Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft Zwischen San Remo und Spa! Die Ergebnisse der Konferenz von San Remo lassen das er- Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Gesuch ist vor- Im übrigen enthält die Erklärung schwere Anschuldigungen Und damit ist es noch nicht genug. Man will zwar, und nun 2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft Zwiſchen San Remo und Spa! Die Ergebniſſe der Konferenz von San Remo laſſen das er- Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Geſuch iſt vor- Im übrigen enthält die Erklärung ſchwere Anſchuldigungen Und damit iſt es noch nicht genug. Man will zwar, und nun <TEI> <text> <body> <div type="jAnnouncements" n="1"> <pb facs="#f0003" n="Seite 161[161]"/> <fw place="top" type="header">2. 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Nach der<lb/> einen Meldung ſollte dabei von der Rheinprovinz und dem Ruhr-<lb/> gebiet, nach der andern von dem letzteren und den Mainſtädten<lb/> die Rede geweſen ſein und nach den geographiſchen Kenntniſſen,<lb/> die in Frankreich wie in England zur beruflichen Ausſtattung<lb/> der Staatsmänner gehören, durfte man wohl annehmen daß Lloyd<lb/> George tatſächlich das Ruhrgebiet und die Mainſtädte, wobei er die<lb/> letzteren als zur Rheinprovinz gehörig betrachtete, gemeint hatte.<lb/> So beſcheiden wir aber nun auch geworden ſind — ſoviel Be-<lb/> ſcheidenheit wird doch in Deutſchland nicht zu finden ſein, daß<lb/> irgend jemand von einer ſolchen Erklärung befriedigt wäre,<lb/> denn an die Möglichkeit franzöſiſcher Annexionen auf dem<lb/><hi rendition="#g">rechten</hi> Rheinufer konnte doch wirklich niemand denken, der<lb/> nicht völlig von Sinnen war. Vorerſt iſt gottlob noch nicht ein-<lb/> mal das ganze linke Rheinuſer annektiert und der Mittelrhein<lb/> wird auch nie mehr Deutſchlands Grenze werden; dazu brauchen<lb/> wir Herrn Millerands notgedrungene Erklärung wirklich nicht.<lb/> Immerhin war es ſelbſtverſtändlich von Bedeutung, daß Lloyd<lb/> George eine ſolche Erklärung verlangt hat als Vorausſetzung<lb/> für ein weiteres enges Zuſammenwirken der beiden Mächte auf<lb/> dem Gebiete der Ausführung des Friedens von Verſailles. Aber<lb/> wenn der nächſte Schritt auf dem Wege dieſe Ausführung, die<lb/> Entwaffnung Deutſchlands in ſtrengſter Anwendung der Artikel<lb/> 160—202 des Friedensvertrags ſein ſoll, ſo beweiſt das zur Ge-<lb/> nüge, daß von einer Aenderung der Geſinnung gegenüber Deutſch-<lb/> land auch in London noch nicht die Rede ſein kann.</p><lb/> <p>Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo<lb/> der richtige Zeitpunkt geweſen ſeien, bei der Entente die Wieder-<lb/> erhöhung der deutſchen Heeresſtärke oder vielmehr deren Be-<lb/> laſſung auf einem Beſtand von 200,000 Mann zu beantragen.<lb/> Es liegt aber auf der Hand, daß keine Zeit zu verlieren war,<lb/> wenn die verſchiedenartigen Unzuträglichkeiten, die aus der er-<lb/> zwungenen Derminderung der Reichswehr ſich ergeben, ſich nicht<lb/> noch verſchärfen ſollten, Unzuträglichkeiten, die durch eine<lb/> ſpätere Wiederergänzung keineswegs ausgeglichen werden. Die<lb/> entlaſſenen Truppen ſind begreiflicherweiſe ein unzufriedenes und<lb/> daher politiſch bedenkliches Element; die Vorgänge im han-<lb/> növerſchen Munſterlager, wo die bekannte Brigade Er-<lb/> hardt — das iſt die Brigade vom 13. März — ent-<lb/> waffnet werden ſoll, aber nicht entwaffnet werden kann, zeigen<lb/> deutlich genug, welche Gefahr in dieſen Operationen liegt. Min-<lb/> deſtens ebenſo gefährlich iſt aber die Bewaffnung der Arbeiter-<lb/> ſchaft, die in verſchiedenen Teilen des Reiches faſt offen vor ſich<lb/> geht. Und beides zuſammen bedeutet zugleich eine Verſchärfung<lb/> der öffentlichen Unſicherheit, ja im Grunde nichts anderes als<lb/> die Vorbereitung zum Bürgerkrieg. Somit wäre es außerordent-<lb/> lich erwünſcht geweſen, wenn der Schritt des Vorſitzenden der<lb/> deutſchen Friedensdelegation beim Oberſten Rat Erfolg gehabt<lb/> hätte und wenn unſere Lage mit auch nur einigermaßen vor-<lb/> urteilsfreien Augen geprüft würde, hätte man auch zu einer Er-<lb/> füllung dieſes Wunſches gelangen müſſen. Denn der Einwand,<lb/> der in einem Teil der feindlichen Preſſe erhoben wurde, England<lb/> habe vor dem Kriege kein ſo großes Heer gehabt, wie Deutſch-<lb/> land es jetzt fordere, iſt ja ſo lächerlich wie nur irgendeine Aus-<lb/> rede es ſein kann. Dort ein Staat mit feſtgefügter, bürgerlicher<lb/> Ordnung, dem höchſtens in Irland allenfalls beſcheidene mili-<lb/> täriſche Aufgaben erwachſen konnten, hier ein durch den Krieg,<lb/> Niederlage, Revolution und Reaktionsverſuche tauſendfach ge-<lb/> ſpaltenes und zeriſſenes Land, das nicht einmal des gewöhnlichen<lb/> Verbrechertums ſich zu erwehren vermag, und in dem jeder<lb/> einigermaßen entſchloſſene Freibeuter vom Schlage eines Hölz<lb/> mit Hilfe einiger Maſchinengewehre und Handgranaten ſich für<lb/><cb/> einige Wochen „ſelbſtändig machen“ kann, um mit Leben und<lb/> Eigentum ſeiner Zeitgenoſſen zu ſchalten und zu walten, wie es<lb/> ſeiner tollen Laune gefällt.</p><lb/> <p>Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Geſuch iſt vor-<lb/> läufig abgelehnt und zwar in allerſchärfſter Form. Die Er-<lb/> klärung, in der die Ergebniſſe der Beratungen von San Remo<lb/> niedergelegt worden ſind, gibt dem Standpunkt, der an dieſer<lb/> Stelle vertreten worden iſt, leider vollſtändig recht. Sie enthält<lb/> zwar den Satz, daß die Alliierten „nicht die Abſicht haben, irgend-<lb/> einen Teil des deutſchen Gebiets zu annektieren“, ſie nimmt auch<lb/> einen unmittelbaren Meinungsaustauſch zwiſchen den Regie-<lb/> rungschefs in Ausſicht und lädt daher die Thefs der deutſchen<lb/> Regierung zu einer direkten Konferenz mit den Chefs der alliier-<lb/> ten Regierungen ein. Das iſt etwas, aber es iſt doch noch ſehr<lb/> wenig, zumal auch dieſe direkte Konferenz nicht etwa einer<lb/> freien Ausſprache über die offenen Fragen gelten ſoll. Man ver-<lb/> langt vielmehr von der deutſchen Regierung „pröziſe Erklärun-<lb/> gen und Vorſchläge über alle angeführten Gegenſtände“, und erſt<lb/> wenn man zu einer nach jeder Hinſicht befriedigenden Regelung<lb/> dieſer Gegenſtände gelangt iſt, werden die alliierten Regierungen<lb/> geneigt ſein, mit den deutſchen Vertretern alle Fragen zu disku-<lb/> tieren, die ſich auf die innere Ordnung und das wirtſchaftliche<lb/> Wohlergehen Deutſchlands beziehen, alſo u. a. auch die Frage der<lb/> Unterhaltung eines Heeres von 200,000 Mann.</p><lb/> <p>Im übrigen enthält die Erklärung ſchwere Anſchuldigungen<lb/> Deutſchlands, in denen Millerand von Anfang bis zu Ende die<lb/> Feder geführt hat. Man erklärt, den Heeresvorſchlag nicht ein-<lb/> mal prüfen zu können, ſo lange Deutſchland „die wichtigſten Ver-<lb/> pflichtungen des Friedensvertrages nicht erfüllt und nicht zur<lb/> Entwaffnung ſchreitet, von der der Weltfrieden abhängt. Deutſch-<lb/> land hat ſeine Verpflichtungen nicht erfüllt, weder hinſichtlich der<lb/> Zerſtörung des Kriegsmaterials, noch der Herabſetzung der Effek-<lb/> tivbeſtände, noch der Kohlenlieferungen, noch der Wiedergut-<lb/> machungen und der Koſten für das Beſatzungsheer. Es hat weder<lb/> Genugtuung gegeben, noch ſich entſchuldigt für die Anſchläge, die<lb/> wiederholt auf Mitglieder alliierter Miſſionen verübt wurden.<lb/> Es hat auch noch nicht, wie es im Protokoll des Friedensvertrags<lb/> vorgeſehen iſt, Maßnahmen getroffen, um ſeine Verpflichtungen<lb/> hinſichtlich der Wiedergutmachungen zu beſtimmen und um Vor-<lb/> ſchläge zu machen, damit deren von Deutſchland zu zahlender Ge-<lb/> ſamtbetrag feſtgeſetzt werden kann, trotz des dringenden Charak-<lb/> ters, den eine Regelung dieſer Art im Intereſſe aller in Frage<lb/> kommenden Parteien hat. Deutſchland ſcheint noch nicht einmal<lb/> geprüft zu haben, wie es ſeinen Verpflichtungen nachkommen<lb/> kann, wenn ſie verfallen.“</p><lb/> <p>Und damit iſt es noch nicht genug. Man will zwar, und nun<lb/> reden wieder einen Augenblick Lloyd George und Nitti, der deut-<lb/> ſchen Regierung „keine allzu engherzige Interpretation des Frie-<lb/> densvertrages“ aufzwingen, iſt aber einig in der Erklärung, daß<lb/> die Alliierten — jetzt iſt ſchon wieder Millerand an der Reihe —<lb/> eine Fortſetzung der Uebertretungen des Friedensvertrages von<lb/> Verſailles nicht dulden können, daß dieſer Vertrag ausgeführt<lb/> werden muß, daß er die Baſis der Beziehungen Deutſchlands zu<lb/> den Alliierten bildet und daß dieſe entſchloſſen ſind, alle Maß-<lb/> nahmen zu ergreifen, und wenn es notwendig werden ſollte, auch<lb/> weitere deutſche Gebietsteile zu beſetzen, um die Ausführung des<lb/> Vertrages ſicherzuſtellen“. Dieſe Sprache iſt durchaus geeignet,<lb/> dem unverbeſſerlichſten Optimiſten den Star zu ſtechen. Zwiſchen<lb/> Frankreich und England beſteht, wie Lloyd George ſelber ankün-<lb/> digt, wieder „volles Einvernehmen“ und dieſes Einvernehmen iſt<lb/> hergeſtellt auf der Grundlage des Gedankens, daß Deutſchland<lb/> es in der Ausführung des Friedensvertrages an allem guten<lb/> Willen fehlen laſſe und daß es eventuell durch ſo draſtiſche Mittel,<lb/> wie die Beſetzung der Mainſtädte, zu einer Bekundung beſſeren<lb/> Willens gezwungen werden müſſe. Das ganze deutſche Volk muß<lb/> und wird dieſen Standpunkt als ein ſchreiendes Unrecht empfin-<lb/> den. Es mag allerdings ſein, daß die Ausführung der Beſtimmungen<lb/> des Friedensvertrages rein objektiv betrachtet zu wünſchen übrig-<lb/> läßt. Unſere ſtaatliche Energie erlahmt unter der Wucht der un-<lb/> geheuren Aufgaben, die auf allen Gebieten unſeres öffentlichen<lb/> Lebens zu löſen ſind und unter der ſittlichen Verlotterung, der<lb/> aktiven und paſſiven Reſiſtenz breiter Volksſchichten und ſie<lb/> reicht nicht einmal aus, um den dringendſten inneren Bedürf-<lb/> niſſen gerecht zu werden. Steuergeſetze ſind ja genug beſchloſſen<lb/> worden, aber ſie ſtehen alle auf dem Papier. Dabei wird ver-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [Seite 161[161]/0003]
2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Zwiſchen San Remo und Spa!
Die Ergebniſſe der Konferenz von San Remo laſſen das er-
hebliche Maß von Skepſis, das an dieſer Stelle der angeblichen
Sinnesänderung Englands entgegengebracht worden iſt, leider
vollauf gerechtfertigt erſcheinen. Herr Millerand hat ſich aller-
dings veranlaßt geſehen, die angeblichen Annexionsabſichten
Frankreichs auf dem rechten Rheinufer förmlich zu beſtreiten,
nachdem ihm Lloyd George Kenntnis von dem in England weit-
verbreiteten Mißtrauen in dieſer Hinſicht gegeben hat. Nach der
einen Meldung ſollte dabei von der Rheinprovinz und dem Ruhr-
gebiet, nach der andern von dem letzteren und den Mainſtädten
die Rede geweſen ſein und nach den geographiſchen Kenntniſſen,
die in Frankreich wie in England zur beruflichen Ausſtattung
der Staatsmänner gehören, durfte man wohl annehmen daß Lloyd
George tatſächlich das Ruhrgebiet und die Mainſtädte, wobei er die
letzteren als zur Rheinprovinz gehörig betrachtete, gemeint hatte.
So beſcheiden wir aber nun auch geworden ſind — ſoviel Be-
ſcheidenheit wird doch in Deutſchland nicht zu finden ſein, daß
irgend jemand von einer ſolchen Erklärung befriedigt wäre,
denn an die Möglichkeit franzöſiſcher Annexionen auf dem
rechten Rheinufer konnte doch wirklich niemand denken, der
nicht völlig von Sinnen war. Vorerſt iſt gottlob noch nicht ein-
mal das ganze linke Rheinuſer annektiert und der Mittelrhein
wird auch nie mehr Deutſchlands Grenze werden; dazu brauchen
wir Herrn Millerands notgedrungene Erklärung wirklich nicht.
Immerhin war es ſelbſtverſtändlich von Bedeutung, daß Lloyd
George eine ſolche Erklärung verlangt hat als Vorausſetzung
für ein weiteres enges Zuſammenwirken der beiden Mächte auf
dem Gebiete der Ausführung des Friedens von Verſailles. Aber
wenn der nächſte Schritt auf dem Wege dieſe Ausführung, die
Entwaffnung Deutſchlands in ſtrengſter Anwendung der Artikel
160—202 des Friedensvertrags ſein ſoll, ſo beweiſt das zur Ge-
nüge, daß von einer Aenderung der Geſinnung gegenüber Deutſch-
land auch in London noch nicht die Rede ſein kann.
Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo
der richtige Zeitpunkt geweſen ſeien, bei der Entente die Wieder-
erhöhung der deutſchen Heeresſtärke oder vielmehr deren Be-
laſſung auf einem Beſtand von 200,000 Mann zu beantragen.
Es liegt aber auf der Hand, daß keine Zeit zu verlieren war,
wenn die verſchiedenartigen Unzuträglichkeiten, die aus der er-
zwungenen Derminderung der Reichswehr ſich ergeben, ſich nicht
noch verſchärfen ſollten, Unzuträglichkeiten, die durch eine
ſpätere Wiederergänzung keineswegs ausgeglichen werden. Die
entlaſſenen Truppen ſind begreiflicherweiſe ein unzufriedenes und
daher politiſch bedenkliches Element; die Vorgänge im han-
növerſchen Munſterlager, wo die bekannte Brigade Er-
hardt — das iſt die Brigade vom 13. März — ent-
waffnet werden ſoll, aber nicht entwaffnet werden kann, zeigen
deutlich genug, welche Gefahr in dieſen Operationen liegt. Min-
deſtens ebenſo gefährlich iſt aber die Bewaffnung der Arbeiter-
ſchaft, die in verſchiedenen Teilen des Reiches faſt offen vor ſich
geht. Und beides zuſammen bedeutet zugleich eine Verſchärfung
der öffentlichen Unſicherheit, ja im Grunde nichts anderes als
die Vorbereitung zum Bürgerkrieg. Somit wäre es außerordent-
lich erwünſcht geweſen, wenn der Schritt des Vorſitzenden der
deutſchen Friedensdelegation beim Oberſten Rat Erfolg gehabt
hätte und wenn unſere Lage mit auch nur einigermaßen vor-
urteilsfreien Augen geprüft würde, hätte man auch zu einer Er-
füllung dieſes Wunſches gelangen müſſen. Denn der Einwand,
der in einem Teil der feindlichen Preſſe erhoben wurde, England
habe vor dem Kriege kein ſo großes Heer gehabt, wie Deutſch-
land es jetzt fordere, iſt ja ſo lächerlich wie nur irgendeine Aus-
rede es ſein kann. Dort ein Staat mit feſtgefügter, bürgerlicher
Ordnung, dem höchſtens in Irland allenfalls beſcheidene mili-
täriſche Aufgaben erwachſen konnten, hier ein durch den Krieg,
Niederlage, Revolution und Reaktionsverſuche tauſendfach ge-
ſpaltenes und zeriſſenes Land, das nicht einmal des gewöhnlichen
Verbrechertums ſich zu erwehren vermag, und in dem jeder
einigermaßen entſchloſſene Freibeuter vom Schlage eines Hölz
mit Hilfe einiger Maſchinengewehre und Handgranaten ſich für
einige Wochen „ſelbſtändig machen“ kann, um mit Leben und
Eigentum ſeiner Zeitgenoſſen zu ſchalten und zu walten, wie es
ſeiner tollen Laune gefällt.
Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Geſuch iſt vor-
läufig abgelehnt und zwar in allerſchärfſter Form. Die Er-
klärung, in der die Ergebniſſe der Beratungen von San Remo
niedergelegt worden ſind, gibt dem Standpunkt, der an dieſer
Stelle vertreten worden iſt, leider vollſtändig recht. Sie enthält
zwar den Satz, daß die Alliierten „nicht die Abſicht haben, irgend-
einen Teil des deutſchen Gebiets zu annektieren“, ſie nimmt auch
einen unmittelbaren Meinungsaustauſch zwiſchen den Regie-
rungschefs in Ausſicht und lädt daher die Thefs der deutſchen
Regierung zu einer direkten Konferenz mit den Chefs der alliier-
ten Regierungen ein. Das iſt etwas, aber es iſt doch noch ſehr
wenig, zumal auch dieſe direkte Konferenz nicht etwa einer
freien Ausſprache über die offenen Fragen gelten ſoll. Man ver-
langt vielmehr von der deutſchen Regierung „pröziſe Erklärun-
gen und Vorſchläge über alle angeführten Gegenſtände“, und erſt
wenn man zu einer nach jeder Hinſicht befriedigenden Regelung
dieſer Gegenſtände gelangt iſt, werden die alliierten Regierungen
geneigt ſein, mit den deutſchen Vertretern alle Fragen zu disku-
tieren, die ſich auf die innere Ordnung und das wirtſchaftliche
Wohlergehen Deutſchlands beziehen, alſo u. a. auch die Frage der
Unterhaltung eines Heeres von 200,000 Mann.
Im übrigen enthält die Erklärung ſchwere Anſchuldigungen
Deutſchlands, in denen Millerand von Anfang bis zu Ende die
Feder geführt hat. Man erklärt, den Heeresvorſchlag nicht ein-
mal prüfen zu können, ſo lange Deutſchland „die wichtigſten Ver-
pflichtungen des Friedensvertrages nicht erfüllt und nicht zur
Entwaffnung ſchreitet, von der der Weltfrieden abhängt. Deutſch-
land hat ſeine Verpflichtungen nicht erfüllt, weder hinſichtlich der
Zerſtörung des Kriegsmaterials, noch der Herabſetzung der Effek-
tivbeſtände, noch der Kohlenlieferungen, noch der Wiedergut-
machungen und der Koſten für das Beſatzungsheer. Es hat weder
Genugtuung gegeben, noch ſich entſchuldigt für die Anſchläge, die
wiederholt auf Mitglieder alliierter Miſſionen verübt wurden.
Es hat auch noch nicht, wie es im Protokoll des Friedensvertrags
vorgeſehen iſt, Maßnahmen getroffen, um ſeine Verpflichtungen
hinſichtlich der Wiedergutmachungen zu beſtimmen und um Vor-
ſchläge zu machen, damit deren von Deutſchland zu zahlender Ge-
ſamtbetrag feſtgeſetzt werden kann, trotz des dringenden Charak-
ters, den eine Regelung dieſer Art im Intereſſe aller in Frage
kommenden Parteien hat. Deutſchland ſcheint noch nicht einmal
geprüft zu haben, wie es ſeinen Verpflichtungen nachkommen
kann, wenn ſie verfallen.“
Und damit iſt es noch nicht genug. Man will zwar, und nun
reden wieder einen Augenblick Lloyd George und Nitti, der deut-
ſchen Regierung „keine allzu engherzige Interpretation des Frie-
densvertrages“ aufzwingen, iſt aber einig in der Erklärung, daß
die Alliierten — jetzt iſt ſchon wieder Millerand an der Reihe —
eine Fortſetzung der Uebertretungen des Friedensvertrages von
Verſailles nicht dulden können, daß dieſer Vertrag ausgeführt
werden muß, daß er die Baſis der Beziehungen Deutſchlands zu
den Alliierten bildet und daß dieſe entſchloſſen ſind, alle Maß-
nahmen zu ergreifen, und wenn es notwendig werden ſollte, auch
weitere deutſche Gebietsteile zu beſetzen, um die Ausführung des
Vertrages ſicherzuſtellen“. Dieſe Sprache iſt durchaus geeignet,
dem unverbeſſerlichſten Optimiſten den Star zu ſtechen. Zwiſchen
Frankreich und England beſteht, wie Lloyd George ſelber ankün-
digt, wieder „volles Einvernehmen“ und dieſes Einvernehmen iſt
hergeſtellt auf der Grundlage des Gedankens, daß Deutſchland
es in der Ausführung des Friedensvertrages an allem guten
Willen fehlen laſſe und daß es eventuell durch ſo draſtiſche Mittel,
wie die Beſetzung der Mainſtädte, zu einer Bekundung beſſeren
Willens gezwungen werden müſſe. Das ganze deutſche Volk muß
und wird dieſen Standpunkt als ein ſchreiendes Unrecht empfin-
den. Es mag allerdings ſein, daß die Ausführung der Beſtimmungen
des Friedensvertrages rein objektiv betrachtet zu wünſchen übrig-
läßt. Unſere ſtaatliche Energie erlahmt unter der Wucht der un-
geheuren Aufgaben, die auf allen Gebieten unſeres öffentlichen
Lebens zu löſen ſind und unter der ſittlichen Verlotterung, der
aktiven und paſſiven Reſiſtenz breiter Volksſchichten und ſie
reicht nicht einmal aus, um den dringendſten inneren Bedürf-
niſſen gerecht zu werden. Steuergeſetze ſind ja genug beſchloſſen
worden, aber ſie ſtehen alle auf dem Papier. Dabei wird ver-
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(2020-10-02T09:49:36Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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