Allgemeine Zeitung, Nr. 160, 8. Juni 1860.[Spaltenumbruch]
einer leidenschaftlichen Erregung der Massen, nicht aber wenn es das Ergeb- Seit Jahrzehnten die imposanteste Kundgebung unsers Parteilebens ist Das Nationalprogramm welches die republicanische Partei aufgestellt Zum Candidaten hat die Convention vor einer Stunde in dritter Ab- Neben den Nationalconventionen haben die japanesischen Gesandten, die Mit nicht geringem Mißfallen ist in Washington bemerkt worden daß Ein neuer großer Skandal in unserer Bundesverwaltung hat hier -- bei- Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. [Spaltenumbruch]
einer leidenſchaftlichen Erregung der Maſſen, nicht aber wenn es das Ergeb- Seit Jahrzehnten die impoſanteſte Kundgebung unſers Parteilebens iſt Das Nationalprogramm welches die republicaniſche Partei aufgeſtellt Zum Candidaten hat die Convention vor einer Stunde in dritter Ab- Neben den Nationalconventionen haben die japaneſiſchen Geſandten, die Mit nicht geringem Mißfallen iſt in Waſhington bemerkt worden daß Ein neuer großer Skandal in unſerer Bundesverwaltung hat hier — bei- Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jFinancialNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0014" n="2678"/><cb/> einer leidenſchaftlichen Erregung der Maſſen, nicht aber wenn es das Ergeb-<lb/> niß einer kaltblütigen Berechnung iſt.</p><lb/> <p>Seit Jahrzehnten die impoſanteſte Kundgebung unſers Parteilebens iſt<lb/> die ſeit dem 16 Mai in Chicago tagende Nationalconvention der republica-<lb/> niſchen Partei. Vor ihrer Großartigkeit ſchwindet die ſo kümmerlich aus-<lb/> gefallene Convention zu Charleſton in nichts. Es iſt keine Verſammlung,<lb/> es iſt ein ganzes Volk das nach dem Maifeld in Chicago geſtrömt iſt. Den<lb/> mäßigſten Schätzungen zufolge beläuft ſich die Zahl der Fremden in Chicago<lb/> auf 40,000 bis 50,000, ungefähr ſo viel wie die Bevölkerung eines der klei-<lb/> nen deutſchen Herzogthümer. Förmliche Heereszüge ſind von den verſchie-<lb/> denen Staaten hingezogen um den Eintritt der neuen Aera zu begrüßen —<lb/> denn daß das Jahr 1860 das Ende der Hegemonie des Südens und den<lb/> Beginn einer <hi rendition="#g">dauernden</hi> Hegemonie der freien Induſtrieſtaaten des Nor-<lb/> dens bezeichnen werde, daran zweifelt unter allen jenen Tauſenden niemand.<lb/> Von dem brauſenden Wellenſchlag jener Menſchenfluth, von der elektriſchen<lb/> Kraft die ſich bei dieſem unmittelbaren Meinungsaustauſch Tauſender von<lb/> freien, ſich als Glieder des Staatsweſens fühlenden Männern entwickelt, von<lb/> dem ſtürmiſchen Enthuſiasmus, aber auch von den kühnen oder verſchlagenen<lb/> Operationen unſerer Volksdiplomaten, von der Geiſteskraft die dazu gehört<lb/> die individuellen Stimmungen Tauſender von ſelbſtdenkenden Individuen zu<lb/> discipliniren, in eine beſtimmte Bahn zu lenken, ſogar zum Eingehen auf<lb/> plötzlich eintretende Wendungen und Veränderungen der Taktik zu vermögen<lb/> — von dieſer wahrhaft großartigen und gewaltigen Kundgebung modernen<lb/> Volkslebens läßt ſich dem europäiſchen Leſer keine Vorſtellung geben, weil<lb/> alle Vergleichungs- und Bezeichnungsmaßſtäbe fehlen. Oder ſollte man etwa<lb/> auf <hi rendition="#g">de</hi> neueſten „Volksabſtimmungen“ in Savoyen und Nizza verweiſen?<lb/> Es wäre der bitterſte Hohn. Zehntauſende von Menſchen, alle von <hi rendition="#g">einem</hi><lb/> Geiſte belebt, alle nach demſelben Ziele ſtrebend, und alle gleich bereit ihre<lb/> individuellen Modificationen des gemeinſamen Gedankens bereitwillig zu<lb/> opfern, wenn es zum kraftvollen Wirken erforderlich iſt (die Hauptbedingung<lb/> aller Selbſtregierung, und leider bei den Deutſchen ſelten zu finden) — das<lb/> bietet eine Darſtellung wahrhaft freier „Volksabſtimmung“ dar, welche den-<lb/> jenigen den das franzöſiſche Zerrbild anwidert, und der um des <hi rendition="#aq">abusus</hi> willen<lb/> den <hi rendition="#aq">usus</hi> läugnen möchte, andern Sinnes machen kann.</p><lb/> <p>Das Nationalprogramm welches die republicaniſche Partei aufgeſtellt<lb/> hat, zeichnet ſich durch die ſcharfe und beſtimmte Formulirung ſeiner Poſtulate<lb/> aus. In der Sklavereifrage geht es um einen bedeutenden Schritt über das<lb/> von 1856 hinaus. Letzteres behauptete das Recht und die Pflicht des Con-<lb/> greſſes die Sklaverei in den Bundesterritorien zu <hi rendition="#g">verbieten,</hi> woraus auch<lb/> zur Noth das Recht gefolgert werden konnte ſie zu <hi rendition="#g">geſtatten.</hi> Das jetzige<lb/> Programm ſpricht dem Congreß dieſes Recht gänzlich ab. Wie ſich ſeit 1856<lb/> die zweideutige „demokratiſche Lehre zu dem Satz verſchärft hat daß in allen<lb/> Territorien kraft der Bundesverfaſſung die Sklaveri beſtehe, ſo ſpricht jetzt<lb/> ihrerſeits die republicaniſche Partei die klare und unzweideutige Lehre aus:<lb/> „Die <hi rendition="#g">Freiheit</hi> beſteht in allen Territorien kraft der Bundesverfaſſung, und<lb/> die Sklaverei iſt ſchon durch die Bundesverfaſſung <hi rendition="#aq">eo ipso</hi> ausgeſchloſſen, ſo<lb/> daß auch nicht einmal der <hi rendition="#g">Congreß</hi> ſie dort geſtatten dürfte, geſchweige denn<lb/> die Localgeſetzgebung der Bewohner des Territoriums.“ Aufs energiſchſte er-<lb/> klärt ſich die Partei dahin daß der Bundesverband gegen alle hochverrätheri-<lb/> ſchen Attentate der Sklavenhalter aufrecht erhalten werden müſſe; daß der<lb/> Geiſt in welchem die Stifter des Bundes die Unabhängigkeitserklärung ab-<lb/> faßten, wieder zur Geltung kommen, und die Freiheit zur Norm, die Sklave-<lb/> rei zu einer beklagenswerthen örtlichen Ausnahme gemacht werden muß. Sie<lb/> bekennt ſich feſt und unzweideutig zu einer den Verhältniſſen des Landes an-<lb/> gemeſſenen, und zum Sturz der Hegemonie der Pflanzer unumgänglich noth-<lb/> wendigen Schutzzollpolitik; fordert daß die öffentlichen Ländereien fortan nur<lb/> noch an wirkliche Bebauer, und nicht, wie bisher, an Aufkäufer und Specu-<lb/> lanten abgegeben werden; erklärt ſich gegen alle und jede Verkürzung der<lb/> Rechte naturaliſirter Bürger, ſo wie gegen die (von den Knownothings gefor-<lb/> derte) Verlängerung der zur Erwerbung des Bürgerrechts erforderlichen Auf<lb/> enhaltsfriſt, und fordert Bundesbeihülfe zu wichtigen Verkehrsanlagen, na-<lb/> mentlich zu einer Eiſenbahn nach dem ſtillen Meer. Die ſcharfe und präciſe<lb/> Formulirung dieſes Programms iſt größtentheils den deutſchen Mitgliedern<lb/> der Convention zuzuſchreiben. In allen Parteien zuſammengenommen, die<lb/> ſeit Stiftung der Union beſtanden, hat das deutſche Element keinen ſo<lb/> großen Einfluß ausgeübt, keine ſo maßgebende Stellung eingenommen, wie<lb/> in der republicaniſchen. Die Convention zu Chicago zählte an 30 — 40<lb/> Deutſche zu Mitgliedern, mehr als in allen bisher ſtattgehabten Nationalcon-<lb/> ventionen aller Parteien je geſeſſen haben. Von den 26 Mitgliedern des zur<lb/> Entwerfung des Programms ernannten Comit<hi rendition="#aq">é</hi>’s waren 6 oder 7 Deutſche.<lb/> Auf ihren Antrag nahm die Convention einen Beſchluß an durch welchen ſie<lb/> — etwas völlig unerhörtes in einer Nationalconvention — eine den natura-<lb/> liſirten Bürgern mißgünſtige legislatoriſche Maßregel eines der ſtärkſten repu-<lb/> blicaniſchen Staaten, Maſſachuſetts, in ſchroffer Weiſe desavouirt. Nur der-<lb/> jenige dem bekannt iſt welchen Ahnenſtolz die Neu-Englandſtaaten haben, und<lb/><cb/> mit welchem Reſpect ſie bisher behandelt worden ſind, kann ermeſſen welch<lb/> eine außerordentliche Geltung dem deutſchen Element von der Partei zuge-<lb/> ſtanden werden muß, da ſie um ihretwillen die Republicaner des alten ſtol-<lb/> zen Puritanerſtaats Maſſachuſetts brüskirt. Einen ſehr weſentlichen Mangel<lb/> hat jedoch das republicaniſche Programm: es ſchweigt gänzlich über die aus-<lb/> wärtige Politik des Landes. Ohne Bedeutung iſt indeſſen dieſes Schweigen<lb/> doch nicht. Es zeigt daß die Anſichten derjenigen welche in Betreff der aus-<lb/> wärtigen Politik nur Negationen der demokratiſchen Beſtrebungen aufſtellen<lb/> wollen, und jener die eine poſitive auswärtige Politik im republicaniſchen Sinn<lb/> zu begründen wünſchen, ſich die Wage hielten. Sobald die Partei ans Ru-<lb/> der gelangte, würde ſie ſchon, wohl oder übel, durch die Umſtände zu einer<lb/> ſpecifiſchen auswärtigen Politik, die mit den Anforderungen des jugendlich<lb/> kräftigen Wachsthums der Republik nicht im Widerſpruch ſtünde, gezwungen<lb/> werden.</p><lb/> <p>Zum Candidaten hat die Convention vor einer Stunde in dritter Ab-<lb/> ſtimmung Hrn. Abraham <hi rendition="#g">Lincoln</hi> von Illinois gewählt. Vor zwei Jahren,<lb/> als es ſich in Illinois um eine neue Bundesſenatorwahl handelte, war Lin-<lb/> coln der Gegencandidat des Hrn. Douglas, und erhielt eine größere Stim-<lb/> menzahl als dieſer, wurde aber, da die Eintheilung der Wahlbezirke zur Staats-<lb/> geſetzgebung der Art iſt daß ſie dem dünnbevölkerten demokratiſchen Süden<lb/> des Staats das Uebergewicht über den ſtarkbevölkerten Norden gewährt, nicht<lb/> gewählt (Bundesſenatoren werden nicht direct vom Volk, ſondern von der<lb/> Staatslegislatur gewählt). Bis geſtern Abend galt es noch für gewiß daß<lb/><hi rendition="#g">Seward</hi> der Candidat ſeyn würde, doch hat, wie es ſcheint, die Rückſicht auf<lb/> das zum Sieg unentbehrliche Pennſylvanien, welchem Seward zu radical war,<lb/> die Convention veranlaßt einen Mann zu wählen der zwar nicht weniger ent-<lb/> ſchieden iſt, aber doch leicht als ein Gemäßigter <hi rendition="#g">dargeſtellt</hi> werden kann.<lb/> Die Wahl iſt kaum eine glückliche zu nennen. Einer der gewandteſten, ſcharf-<lb/> ſinnigſten und originalſten Dialektiker iſt Lincoln unbeſtritten; ſeine ſtaats-<lb/> männiſche Begabung mag vielleicht nicht gering ſeyn, aber noch hat er zu we-<lb/> nig Gelegenheit gehabt es zu beweiſen. Die Wahrſcheinlichkeit iſt indeſſen<lb/> daß er als Präſident Hrn. Seward zum Cabinetspräſidenten machen, und daß<lb/> dieſer ſomit doch der leitende Geiſt der Adminiſtration werden würde. Fre-<lb/> mont hatte in einem den californiſchen Abgeordneten mitgegebenen Schreiben<lb/> die Candidatur abgelehnt.</p><lb/> <p>Neben den Nationalconventionen haben die japaneſiſchen Geſandten, die<lb/> am Montag in Waſhington ankamen und geſtern dem Präſidenten vorgeſtellt<lb/> wurden, die Aufmerkſamkeit des Publicums lebhaft in Anſpruch genommen.<lb/> Wie ſich denken läßt, folgen die Zeitungsberichterſtatter den Japaneſen auf<lb/> Schritt und Tritt, und jede Bewegung derſelben wird in den öffentlichen Blättern<lb/> aufs weitſchweifigſte geſchildert. Von der feinen Bildung, dem tactvollen Be-<lb/> nehmen, der ſelbſt durch die pöbelhafteſten Ungeſchliffenheiten eines neugierigen<lb/> Publicums nicht zu alterirenden Freundlichkeit und Höflichkeit, und vor allen<lb/> Dingen von der genauen Bekanntſchaft der Japaneſen mit unſern Zuſtänden,<lb/> ja ſogar mit den Details unſers politiſchen Parteigetriebs weiß man nicht ge-<lb/> nug zu rühmen. Die Geſandten zeigen ſich mit dem ihnen gewordenen Em-<lb/> pfang ſehr zufrieden. Sie wiſſen ſich mit bewunderungswürdiger Gewandt-<lb/> heit in die ihnen doch ſicher überaus fremdartigen Sitten und Gebräuche hinein-<lb/> zufinden. Nach ihrem Landesbrauch führen ſie Zeichner bei ſich, die alles was<lb/> ihnen bemerkenswerthes aufſtößt mit einer völlig unglaublichen Raſchheit<lb/> aufzeichnen, um die dem Kaiſer zu erſtattenden Berichte zu erläutern. Hof-<lb/> fentlich werden dieſe Berichte, wenn auch erſt in einigen Jahren, in die Oeffent-<lb/> lichkeit gelangen, und man wird dann einmal wirkliche <hi rendition="#aq">„Lettres persanes“</hi><lb/> haben.</p><lb/> <p>Mit nicht geringem Mißfallen iſt in Waſhington bemerkt worden daß<lb/> kein Geſandter einer europäiſchen Macht dem Empfang der japaneſiſchen Bot-<lb/> ſchafter in ſeiner officiellen Eigenſchaft beigewohnt hat, und daß die HH. Di-<lb/> plomaten eine Mißachtung ihrer aſiatiſchen Collegen affectiren hinter welcher<lb/> ſich der Verdruß, darüber daß dieſelben zuerſt nach Amerika, ſtatt nach London<lb/> oder Paris gekommen ſind, nur ſchlecht verbirgt. Uebrigens machen auch die<lb/> Japaneſen kein Hehl daraus daß ihnen die Freundſchaft der Ver. Staaten<lb/> und Rußlands recht lieb iſt, an der Englands aber gar nichts liegt.</p><lb/> <p>Ein neuer großer Skandal in unſerer Bundesverwaltung hat hier — bei-<lb/> nahe drei Tage lang von ſich reden gemacht. Der hieſige Poſtmeiſter Fow-<lb/> ler, deſſen Amtseinkommen ſich wohl auf 20,000 bis 25,000 Dollars belief,<lb/> hat ſich mit Hinterlaſſung eines Caſſendefects von etwa 400,000 Gulden ge-<lb/> flüchtet. Wie es heißt, iſt er nach Braſilien entwichen, nachdem ſeine Freunde,<lb/> denen er ſeine Lage entdeckt, aus ihrer Taſche 38,000 Gulden zuſammenge-<lb/> ſchoſſen, und ihm als Viaticum geſchenkt hatten, denn das Geld das er unter-<lb/> ſchlagen hat iſt längſt fort.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jEditorialStaff" n="2"> <head> <hi rendition="#c">Verantwortliche Redaction: <hi rendition="#aq">Dr.</hi> G. <hi rendition="#g">Kolb.</hi> <hi rendition="#aq">Dr.</hi> A. J. <hi rendition="#g">Altenhöfer.</hi> <hi rendition="#aq">Dr.</hi> H. <hi rendition="#g">Orges.</hi></hi> </head> </div><lb/> <div type="imprint" n="2"> <head> <hi rendition="#c">Verlag der J. G. <hi rendition="#g">Cotta’</hi>ſchen Buchhandlung.</hi> </head> </div><lb/> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [2678/0014]
einer leidenſchaftlichen Erregung der Maſſen, nicht aber wenn es das Ergeb-
niß einer kaltblütigen Berechnung iſt.
Seit Jahrzehnten die impoſanteſte Kundgebung unſers Parteilebens iſt
die ſeit dem 16 Mai in Chicago tagende Nationalconvention der republica-
niſchen Partei. Vor ihrer Großartigkeit ſchwindet die ſo kümmerlich aus-
gefallene Convention zu Charleſton in nichts. Es iſt keine Verſammlung,
es iſt ein ganzes Volk das nach dem Maifeld in Chicago geſtrömt iſt. Den
mäßigſten Schätzungen zufolge beläuft ſich die Zahl der Fremden in Chicago
auf 40,000 bis 50,000, ungefähr ſo viel wie die Bevölkerung eines der klei-
nen deutſchen Herzogthümer. Förmliche Heereszüge ſind von den verſchie-
denen Staaten hingezogen um den Eintritt der neuen Aera zu begrüßen —
denn daß das Jahr 1860 das Ende der Hegemonie des Südens und den
Beginn einer dauernden Hegemonie der freien Induſtrieſtaaten des Nor-
dens bezeichnen werde, daran zweifelt unter allen jenen Tauſenden niemand.
Von dem brauſenden Wellenſchlag jener Menſchenfluth, von der elektriſchen
Kraft die ſich bei dieſem unmittelbaren Meinungsaustauſch Tauſender von
freien, ſich als Glieder des Staatsweſens fühlenden Männern entwickelt, von
dem ſtürmiſchen Enthuſiasmus, aber auch von den kühnen oder verſchlagenen
Operationen unſerer Volksdiplomaten, von der Geiſteskraft die dazu gehört
die individuellen Stimmungen Tauſender von ſelbſtdenkenden Individuen zu
discipliniren, in eine beſtimmte Bahn zu lenken, ſogar zum Eingehen auf
plötzlich eintretende Wendungen und Veränderungen der Taktik zu vermögen
— von dieſer wahrhaft großartigen und gewaltigen Kundgebung modernen
Volkslebens läßt ſich dem europäiſchen Leſer keine Vorſtellung geben, weil
alle Vergleichungs- und Bezeichnungsmaßſtäbe fehlen. Oder ſollte man etwa
auf de neueſten „Volksabſtimmungen“ in Savoyen und Nizza verweiſen?
Es wäre der bitterſte Hohn. Zehntauſende von Menſchen, alle von einem
Geiſte belebt, alle nach demſelben Ziele ſtrebend, und alle gleich bereit ihre
individuellen Modificationen des gemeinſamen Gedankens bereitwillig zu
opfern, wenn es zum kraftvollen Wirken erforderlich iſt (die Hauptbedingung
aller Selbſtregierung, und leider bei den Deutſchen ſelten zu finden) — das
bietet eine Darſtellung wahrhaft freier „Volksabſtimmung“ dar, welche den-
jenigen den das franzöſiſche Zerrbild anwidert, und der um des abusus willen
den usus läugnen möchte, andern Sinnes machen kann.
Das Nationalprogramm welches die republicaniſche Partei aufgeſtellt
hat, zeichnet ſich durch die ſcharfe und beſtimmte Formulirung ſeiner Poſtulate
aus. In der Sklavereifrage geht es um einen bedeutenden Schritt über das
von 1856 hinaus. Letzteres behauptete das Recht und die Pflicht des Con-
greſſes die Sklaverei in den Bundesterritorien zu verbieten, woraus auch
zur Noth das Recht gefolgert werden konnte ſie zu geſtatten. Das jetzige
Programm ſpricht dem Congreß dieſes Recht gänzlich ab. Wie ſich ſeit 1856
die zweideutige „demokratiſche Lehre zu dem Satz verſchärft hat daß in allen
Territorien kraft der Bundesverfaſſung die Sklaveri beſtehe, ſo ſpricht jetzt
ihrerſeits die republicaniſche Partei die klare und unzweideutige Lehre aus:
„Die Freiheit beſteht in allen Territorien kraft der Bundesverfaſſung, und
die Sklaverei iſt ſchon durch die Bundesverfaſſung eo ipso ausgeſchloſſen, ſo
daß auch nicht einmal der Congreß ſie dort geſtatten dürfte, geſchweige denn
die Localgeſetzgebung der Bewohner des Territoriums.“ Aufs energiſchſte er-
klärt ſich die Partei dahin daß der Bundesverband gegen alle hochverrätheri-
ſchen Attentate der Sklavenhalter aufrecht erhalten werden müſſe; daß der
Geiſt in welchem die Stifter des Bundes die Unabhängigkeitserklärung ab-
faßten, wieder zur Geltung kommen, und die Freiheit zur Norm, die Sklave-
rei zu einer beklagenswerthen örtlichen Ausnahme gemacht werden muß. Sie
bekennt ſich feſt und unzweideutig zu einer den Verhältniſſen des Landes an-
gemeſſenen, und zum Sturz der Hegemonie der Pflanzer unumgänglich noth-
wendigen Schutzzollpolitik; fordert daß die öffentlichen Ländereien fortan nur
noch an wirkliche Bebauer, und nicht, wie bisher, an Aufkäufer und Specu-
lanten abgegeben werden; erklärt ſich gegen alle und jede Verkürzung der
Rechte naturaliſirter Bürger, ſo wie gegen die (von den Knownothings gefor-
derte) Verlängerung der zur Erwerbung des Bürgerrechts erforderlichen Auf
enhaltsfriſt, und fordert Bundesbeihülfe zu wichtigen Verkehrsanlagen, na-
mentlich zu einer Eiſenbahn nach dem ſtillen Meer. Die ſcharfe und präciſe
Formulirung dieſes Programms iſt größtentheils den deutſchen Mitgliedern
der Convention zuzuſchreiben. In allen Parteien zuſammengenommen, die
ſeit Stiftung der Union beſtanden, hat das deutſche Element keinen ſo
großen Einfluß ausgeübt, keine ſo maßgebende Stellung eingenommen, wie
in der republicaniſchen. Die Convention zu Chicago zählte an 30 — 40
Deutſche zu Mitgliedern, mehr als in allen bisher ſtattgehabten Nationalcon-
ventionen aller Parteien je geſeſſen haben. Von den 26 Mitgliedern des zur
Entwerfung des Programms ernannten Comité’s waren 6 oder 7 Deutſche.
Auf ihren Antrag nahm die Convention einen Beſchluß an durch welchen ſie
— etwas völlig unerhörtes in einer Nationalconvention — eine den natura-
liſirten Bürgern mißgünſtige legislatoriſche Maßregel eines der ſtärkſten repu-
blicaniſchen Staaten, Maſſachuſetts, in ſchroffer Weiſe desavouirt. Nur der-
jenige dem bekannt iſt welchen Ahnenſtolz die Neu-Englandſtaaten haben, und
mit welchem Reſpect ſie bisher behandelt worden ſind, kann ermeſſen welch
eine außerordentliche Geltung dem deutſchen Element von der Partei zuge-
ſtanden werden muß, da ſie um ihretwillen die Republicaner des alten ſtol-
zen Puritanerſtaats Maſſachuſetts brüskirt. Einen ſehr weſentlichen Mangel
hat jedoch das republicaniſche Programm: es ſchweigt gänzlich über die aus-
wärtige Politik des Landes. Ohne Bedeutung iſt indeſſen dieſes Schweigen
doch nicht. Es zeigt daß die Anſichten derjenigen welche in Betreff der aus-
wärtigen Politik nur Negationen der demokratiſchen Beſtrebungen aufſtellen
wollen, und jener die eine poſitive auswärtige Politik im republicaniſchen Sinn
zu begründen wünſchen, ſich die Wage hielten. Sobald die Partei ans Ru-
der gelangte, würde ſie ſchon, wohl oder übel, durch die Umſtände zu einer
ſpecifiſchen auswärtigen Politik, die mit den Anforderungen des jugendlich
kräftigen Wachsthums der Republik nicht im Widerſpruch ſtünde, gezwungen
werden.
Zum Candidaten hat die Convention vor einer Stunde in dritter Ab-
ſtimmung Hrn. Abraham Lincoln von Illinois gewählt. Vor zwei Jahren,
als es ſich in Illinois um eine neue Bundesſenatorwahl handelte, war Lin-
coln der Gegencandidat des Hrn. Douglas, und erhielt eine größere Stim-
menzahl als dieſer, wurde aber, da die Eintheilung der Wahlbezirke zur Staats-
geſetzgebung der Art iſt daß ſie dem dünnbevölkerten demokratiſchen Süden
des Staats das Uebergewicht über den ſtarkbevölkerten Norden gewährt, nicht
gewählt (Bundesſenatoren werden nicht direct vom Volk, ſondern von der
Staatslegislatur gewählt). Bis geſtern Abend galt es noch für gewiß daß
Seward der Candidat ſeyn würde, doch hat, wie es ſcheint, die Rückſicht auf
das zum Sieg unentbehrliche Pennſylvanien, welchem Seward zu radical war,
die Convention veranlaßt einen Mann zu wählen der zwar nicht weniger ent-
ſchieden iſt, aber doch leicht als ein Gemäßigter dargeſtellt werden kann.
Die Wahl iſt kaum eine glückliche zu nennen. Einer der gewandteſten, ſcharf-
ſinnigſten und originalſten Dialektiker iſt Lincoln unbeſtritten; ſeine ſtaats-
männiſche Begabung mag vielleicht nicht gering ſeyn, aber noch hat er zu we-
nig Gelegenheit gehabt es zu beweiſen. Die Wahrſcheinlichkeit iſt indeſſen
daß er als Präſident Hrn. Seward zum Cabinetspräſidenten machen, und daß
dieſer ſomit doch der leitende Geiſt der Adminiſtration werden würde. Fre-
mont hatte in einem den californiſchen Abgeordneten mitgegebenen Schreiben
die Candidatur abgelehnt.
Neben den Nationalconventionen haben die japaneſiſchen Geſandten, die
am Montag in Waſhington ankamen und geſtern dem Präſidenten vorgeſtellt
wurden, die Aufmerkſamkeit des Publicums lebhaft in Anſpruch genommen.
Wie ſich denken läßt, folgen die Zeitungsberichterſtatter den Japaneſen auf
Schritt und Tritt, und jede Bewegung derſelben wird in den öffentlichen Blättern
aufs weitſchweifigſte geſchildert. Von der feinen Bildung, dem tactvollen Be-
nehmen, der ſelbſt durch die pöbelhafteſten Ungeſchliffenheiten eines neugierigen
Publicums nicht zu alterirenden Freundlichkeit und Höflichkeit, und vor allen
Dingen von der genauen Bekanntſchaft der Japaneſen mit unſern Zuſtänden,
ja ſogar mit den Details unſers politiſchen Parteigetriebs weiß man nicht ge-
nug zu rühmen. Die Geſandten zeigen ſich mit dem ihnen gewordenen Em-
pfang ſehr zufrieden. Sie wiſſen ſich mit bewunderungswürdiger Gewandt-
heit in die ihnen doch ſicher überaus fremdartigen Sitten und Gebräuche hinein-
zufinden. Nach ihrem Landesbrauch führen ſie Zeichner bei ſich, die alles was
ihnen bemerkenswerthes aufſtößt mit einer völlig unglaublichen Raſchheit
aufzeichnen, um die dem Kaiſer zu erſtattenden Berichte zu erläutern. Hof-
fentlich werden dieſe Berichte, wenn auch erſt in einigen Jahren, in die Oeffent-
lichkeit gelangen, und man wird dann einmal wirkliche „Lettres persanes“
haben.
Mit nicht geringem Mißfallen iſt in Waſhington bemerkt worden daß
kein Geſandter einer europäiſchen Macht dem Empfang der japaneſiſchen Bot-
ſchafter in ſeiner officiellen Eigenſchaft beigewohnt hat, und daß die HH. Di-
plomaten eine Mißachtung ihrer aſiatiſchen Collegen affectiren hinter welcher
ſich der Verdruß, darüber daß dieſelben zuerſt nach Amerika, ſtatt nach London
oder Paris gekommen ſind, nur ſchlecht verbirgt. Uebrigens machen auch die
Japaneſen kein Hehl daraus daß ihnen die Freundſchaft der Ver. Staaten
und Rußlands recht lieb iſt, an der Englands aber gar nichts liegt.
Ein neuer großer Skandal in unſerer Bundesverwaltung hat hier — bei-
nahe drei Tage lang von ſich reden gemacht. Der hieſige Poſtmeiſter Fow-
ler, deſſen Amtseinkommen ſich wohl auf 20,000 bis 25,000 Dollars belief,
hat ſich mit Hinterlaſſung eines Caſſendefects von etwa 400,000 Gulden ge-
flüchtet. Wie es heißt, iſt er nach Braſilien entwichen, nachdem ſeine Freunde,
denen er ſeine Lage entdeckt, aus ihrer Taſche 38,000 Gulden zuſammenge-
ſchoſſen, und ihm als Viaticum geſchenkt hatten, denn das Geld das er unter-
ſchlagen hat iſt längſt fort.
Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-02-11T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |