb/>
          <p>Den unüber&#x017F;ehbar handlungsreichen Inhalt des Par-<lb/>
zifal in wenigen Zeilen zu erzählen i&#x017F;t nicht möglich und<lb/>
würde auch keineswegs dem, der &#x017F;ie noch nicht kennt, einen<lb/>
Begriff von der &#x017F;prachgewaltigen, tief&#x017F;innigen, von der Idee<lb/>
der &#x017F;eeli&#x017F;chen Läuterung dunkel durchglühten Dichtung<lb/>
geben. Aus tumpheit durch Zwifel zur &#x017F;aelde geht der Weg<lb/>
Parzifals. Aus kindlicher Einfalt und jungendlicher Unbe-<lb/>
&#x017F;onnenheit durch wilden Zwie&#x017F;palt mit Gott, mit der Welt,<lb/>
mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zum großen Ziel der Seligkeit, des wahren<lb/>
Glückes, das in der <hi rendition="#b">Lauterkeit und Reinheit des &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t</hi><lb/>
treu bleibenden Herzens be&#x017F;teht. Das i&#x017F;t die innere Ent-<lb/>
wicklung des Helden, dem Wolfram, wie jeder echte Dichter<lb/>
&#x017F;einem Ge&#x017F;chöpfe, Züge &#x017F;eines eigenen We&#x017F;ens und Wan-<lb/>
delns verliehen. Wolframs &#x017F;ittliches Ideal i&#x017F;t die Treue,<lb/>
die&#x017F;es alte Kleinod des unverdorbenen Deut&#x017F;chtums. Sie i&#x017F;t<lb/>
ihm der Inbegriff aller edleren Regungen der Seele, der<lb/>
Schutz&#x017F;child gegen alle Gefahren der Welt und Verlockungen<lb/>
der Sünde. Die&#x017F;er Zug macht Wolframs Dichtung &#x017F;o weihe-<lb/>
voll, macht &#x017F;ie zum erquickenden Borne, aus dem wir in<lb/>
Zeiten der Not, innerer wie äußerer, Mut und Zuver&#x017F;icht<lb/>
&#x017F;chöpfen können.<note place="foot" n="*)">In der Ur&#x017F;prache i&#x017F;t gerade Wolfram nur dem guten<lb/>
Kenner des Mittelhochdeut&#x017F;chen ver&#x017F;tändlich, doch haben wir &#x017F;eit<lb/>
mehr als zwanzig Jahren die mei&#x017F;terhafte Ueber&#x017F;etzung des<lb/>
Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber-<lb/>
tragung des Originales würdig zu nennen i&#x017F;t.</note> Während &#x017F;ein großer Antipode Gott-<lb/>
fried von Straßburg, ganz von weltlichem Sinne beherr&#x017F;cht<lb/>
er&#x017F;cheint und das Recht der &#x017F;chönen Sinnlichkeit predigte,<lb/>
&#x017F;ehen wir Wolfram von tief&#x017F;tem Ethos erfüllt, das die auf-<lb/>
richtige Einkehr des denkenden Men&#x017F;chen in das eigene<lb/>
Innere unweigerlich fordert. (Wir &#x017F;ehen im 18. Jahrhun-<lb/>
dert in Wieland und Klop&#x017F;tock einen &#x017F;chwachen Abglanz die-<lb/>
&#x017F;es Verhältni&#x017F;&#x017F;es zweier Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en aufleuchten.)</p><lb/>
          <p>Aber es i&#x017F;t bezeichnend: der religiö&#x017F;e Sinn führte den<lb/>
Dichter (wie be&#x017F;onders der Willehalm zeigt) nicht zu un-<lb/>
chri&#x017F;tlichem Fanatismus, der die Vernichtung des Heiden<lb/><cb/>
z. B. für ein gottgefälliges Werk an&#x017F;ah: Wie &#x017F;ehr er auch<lb/>
von der Wahrheit &#x017F;eines Glaubens durchdrungen war, er<lb/>
fordert ver&#x017F;tehende Duldung der Andersgläubigen und An-<lb/>
erkennung der Men&#x017F;chenrechte. Die&#x017F;e edle Weltan&#x017F;chauung<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;o tief im Mittelalter verkündet zu finden, möchte<lb/>
überra&#x017F;chen, wenn anders uns am wahren Genius etwas<lb/>
überra&#x017F;chen dürfte. Jedenfalls i&#x017F;t gerade hier für uns<lb/>
Moderne auf immer die Brücke ge&#x017F;chlagen zu die&#x017F;em gott-<lb/>
begnadeten Dichter. Mit mehr als einem Gedanken berührt<lb/>
&#x017F;ich übrigens Wolfram mit keinem Geringeren als Goethe.<lb/>
Doch hier im einzelnen darauf einzugehen i&#x017F;t nicht der Ort.</p><lb/>
          <p>Genug, wir hier im deut&#x017F;chen Süden dürfen &#x017F;tolz &#x017F;ein<lb/>
auf un&#x017F;ern Wolfram; es i&#x017F;t ja nicht der einzige Bayer aus<lb/>
jener Blütezeit der deut&#x017F;chen Dichtung, de&#x017F;&#x017F;en Ruhm weit<lb/>
über die Grenzen &#x017F;eines Stammlandes drang: der Dichter<lb/>
der Nibelungen, des Kudrunliedes und vor allem der größte<lb/>
vorgoethe&#x017F;che Lyriker, Walther von der Vogelweide, &#x017F;ie alle<lb/>
&#x2014; ob ihre Wiege im Altmühltale &#x017F;tand oder am Brenner,<lb/>
am Donau&#x017F;trom oder im Tal der Et&#x017F;ch &#x2014;, &#x017F;ie gehören zu<lb/>
un&#x017F;erm Stamm, ohne den nicht nur die deut&#x017F;che Ge&#x017F;chichte,<lb/>
ohne den auch das deut&#x017F;che Schrifttum gar nicht denkbar i&#x017F;t!<lb/>
Dort auf der Wartburg, wo er &#x017F;ein Mei&#x017F;terwerk &#x017F;chuf, im<lb/>
Herzen Thüringens, &#x017F;chrieb der fränki&#x017F;che Wolfram &#x017F;tolz<lb/>
&#x017F;eine Worte &#x201E;wir Beier&#x201C; (Parzifal Vers 3594).</p><lb/>
          <p>Hugo von Trinebergs &#x017F;chönes Wort über den unver-<lb/>
gleichlichen Walther, wir wollen es auch von Wolfram,<lb/>
&#x017F;einem ebenbürtigen Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en &#x017F;agen:</p><lb/>
          <p>&#x201E;&#x017F;wer des vergaeze, der taet mir leide.&#x201C;</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Thomas Mann.</hi> </hi> </head><lb/>
          <byline> <hi rendition="#c">Von Hanns Martin <hi rendition="#g">El&#x017F;ter.</hi></hi> </byline><lb/>
          <p>In Thomas Manns Adern eint &#x017F;ich fe&#x017F;te norddeut&#x017F;che<lb/>
Kultur und lockere, lo&#x017F;e kreoli&#x017F;che Leiden&#x017F;chaft. Aus bür-<lb/>
gerlichem Hau&#x017F;e ent&#x017F;tammend, ward er dem Kün&#x017F;tlertum<lb/>
anheimgegeben, ohne freilich die&#x017F;em aus&#x017F;chließlich angehören<lb/>
zu können, &#x017F;ondern mit &#x017F;tets lebendigem Heimweh nach<lb/>
dem verlorenen einfachen, tat&#x017F;ächlichen Sein. Der Zwie-<lb/>
&#x017F;palt &#x017F;eines Da&#x017F;eins blieb: die Sehn&#x017F;ucht nach bürgerlicher<lb/>
Men&#x017F;chlichkeit, dem Erbe &#x017F;einer Väter, aus der Problematik<lb/>
alles Kün&#x017F;tlertums heraus.</p><lb/>
          <p>Von der er&#x017F;ten Zeile an wurde &#x017F;ein Schaffen die Stimme<lb/>
die&#x017F;er Sehn&#x017F;ucht. Sie vertiefte &#x017F;ich immer bedeutender. Sie<lb/>
wich aber nie aus dem Melodienkrei&#x017F;e ihrer Schwermut,<lb/>
die &#x017F;ich um &#x017F;o la&#x017F;tender auf ihn nieder&#x017F;enkte, als das<lb/>
Kün&#x017F;tlertum nicht den Sinn des Lebens offenbarte, als<lb/>
der Glaube an das Kün&#x017F;tlertum nicht fe&#x017F;t werden wollte,<lb/>
woran die bürgerliche Men&#x017F;chlichkeit in &#x017F;einem Innern<lb/>
hinderte. Das Ringen um Weltklarheit und -an&#x017F;chauung<lb/>
klammerte &#x017F;ich, der &#x017F;kepti&#x017F;chen Veranlagung gemäß, an<lb/>
Schopenhauer. Das Urleid des Da&#x017F;eins ward von der &#x017F;en-<lb/>
&#x017F;iblen Genialität des Jünglings im Kampf mit den bürger-<lb/>
lichen Mächten der Heimat als Lebensge&#x017F;etz <hi rendition="#g">erlebt,</hi> nicht<lb/>
nur erkannt, und damit Unter&#x017F;trömung &#x017F;einer Werke, bis<lb/>
in die Auffa&#x017F;&#x017F;ung vom Tode als dem Erlö&#x017F;er von der Qual<lb/>
die&#x017F;es Da&#x017F;eins, bis in die Stellung zur Mu&#x017F;ik hinein, die<lb/>
&#x017F;ich in &#x017F;o zahlreichen mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Szenen der Werke kund-<lb/>
gibt. Letzte Rettung vor der Gefahr, durch den Pe&#x017F;&#x017F;imismus<lb/>
erdrückt zu werden, brachte einzig der &#x017F;chaffende In&#x017F;tinkt,<lb/>
das Kün&#x017F;tlertum. Es ward nicht im romanti&#x017F;chen Lichte<lb/>
ge&#x017F;ehen, &#x017F;ondern in der Beleuchtung des P&#x017F;ychologen, des<lb/>
Intellekts. Die Kün&#x017F;tler &#x017F;ind für Mann Men&#x017F;chen, die<lb/>
den Trug des Lebens durch&#x017F;chauen und nicht mehr<lb/>
den blinden Geboten des Willens zum Leben unter-<lb/>
worfen &#x017F;ind. Sie &#x017F;ind Ein&#x017F;ame unter den Mitmen&#x017F;chen,<lb/>
mit dem Fluch und dem Leid des &#x201E;Anders&#x017F;eins&#x201C; als die<lb/>
Alltagsmen&#x017F;chen bela&#x017F;tet, und gelangen deshalb nie zum<lb/>
Glücksgefühl im Lebenszu&#x017F;tand. Wohl gibt es eine Glücks-<lb/>
möglichkeit, aber nach Manns An&#x017F;chauung nur unter denen,<lb/>
die &#x201E;möglich&#x017F;t wenig von der Erkenntnis berührt, von des<lb/>
Gedankens Blä&#x017F;&#x017F;e angekränkelt &#x017F;ind, die das Leben &#x017F;tark,<lb/>
kräftig, mit naiver, ur&#x017F;prünglicher Sicherheit und Unbe-<lb/>
fangenheit führen&#x201C;. Nietz&#x017F;che pries die&#x017F;e unbefangenen, un-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[Seite 167[167]/0009] 2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Shakeſpeare, liegt auch über Wolframs perſönliche Schick- ſale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigſte literariſche Forſchung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über ſein Leben wiſſen, iſt die Dürftigkeit ſelber. Um 1170 herum mochte er geboren ſein zu Eſchenbach (bei Ansbach) und dortſelbſt oder im nahen Weiler Wilden- berg hat er wohl den größten Teil ſeines Lebens verbracht als armer ritterlicher Lehensmann eines Grafen Wertheim. Indeſſen lebte er eine Zeitlang als Gaſt des literaturkun- digen Thüringer Landgrafen Hermann zu Eiſenach und dort — wahrſcheinlich zwiſchen 1205 und 1215 — ſchrieb er ſein Lebenswerk, oder vielmehr er diktierte es einem Schreiber, denn er ſelbſt konnte weder leſen noch ſchreiben. Bald nach Vollendung des Parzifal — wie man annimmt ums Jahr 1220 — ſtarb er, ehe er noch ſeine beiden andern großen Werke Willehalm und Titurel vollenden konnte. Franzöſiſch waren die Quellen, aus denen Wolfram ſchöpfte. Mag ſomit auch der Stoff des Parzifal — wie der der meiſten andern mittelhochdeutſchen Kunſtepen — weniger dem nationalen Sonderleben als dem internatio- nalen Kreiſe des chriſtlichen Rittertums angehören, ſo iſt dieſe Dichtung doch ſo tief durchtränkt von deutſchem Ge- müt und Gedankenadel, ſo neugeſtaltet aus genialem Geiſt, daß ſie als echtes Werk unſerer Literatur gelten darf. Was Wolfram in dem Artusroman vorfand, war (nach Wacker- nagels Wort) ein „planloſes Gewirr von Namen und Aben- teuern“. Es fehlte noch die religiöſe Tiefe, es fehlte die verbindende höhere Idee, es fehlte vor allem jener Zug des allgemein Menſchlichen, der das Lokale und Individuelle zum Typiſchen, das Zufällige zum Notwendigen erhebt, es fehlte mit einem Wort all das, was wir heute noch nach ſiebenhundert Jahren an Parzifal bewundern, als ſein Eigentümlichſtes und Höchſtes. Nur das Genie kann derart den rohen Stoff adeln und ihm unvergängliches Leben ein- hauchen. So verlieh erſt ein Goethe der alten Fauſtſage den ewigen Gehalt und die klaſſiſche Form, ſo ein Syake- ſpeare dem Sammelſurium kümmerlicher Hof- und Liebes- hiſtorien den tief menſchlichen Zug, ohne den ſie längſt ver- ſchollen wären. Den unüberſehbar handlungsreichen Inhalt des Par- zifal in wenigen Zeilen zu erzählen iſt nicht möglich und würde auch keineswegs dem, der ſie noch nicht kennt, einen Begriff von der ſprachgewaltigen, tiefſinnigen, von der Idee der ſeeliſchen Läuterung dunkel durchglühten Dichtung geben. Aus tumpheit durch Zwifel zur ſaelde geht der Weg Parzifals. Aus kindlicher Einfalt und jungendlicher Unbe- ſonnenheit durch wilden Zwieſpalt mit Gott, mit der Welt, mit ſich ſelbſt zum großen Ziel der Seligkeit, des wahren Glückes, das in der Lauterkeit und Reinheit des ſich ſelbſt treu bleibenden Herzens beſteht. Das iſt die innere Ent- wicklung des Helden, dem Wolfram, wie jeder echte Dichter ſeinem Geſchöpfe, Züge ſeines eigenen Weſens und Wan- delns verliehen. Wolframs ſittliches Ideal iſt die Treue, dieſes alte Kleinod des unverdorbenen Deutſchtums. Sie iſt ihm der Inbegriff aller edleren Regungen der Seele, der Schutzſchild gegen alle Gefahren der Welt und Verlockungen der Sünde. Dieſer Zug macht Wolframs Dichtung ſo weihe- voll, macht ſie zum erquickenden Borne, aus dem wir in Zeiten der Not, innerer wie äußerer, Mut und Zuverſicht ſchöpfen können. *) Während ſein großer Antipode Gott- fried von Straßburg, ganz von weltlichem Sinne beherrſcht erſcheint und das Recht der ſchönen Sinnlichkeit predigte, ſehen wir Wolfram von tiefſtem Ethos erfüllt, das die auf- richtige Einkehr des denkenden Menſchen in das eigene Innere unweigerlich fordert. (Wir ſehen im 18. Jahrhun- dert in Wieland und Klopſtock einen ſchwachen Abglanz die- ſes Verhältniſſes zweier Zeitgenoſſen aufleuchten.) Aber es iſt bezeichnend: der religiöſe Sinn führte den Dichter (wie beſonders der Willehalm zeigt) nicht zu un- chriſtlichem Fanatismus, der die Vernichtung des Heiden z. B. für ein gottgefälliges Werk anſah: Wie ſehr er auch von der Wahrheit ſeines Glaubens durchdrungen war, er fordert verſtehende Duldung der Andersgläubigen und An- erkennung der Menſchenrechte. Dieſe edle Weltanſchauung ſchon ſo tief im Mittelalter verkündet zu finden, möchte überraſchen, wenn anders uns am wahren Genius etwas überraſchen dürfte. Jedenfalls iſt gerade hier für uns Moderne auf immer die Brücke geſchlagen zu dieſem gott- begnadeten Dichter. Mit mehr als einem Gedanken berührt ſich übrigens Wolfram mit keinem Geringeren als Goethe. Doch hier im einzelnen darauf einzugehen iſt nicht der Ort. Genug, wir hier im deutſchen Süden dürfen ſtolz ſein auf unſern Wolfram; es iſt ja nicht der einzige Bayer aus jener Blütezeit der deutſchen Dichtung, deſſen Ruhm weit über die Grenzen ſeines Stammlandes drang: der Dichter der Nibelungen, des Kudrunliedes und vor allem der größte vorgoetheſche Lyriker, Walther von der Vogelweide, ſie alle — ob ihre Wiege im Altmühltale ſtand oder am Brenner, am Donauſtrom oder im Tal der Etſch —, ſie gehören zu unſerm Stamm, ohne den nicht nur die deutſche Geſchichte, ohne den auch das deutſche Schrifttum gar nicht denkbar iſt! Dort auf der Wartburg, wo er ſein Meiſterwerk ſchuf, im Herzen Thüringens, ſchrieb der fränkiſche Wolfram ſtolz ſeine Worte „wir Beier“ (Parzifal Vers 3594). Hugo von Trinebergs ſchönes Wort über den unver- gleichlichen Walther, wir wollen es auch von Wolfram, ſeinem ebenbürtigen Zeitgenoſſen ſagen: „ſwer des vergaeze, der taet mir leide.“ Thomas Mann. Von Hanns Martin Elſter. In Thomas Manns Adern eint ſich feſte norddeutſche Kultur und lockere, loſe kreoliſche Leidenſchaft. Aus bür- gerlichem Hauſe entſtammend, ward er dem Künſtlertum anheimgegeben, ohne freilich dieſem ausſchließlich angehören zu können, ſondern mit ſtets lebendigem Heimweh nach dem verlorenen einfachen, tatſächlichen Sein. Der Zwie- ſpalt ſeines Daſeins blieb: die Sehnſucht nach bürgerlicher Menſchlichkeit, dem Erbe ſeiner Väter, aus der Problematik alles Künſtlertums heraus. Von der erſten Zeile an wurde ſein Schaffen die Stimme dieſer Sehnſucht. Sie vertiefte ſich immer bedeutender. Sie wich aber nie aus dem Melodienkreiſe ihrer Schwermut, die ſich um ſo laſtender auf ihn niederſenkte, als das Künſtlertum nicht den Sinn des Lebens offenbarte, als der Glaube an das Künſtlertum nicht feſt werden wollte, woran die bürgerliche Menſchlichkeit in ſeinem Innern hinderte. Das Ringen um Weltklarheit und -anſchauung klammerte ſich, der ſkeptiſchen Veranlagung gemäß, an Schopenhauer. Das Urleid des Daſeins ward von der ſen- ſiblen Genialität des Jünglings im Kampf mit den bürger- lichen Mächten der Heimat als Lebensgeſetz erlebt, nicht nur erkannt, und damit Unterſtrömung ſeiner Werke, bis in die Auffaſſung vom Tode als dem Erlöſer von der Qual dieſes Daſeins, bis in die Stellung zur Muſik hinein, die ſich in ſo zahlreichen muſikaliſchen Szenen der Werke kund- gibt. Letzte Rettung vor der Gefahr, durch den Peſſimismus erdrückt zu werden, brachte einzig der ſchaffende Inſtinkt, das Künſtlertum. Es ward nicht im romantiſchen Lichte geſehen, ſondern in der Beleuchtung des Pſychologen, des Intellekts. Die Künſtler ſind für Mann Menſchen, die den Trug des Lebens durchſchauen und nicht mehr den blinden Geboten des Willens zum Leben unter- worfen ſind. Sie ſind Einſame unter den Mitmenſchen, mit dem Fluch und dem Leid des „Andersſeins“ als die Alltagsmenſchen belaſtet, und gelangen deshalb nie zum Glücksgefühl im Lebenszuſtand. Wohl gibt es eine Glücks- möglichkeit, aber nach Manns Anſchauung nur unter denen, die „möglichſt wenig von der Erkenntnis berührt, von des Gedankens Bläſſe angekränkelt ſind, die das Leben ſtark, kräftig, mit naiver, urſprünglicher Sicherheit und Unbe- fangenheit führen“. Nietzſche pries dieſe unbefangenen, un- *) In der Urſprache iſt gerade Wolfram nur dem guten Kenner des Mittelhochdeutſchen verſtändlich, doch haben wir ſeit mehr als zwanzig Jahren die meiſterhafte Ueberſetzung des Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber- tragung des Originales würdig zu nennen iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920, S. Seite 167[167]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/9>, abgerufen am 22.12.2024.