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Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.

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2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft
Zwischen San Remo und Spa!

Die Ergebnisse der Konferenz von San Remo lassen das er-
hebliche Maß von Skepsis, das an dieser Stelle der angeblichen
Sinnesänderung Englands entgegengebracht worden ist, leider
vollauf gerechtfertigt erscheinen. Herr Millerand hat sich aller-
dings veranlaßt gesehen, die angeblichen Annexionsabsichten
Frankreichs auf dem rechten Rheinufer förmlich zu bestreiten,
nachdem ihm Lloyd George Kenntnis von dem in England weit-
verbreiteten Mißtrauen in dieser Hinsicht gegeben hat. Nach der
einen Meldung sollte dabei von der Rheinprovinz und dem Ruhr-
gebiet, nach der andern von dem letzteren und den Mainstädten
die Rede gewesen sein und nach den geographischen Kenntnissen,
die in Frankreich wie in England zur beruflichen Ausstattung
der Staatsmänner gehören, durfte man wohl annehmen daß Lloyd
George tatsächlich das Ruhrgebiet und die Mainstädte, wobei er die
letzteren als zur Rheinprovinz gehörig betrachtete, gemeint hatte.
So bescheiden wir aber nun auch geworden sind -- soviel Be-
scheidenheit wird doch in Deutschland nicht zu finden sein, daß
irgend jemand von einer solchen Erklärung befriedigt wäre,
denn an die Möglichkeit französischer Annexionen auf dem
rechten Rheinufer konnte doch wirklich niemand denken, der
nicht völlig von Sinnen war. Vorerst ist gottlob noch nicht ein-
mal das ganze linke Rheinuser annektiert und der Mittelrhein
wird auch nie mehr Deutschlands Grenze werden; dazu brauchen
wir Herrn Millerands notgedrungene Erklärung wirklich nicht.
Immerhin war es selbstverständlich von Bedeutung, daß Lloyd
George eine solche Erklärung verlangt hat als Voraussetzung
für ein weiteres enges Zusammenwirken der beiden Mächte auf
dem Gebiete der Ausführung des Friedens von Versailles. Aber
wenn der nächste Schritt auf dem Wege diese Ausführung, die
Entwaffnung Deutschlands in strengster Anwendung der Artikel
160--202 des Friedensvertrags sein soll, so beweist das zur Ge-
nüge, daß von einer Aenderung der Gesinnung gegenüber Deutsch-
land auch in London noch nicht die Rede sein kann.

Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo
der richtige Zeitpunkt gewesen seien, bei der Entente die Wieder-
erhöhung der deutschen Heeresstärke oder vielmehr deren Be-
lassung auf einem Bestand von 200,000 Mann zu beantragen.
Es liegt aber auf der Hand, daß keine Zeit zu verlieren war,
wenn die verschiedenartigen Unzuträglichkeiten, die aus der er-
zwungenen Derminderung der Reichswehr sich ergeben, sich nicht
noch verschärfen sollten, Unzuträglichkeiten, die durch eine
spätere Wiederergänzung keineswegs ausgeglichen werden. Die
entlassenen Truppen sind begreiflicherweise ein unzufriedenes und
daher politisch bedenkliches Element; die Vorgänge im han-
növerschen Munsterlager, wo die bekannte Brigade Er-
hardt -- das ist die Brigade vom 13. März -- ent-
waffnet werden soll, aber nicht entwaffnet werden kann, zeigen
deutlich genug, welche Gefahr in diesen Operationen liegt. Min-
destens ebenso gefährlich ist aber die Bewaffnung der Arbeiter-
schaft, die in verschiedenen Teilen des Reiches fast offen vor sich
geht. Und beides zusammen bedeutet zugleich eine Verschärfung
der öffentlichen Unsicherheit, ja im Grunde nichts anderes als
die Vorbereitung zum Bürgerkrieg. Somit wäre es außerordent-
lich erwünscht gewesen, wenn der Schritt des Vorsitzenden der
deutschen Friedensdelegation beim Obersten Rat Erfolg gehabt
hätte und wenn unsere Lage mit auch nur einigermaßen vor-
urteilsfreien Augen geprüft würde, hätte man auch zu einer Er-
füllung dieses Wunsches gelangen müssen. Denn der Einwand,
der in einem Teil der feindlichen Presse erhoben wurde, England
habe vor dem Kriege kein so großes Heer gehabt, wie Deutsch-
land es jetzt fordere, ist ja so lächerlich wie nur irgendeine Aus-
rede es sein kann. Dort ein Staat mit festgefügter, bürgerlicher
Ordnung, dem höchstens in Irland allenfalls bescheidene mili-
tärische Aufgaben erwachsen konnten, hier ein durch den Krieg,
Niederlage, Revolution und Reaktionsversuche tausendfach ge-
spaltenes und zerissenes Land, das nicht einmal des gewöhnlichen
Verbrechertums sich zu erwehren vermag, und in dem jeder
einigermaßen entschlossene Freibeuter vom Schlage eines Hölz
mit Hilfe einiger Maschinengewehre und Handgranaten sich für
[Spaltenumbruch] einige Wochen "selbständig machen" kann, um mit Leben und
Eigentum seiner Zeitgenossen zu schalten und zu walten, wie es
seiner tollen Laune gefällt.

Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Gesuch ist vor-
läufig abgelehnt und zwar in allerschärfster Form. Die Er-
klärung, in der die Ergebnisse der Beratungen von San Remo
niedergelegt worden sind, gibt dem Standpunkt, der an dieser
Stelle vertreten worden ist, leider vollständig recht. Sie enthält
zwar den Satz, daß die Alliierten "nicht die Absicht haben, irgend-
einen Teil des deutschen Gebiets zu annektieren", sie nimmt auch
einen unmittelbaren Meinungsaustausch zwischen den Regie-
rungschefs in Aussicht und lädt daher die Thefs der deutschen
Regierung zu einer direkten Konferenz mit den Chefs der alliier-
ten Regierungen ein. Das ist etwas, aber es ist doch noch sehr
wenig, zumal auch diese direkte Konferenz nicht etwa einer
freien Aussprache über die offenen Fragen gelten soll. Man ver-
langt vielmehr von der deutschen Regierung "prözise Erklärun-
gen und Vorschläge über alle angeführten Gegenstände", und erst
wenn man zu einer nach jeder Hinsicht befriedigenden Regelung
dieser Gegenstände gelangt ist, werden die alliierten Regierungen
geneigt sein, mit den deutschen Vertretern alle Fragen zu disku-
tieren, die sich auf die innere Ordnung und das wirtschaftliche
Wohlergehen Deutschlands beziehen, also u. a. auch die Frage der
Unterhaltung eines Heeres von 200,000 Mann.

Im übrigen enthält die Erklärung schwere Anschuldigungen
Deutschlands, in denen Millerand von Anfang bis zu Ende die
Feder geführt hat. Man erklärt, den Heeresvorschlag nicht ein-
mal prüfen zu können, so lange Deutschland "die wichtigsten Ver-
pflichtungen des Friedensvertrages nicht erfüllt und nicht zur
Entwaffnung schreitet, von der der Weltfrieden abhängt. Deutsch-
land hat seine Verpflichtungen nicht erfüllt, weder hinsichtlich der
Zerstörung des Kriegsmaterials, noch der Herabsetzung der Effek-
tivbestände, noch der Kohlenlieferungen, noch der Wiedergut-
machungen und der Kosten für das Besatzungsheer. Es hat weder
Genugtuung gegeben, noch sich entschuldigt für die Anschläge, die
wiederholt auf Mitglieder alliierter Missionen verübt wurden.
Es hat auch noch nicht, wie es im Protokoll des Friedensvertrags
vorgesehen ist, Maßnahmen getroffen, um seine Verpflichtungen
hinsichtlich der Wiedergutmachungen zu bestimmen und um Vor-
schläge zu machen, damit deren von Deutschland zu zahlender Ge-
samtbetrag festgesetzt werden kann, trotz des dringenden Charak-
ters, den eine Regelung dieser Art im Interesse aller in Frage
kommenden Parteien hat. Deutschland scheint noch nicht einmal
geprüft zu haben, wie es seinen Verpflichtungen nachkommen
kann, wenn sie verfallen."

Und damit ist es noch nicht genug. Man will zwar, und nun
reden wieder einen Augenblick Lloyd George und Nitti, der deut-
schen Regierung "keine allzu engherzige Interpretation des Frie-
densvertrages" aufzwingen, ist aber einig in der Erklärung, daß
die Alliierten -- jetzt ist schon wieder Millerand an der Reihe --
eine Fortsetzung der Uebertretungen des Friedensvertrages von
Versailles nicht dulden können, daß dieser Vertrag ausgeführt
werden muß, daß er die Basis der Beziehungen Deutschlands zu
den Alliierten bildet und daß diese entschlossen sind, alle Maß-
nahmen zu ergreifen, und wenn es notwendig werden sollte, auch
weitere deutsche Gebietsteile zu besetzen, um die Ausführung des
Vertrages sicherzustellen". Diese Sprache ist durchaus geeignet,
dem unverbesserlichsten Optimisten den Star zu stechen. Zwischen
Frankreich und England besteht, wie Lloyd George selber ankün-
digt, wieder "volles Einvernehmen" und dieses Einvernehmen ist
hergestellt auf der Grundlage des Gedankens, daß Deutschland
es in der Ausführung des Friedensvertrages an allem guten
Willen fehlen lasse und daß es eventuell durch so drastische Mittel,
wie die Besetzung der Mainstädte, zu einer Bekundung besseren
Willens gezwungen werden müsse. Das ganze deutsche Volk muß
und wird diesen Standpunkt als ein schreiendes Unrecht empfin-
den. Es mag allerdings sein, daß die Ausführung der Bestimmungen
des Friedensvertrages rein objektiv betrachtet zu wünschen übrig-
läßt. Unsere staatliche Energie erlahmt unter der Wucht der un-
geheuren Aufgaben, die auf allen Gebieten unseres öffentlichen
Lebens zu lösen sind und unter der sittlichen Verlotterung, der
aktiven und passiven Resistenz breiter Volksschichten und sie
reicht nicht einmal aus, um den dringendsten inneren Bedürf-
nissen gerecht zu werden. Steuergesetze sind ja genug beschlossen
worden, aber sie stehen alle auf dem Papier. Dabei wird ver-

2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft
Zwiſchen San Remo und Spa!

Die Ergebniſſe der Konferenz von San Remo laſſen das er-
hebliche Maß von Skepſis, das an dieſer Stelle der angeblichen
Sinnesänderung Englands entgegengebracht worden iſt, leider
vollauf gerechtfertigt erſcheinen. Herr Millerand hat ſich aller-
dings veranlaßt geſehen, die angeblichen Annexionsabſichten
Frankreichs auf dem rechten Rheinufer förmlich zu beſtreiten,
nachdem ihm Lloyd George Kenntnis von dem in England weit-
verbreiteten Mißtrauen in dieſer Hinſicht gegeben hat. Nach der
einen Meldung ſollte dabei von der Rheinprovinz und dem Ruhr-
gebiet, nach der andern von dem letzteren und den Mainſtädten
die Rede geweſen ſein und nach den geographiſchen Kenntniſſen,
die in Frankreich wie in England zur beruflichen Ausſtattung
der Staatsmänner gehören, durfte man wohl annehmen daß Lloyd
George tatſächlich das Ruhrgebiet und die Mainſtädte, wobei er die
letzteren als zur Rheinprovinz gehörig betrachtete, gemeint hatte.
So beſcheiden wir aber nun auch geworden ſind — ſoviel Be-
ſcheidenheit wird doch in Deutſchland nicht zu finden ſein, daß
irgend jemand von einer ſolchen Erklärung befriedigt wäre,
denn an die Möglichkeit franzöſiſcher Annexionen auf dem
rechten Rheinufer konnte doch wirklich niemand denken, der
nicht völlig von Sinnen war. Vorerſt iſt gottlob noch nicht ein-
mal das ganze linke Rheinuſer annektiert und der Mittelrhein
wird auch nie mehr Deutſchlands Grenze werden; dazu brauchen
wir Herrn Millerands notgedrungene Erklärung wirklich nicht.
Immerhin war es ſelbſtverſtändlich von Bedeutung, daß Lloyd
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für ein weiteres enges Zuſammenwirken der beiden Mächte auf
dem Gebiete der Ausführung des Friedens von Verſailles. Aber
wenn der nächſte Schritt auf dem Wege dieſe Ausführung, die
Entwaffnung Deutſchlands in ſtrengſter Anwendung der Artikel
160—202 des Friedensvertrags ſein ſoll, ſo beweiſt das zur Ge-
nüge, daß von einer Aenderung der Geſinnung gegenüber Deutſch-
land auch in London noch nicht die Rede ſein kann.

Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo
der richtige Zeitpunkt geweſen ſeien, bei der Entente die Wieder-
erhöhung der deutſchen Heeresſtärke oder vielmehr deren Be-
laſſung auf einem Beſtand von 200,000 Mann zu beantragen.
Es liegt aber auf der Hand, daß keine Zeit zu verlieren war,
wenn die verſchiedenartigen Unzuträglichkeiten, die aus der er-
zwungenen Derminderung der Reichswehr ſich ergeben, ſich nicht
noch verſchärfen ſollten, Unzuträglichkeiten, die durch eine
ſpätere Wiederergänzung keineswegs ausgeglichen werden. Die
entlaſſenen Truppen ſind begreiflicherweiſe ein unzufriedenes und
daher politiſch bedenkliches Element; die Vorgänge im han-
növerſchen Munſterlager, wo die bekannte Brigade Er-
hardt — das iſt die Brigade vom 13. März — ent-
waffnet werden ſoll, aber nicht entwaffnet werden kann, zeigen
deutlich genug, welche Gefahr in dieſen Operationen liegt. Min-
deſtens ebenſo gefährlich iſt aber die Bewaffnung der Arbeiter-
ſchaft, die in verſchiedenen Teilen des Reiches faſt offen vor ſich
geht. Und beides zuſammen bedeutet zugleich eine Verſchärfung
der öffentlichen Unſicherheit, ja im Grunde nichts anderes als
die Vorbereitung zum Bürgerkrieg. Somit wäre es außerordent-
lich erwünſcht geweſen, wenn der Schritt des Vorſitzenden der
deutſchen Friedensdelegation beim Oberſten Rat Erfolg gehabt
hätte und wenn unſere Lage mit auch nur einigermaßen vor-
urteilsfreien Augen geprüft würde, hätte man auch zu einer Er-
füllung dieſes Wunſches gelangen müſſen. Denn der Einwand,
der in einem Teil der feindlichen Preſſe erhoben wurde, England
habe vor dem Kriege kein ſo großes Heer gehabt, wie Deutſch-
land es jetzt fordere, iſt ja ſo lächerlich wie nur irgendeine Aus-
rede es ſein kann. Dort ein Staat mit feſtgefügter, bürgerlicher
Ordnung, dem höchſtens in Irland allenfalls beſcheidene mili-
täriſche Aufgaben erwachſen konnten, hier ein durch den Krieg,
Niederlage, Revolution und Reaktionsverſuche tauſendfach ge-
ſpaltenes und zeriſſenes Land, das nicht einmal des gewöhnlichen
Verbrechertums ſich zu erwehren vermag, und in dem jeder
einigermaßen entſchloſſene Freibeuter vom Schlage eines Hölz
mit Hilfe einiger Maſchinengewehre und Handgranaten ſich für
[Spaltenumbruch] einige Wochen „ſelbſtändig machen“ kann, um mit Leben und
Eigentum ſeiner Zeitgenoſſen zu ſchalten und zu walten, wie es
ſeiner tollen Laune gefällt.

Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Geſuch iſt vor-
läufig abgelehnt und zwar in allerſchärfſter Form. Die Er-
klärung, in der die Ergebniſſe der Beratungen von San Remo
niedergelegt worden ſind, gibt dem Standpunkt, der an dieſer
Stelle vertreten worden iſt, leider vollſtändig recht. Sie enthält
zwar den Satz, daß die Alliierten „nicht die Abſicht haben, irgend-
einen Teil des deutſchen Gebiets zu annektieren“, ſie nimmt auch
einen unmittelbaren Meinungsaustauſch zwiſchen den Regie-
rungschefs in Ausſicht und lädt daher die Thefs der deutſchen
Regierung zu einer direkten Konferenz mit den Chefs der alliier-
ten Regierungen ein. Das iſt etwas, aber es iſt doch noch ſehr
wenig, zumal auch dieſe direkte Konferenz nicht etwa einer
freien Ausſprache über die offenen Fragen gelten ſoll. Man ver-
langt vielmehr von der deutſchen Regierung „pröziſe Erklärun-
gen und Vorſchläge über alle angeführten Gegenſtände“, und erſt
wenn man zu einer nach jeder Hinſicht befriedigenden Regelung
dieſer Gegenſtände gelangt iſt, werden die alliierten Regierungen
geneigt ſein, mit den deutſchen Vertretern alle Fragen zu disku-
tieren, die ſich auf die innere Ordnung und das wirtſchaftliche
Wohlergehen Deutſchlands beziehen, alſo u. a. auch die Frage der
Unterhaltung eines Heeres von 200,000 Mann.

Im übrigen enthält die Erklärung ſchwere Anſchuldigungen
Deutſchlands, in denen Millerand von Anfang bis zu Ende die
Feder geführt hat. Man erklärt, den Heeresvorſchlag nicht ein-
mal prüfen zu können, ſo lange Deutſchland „die wichtigſten Ver-
pflichtungen des Friedensvertrages nicht erfüllt und nicht zur
Entwaffnung ſchreitet, von der der Weltfrieden abhängt. Deutſch-
land hat ſeine Verpflichtungen nicht erfüllt, weder hinſichtlich der
Zerſtörung des Kriegsmaterials, noch der Herabſetzung der Effek-
tivbeſtände, noch der Kohlenlieferungen, noch der Wiedergut-
machungen und der Koſten für das Beſatzungsheer. Es hat weder
Genugtuung gegeben, noch ſich entſchuldigt für die Anſchläge, die
wiederholt auf Mitglieder alliierter Miſſionen verübt wurden.
Es hat auch noch nicht, wie es im Protokoll des Friedensvertrags
vorgeſehen iſt, Maßnahmen getroffen, um ſeine Verpflichtungen
hinſichtlich der Wiedergutmachungen zu beſtimmen und um Vor-
ſchläge zu machen, damit deren von Deutſchland zu zahlender Ge-
ſamtbetrag feſtgeſetzt werden kann, trotz des dringenden Charak-
ters, den eine Regelung dieſer Art im Intereſſe aller in Frage
kommenden Parteien hat. Deutſchland ſcheint noch nicht einmal
geprüft zu haben, wie es ſeinen Verpflichtungen nachkommen
kann, wenn ſie verfallen.“

Und damit iſt es noch nicht genug. Man will zwar, und nun
reden wieder einen Augenblick Lloyd George und Nitti, der deut-
ſchen Regierung „keine allzu engherzige Interpretation des Frie-
densvertrages“ aufzwingen, iſt aber einig in der Erklärung, daß
die Alliierten — jetzt iſt ſchon wieder Millerand an der Reihe —
eine Fortſetzung der Uebertretungen des Friedensvertrages von
Verſailles nicht dulden können, daß dieſer Vertrag ausgeführt
werden muß, daß er die Baſis der Beziehungen Deutſchlands zu
den Alliierten bildet und daß dieſe entſchloſſen ſind, alle Maß-
nahmen zu ergreifen, und wenn es notwendig werden ſollte, auch
weitere deutſche Gebietsteile zu beſetzen, um die Ausführung des
Vertrages ſicherzuſtellen“. Dieſe Sprache iſt durchaus geeignet,
dem unverbeſſerlichſten Optimiſten den Star zu ſtechen. Zwiſchen
Frankreich und England beſteht, wie Lloyd George ſelber ankün-
digt, wieder „volles Einvernehmen“ und dieſes Einvernehmen iſt
hergeſtellt auf der Grundlage des Gedankens, daß Deutſchland
es in der Ausführung des Friedensvertrages an allem guten
Willen fehlen laſſe und daß es eventuell durch ſo draſtiſche Mittel,
wie die Beſetzung der Mainſtädte, zu einer Bekundung beſſeren
Willens gezwungen werden müſſe. Das ganze deutſche Volk muß
und wird dieſen Standpunkt als ein ſchreiendes Unrecht empfin-
den. Es mag allerdings ſein, daß die Ausführung der Beſtimmungen
des Friedensvertrages rein objektiv betrachtet zu wünſchen übrig-
läßt. Unſere ſtaatliche Energie erlahmt unter der Wucht der un-
geheuren Aufgaben, die auf allen Gebieten unſeres öffentlichen
Lebens zu löſen ſind und unter der ſittlichen Verlotterung, der
aktiven und paſſiven Reſiſtenz breiter Volksſchichten und ſie
reicht nicht einmal aus, um den dringendſten inneren Bedürf-
niſſen gerecht zu werden. Steuergeſetze ſind ja genug beſchloſſen
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[Seite 161[161]/0003] 2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Zwiſchen San Remo und Spa! Die Ergebniſſe der Konferenz von San Remo laſſen das er- hebliche Maß von Skepſis, das an dieſer Stelle der angeblichen Sinnesänderung Englands entgegengebracht worden iſt, leider vollauf gerechtfertigt erſcheinen. Herr Millerand hat ſich aller- dings veranlaßt geſehen, die angeblichen Annexionsabſichten Frankreichs auf dem rechten Rheinufer förmlich zu beſtreiten, nachdem ihm Lloyd George Kenntnis von dem in England weit- verbreiteten Mißtrauen in dieſer Hinſicht gegeben hat. Nach der einen Meldung ſollte dabei von der Rheinprovinz und dem Ruhr- gebiet, nach der andern von dem letzteren und den Mainſtädten die Rede geweſen ſein und nach den geographiſchen Kenntniſſen, die in Frankreich wie in England zur beruflichen Ausſtattung der Staatsmänner gehören, durfte man wohl annehmen daß Lloyd George tatſächlich das Ruhrgebiet und die Mainſtädte, wobei er die letzteren als zur Rheinprovinz gehörig betrachtete, gemeint hatte. So beſcheiden wir aber nun auch geworden ſind — ſoviel Be- ſcheidenheit wird doch in Deutſchland nicht zu finden ſein, daß irgend jemand von einer ſolchen Erklärung befriedigt wäre, denn an die Möglichkeit franzöſiſcher Annexionen auf dem rechten Rheinufer konnte doch wirklich niemand denken, der nicht völlig von Sinnen war. Vorerſt iſt gottlob noch nicht ein- mal das ganze linke Rheinuſer annektiert und der Mittelrhein wird auch nie mehr Deutſchlands Grenze werden; dazu brauchen wir Herrn Millerands notgedrungene Erklärung wirklich nicht. Immerhin war es ſelbſtverſtändlich von Bedeutung, daß Lloyd George eine ſolche Erklärung verlangt hat als Vorausſetzung für ein weiteres enges Zuſammenwirken der beiden Mächte auf dem Gebiete der Ausführung des Friedens von Verſailles. Aber wenn der nächſte Schritt auf dem Wege dieſe Ausführung, die Entwaffnung Deutſchlands in ſtrengſter Anwendung der Artikel 160—202 des Friedensvertrags ſein ſoll, ſo beweiſt das zur Ge- nüge, daß von einer Aenderung der Geſinnung gegenüber Deutſch- land auch in London noch nicht die Rede ſein kann. Man hat in Zweifel gezogen, ob die Tage von San Remo der richtige Zeitpunkt geweſen ſeien, bei der Entente die Wieder- erhöhung der deutſchen Heeresſtärke oder vielmehr deren Be- laſſung auf einem Beſtand von 200,000 Mann zu beantragen. Es liegt aber auf der Hand, daß keine Zeit zu verlieren war, wenn die verſchiedenartigen Unzuträglichkeiten, die aus der er- zwungenen Derminderung der Reichswehr ſich ergeben, ſich nicht noch verſchärfen ſollten, Unzuträglichkeiten, die durch eine ſpätere Wiederergänzung keineswegs ausgeglichen werden. Die entlaſſenen Truppen ſind begreiflicherweiſe ein unzufriedenes und daher politiſch bedenkliches Element; die Vorgänge im han- növerſchen Munſterlager, wo die bekannte Brigade Er- hardt — das iſt die Brigade vom 13. März — ent- waffnet werden ſoll, aber nicht entwaffnet werden kann, zeigen deutlich genug, welche Gefahr in dieſen Operationen liegt. Min- deſtens ebenſo gefährlich iſt aber die Bewaffnung der Arbeiter- ſchaft, die in verſchiedenen Teilen des Reiches faſt offen vor ſich geht. Und beides zuſammen bedeutet zugleich eine Verſchärfung der öffentlichen Unſicherheit, ja im Grunde nichts anderes als die Vorbereitung zum Bürgerkrieg. Somit wäre es außerordent- lich erwünſcht geweſen, wenn der Schritt des Vorſitzenden der deutſchen Friedensdelegation beim Oberſten Rat Erfolg gehabt hätte und wenn unſere Lage mit auch nur einigermaßen vor- urteilsfreien Augen geprüft würde, hätte man auch zu einer Er- füllung dieſes Wunſches gelangen müſſen. Denn der Einwand, der in einem Teil der feindlichen Preſſe erhoben wurde, England habe vor dem Kriege kein ſo großes Heer gehabt, wie Deutſch- land es jetzt fordere, iſt ja ſo lächerlich wie nur irgendeine Aus- rede es ſein kann. Dort ein Staat mit feſtgefügter, bürgerlicher Ordnung, dem höchſtens in Irland allenfalls beſcheidene mili- täriſche Aufgaben erwachſen konnten, hier ein durch den Krieg, Niederlage, Revolution und Reaktionsverſuche tauſendfach ge- ſpaltenes und zeriſſenes Land, das nicht einmal des gewöhnlichen Verbrechertums ſich zu erwehren vermag, und in dem jeder einigermaßen entſchloſſene Freibeuter vom Schlage eines Hölz mit Hilfe einiger Maſchinengewehre und Handgranaten ſich für einige Wochen „ſelbſtändig machen“ kann, um mit Leben und Eigentum ſeiner Zeitgenoſſen zu ſchalten und zu walten, wie es ſeiner tollen Laune gefällt. Aber es hat allerdings nichts geholfen. Das Geſuch iſt vor- läufig abgelehnt und zwar in allerſchärfſter Form. Die Er- klärung, in der die Ergebniſſe der Beratungen von San Remo niedergelegt worden ſind, gibt dem Standpunkt, der an dieſer Stelle vertreten worden iſt, leider vollſtändig recht. Sie enthält zwar den Satz, daß die Alliierten „nicht die Abſicht haben, irgend- einen Teil des deutſchen Gebiets zu annektieren“, ſie nimmt auch einen unmittelbaren Meinungsaustauſch zwiſchen den Regie- rungschefs in Ausſicht und lädt daher die Thefs der deutſchen Regierung zu einer direkten Konferenz mit den Chefs der alliier- ten Regierungen ein. Das iſt etwas, aber es iſt doch noch ſehr wenig, zumal auch dieſe direkte Konferenz nicht etwa einer freien Ausſprache über die offenen Fragen gelten ſoll. Man ver- langt vielmehr von der deutſchen Regierung „pröziſe Erklärun- gen und Vorſchläge über alle angeführten Gegenſtände“, und erſt wenn man zu einer nach jeder Hinſicht befriedigenden Regelung dieſer Gegenſtände gelangt iſt, werden die alliierten Regierungen geneigt ſein, mit den deutſchen Vertretern alle Fragen zu disku- tieren, die ſich auf die innere Ordnung und das wirtſchaftliche Wohlergehen Deutſchlands beziehen, alſo u. a. auch die Frage der Unterhaltung eines Heeres von 200,000 Mann. Im übrigen enthält die Erklärung ſchwere Anſchuldigungen Deutſchlands, in denen Millerand von Anfang bis zu Ende die Feder geführt hat. Man erklärt, den Heeresvorſchlag nicht ein- mal prüfen zu können, ſo lange Deutſchland „die wichtigſten Ver- pflichtungen des Friedensvertrages nicht erfüllt und nicht zur Entwaffnung ſchreitet, von der der Weltfrieden abhängt. Deutſch- land hat ſeine Verpflichtungen nicht erfüllt, weder hinſichtlich der Zerſtörung des Kriegsmaterials, noch der Herabſetzung der Effek- tivbeſtände, noch der Kohlenlieferungen, noch der Wiedergut- machungen und der Koſten für das Beſatzungsheer. Es hat weder Genugtuung gegeben, noch ſich entſchuldigt für die Anſchläge, die wiederholt auf Mitglieder alliierter Miſſionen verübt wurden. Es hat auch noch nicht, wie es im Protokoll des Friedensvertrags vorgeſehen iſt, Maßnahmen getroffen, um ſeine Verpflichtungen hinſichtlich der Wiedergutmachungen zu beſtimmen und um Vor- ſchläge zu machen, damit deren von Deutſchland zu zahlender Ge- ſamtbetrag feſtgeſetzt werden kann, trotz des dringenden Charak- ters, den eine Regelung dieſer Art im Intereſſe aller in Frage kommenden Parteien hat. Deutſchland ſcheint noch nicht einmal geprüft zu haben, wie es ſeinen Verpflichtungen nachkommen kann, wenn ſie verfallen.“ Und damit iſt es noch nicht genug. Man will zwar, und nun reden wieder einen Augenblick Lloyd George und Nitti, der deut- ſchen Regierung „keine allzu engherzige Interpretation des Frie- densvertrages“ aufzwingen, iſt aber einig in der Erklärung, daß die Alliierten — jetzt iſt ſchon wieder Millerand an der Reihe — eine Fortſetzung der Uebertretungen des Friedensvertrages von Verſailles nicht dulden können, daß dieſer Vertrag ausgeführt werden muß, daß er die Baſis der Beziehungen Deutſchlands zu den Alliierten bildet und daß dieſe entſchloſſen ſind, alle Maß- nahmen zu ergreifen, und wenn es notwendig werden ſollte, auch weitere deutſche Gebietsteile zu beſetzen, um die Ausführung des Vertrages ſicherzuſtellen“. Dieſe Sprache iſt durchaus geeignet, dem unverbeſſerlichſten Optimiſten den Star zu ſtechen. Zwiſchen Frankreich und England beſteht, wie Lloyd George ſelber ankün- digt, wieder „volles Einvernehmen“ und dieſes Einvernehmen iſt hergeſtellt auf der Grundlage des Gedankens, daß Deutſchland es in der Ausführung des Friedensvertrages an allem guten Willen fehlen laſſe und daß es eventuell durch ſo draſtiſche Mittel, wie die Beſetzung der Mainſtädte, zu einer Bekundung beſſeren Willens gezwungen werden müſſe. Das ganze deutſche Volk muß und wird dieſen Standpunkt als ein ſchreiendes Unrecht empfin- den. Es mag allerdings ſein, daß die Ausführung der Beſtimmungen des Friedensvertrages rein objektiv betrachtet zu wünſchen übrig- läßt. Unſere ſtaatliche Energie erlahmt unter der Wucht der un- geheuren Aufgaben, die auf allen Gebieten unſeres öffentlichen Lebens zu löſen ſind und unter der ſittlichen Verlotterung, der aktiven und paſſiven Reſiſtenz breiter Volksſchichten und ſie reicht nicht einmal aus, um den dringendſten inneren Bedürf- niſſen gerecht zu werden. Steuergeſetze ſind ja genug beſchloſſen worden, aber ſie ſtehen alle auf dem Papier. Dabei wird ver-

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920, S. Seite 161[161]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/3>, abgerufen am 23.11.2024.