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Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 14. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] lich schmecken läßt und ihre kirchlichen Angelegenheiten mit Geschäftsklugheit be-
treibt -- eine europäische Berühmtheit unter den Flüchtlingen im faltenreichen
schwarzen Radmantel und seine ungarischen und polnischen Genossen im National-
costüm -- ein fremder verjagter Fürst mit seinem Begleiter -- ein durchtriebener
Fuchs von Buchhändler, Abgeordnete, Publicisten, Beamte, Prediger, Künstler.

Jede Persönlichkeit ist wie aus dem Leben gegriffen. Man glaubt: man
sei ihr nicht bloß begegnet, sondern habe sie auch gesprochen, entweder in München,
oder in Wien, oder in Stuttgart. Gleichwohl sind die Charaktere, wie sich der
Verfasser kaum zu verwahren brauchte, in keinerlei Sinn Porträtstudien, sie wol-
len nichts als freie Typen für ganze Menschenclassen sein. Die Satire des Buches
hat nur mit selbstgeschaffenen Gestalten, mit erdichteten Vorfällen und Zuständen
zu thun, nichts mit der wirklichen Welt irgendeines Landes.

Graf Walram haßt gründlich jenes Weltbürgerthum, jene neue Zigeuner-
religion welche fremdes Gesindel auf Kosten der Deutschen füttert. "Es ist Mode,
es ist Manie geworden mit diesen interessanten Polen, Tschechen, Magyaren, Ita-
lienern zu cokettiren, Mode geworden die deutschen Interessen ihnen preiszugeben,
Mode geworden das nicht sehen zu wollen daß man für Zwecke ausgebeutet wird
die undeutsch, barbarisch und absolutistisch im schlimmsten Sinne sind." Das paßt
ja auf Wien wie aufs Haar. Hoffentlich ist man auch dort seit den Fundamen-
talartikeln der Tschechen gründlich bekehrt, sonst werden die Magyaren schon weiter
dafür sorgen. Die neue Roland aber beherbergt unter dem Namen der Völker-
brüderschaft und Völkerfreiheit jene interessanten Fremdlinge, und gerade ist ein
öffentliches Fest zu Ehren jener europäischen Flüchtlingsberühmtheit auf seiner
Höhe, als Walram vortritt und den abgefeimten Betrüger als einen deutschen
Schauspieler entlarvt.

Graf Walram aber haßt auch alles Parteiwesen, alles Parteigetriebe mit
seiner sogenannten Disciplin und Solidarität. "Wozu haben," fragt er, "die Bürger
und Bauern ihre Abgeordneten gewählt wenn sie bloß wieder Heerde sein sollen
die einem beliebigen Leithammel folgen, und blind ins Feuer gehen soll, das ihr
und ihrer Wähler Wohl vernichten muß?" Ob letzteres wirklich so arg, wäre doch
erst in jedem einzelnen Falle zu untersuchen. Wie aber soll denn etwas durchgesetzt
werden wenn man sich nicht zusammenschließt? Und wie soll eine Partei geschlos-
sen handeln wenn sie keine Zucht und Schule hat? Graf Walram aber schlägt
ohne weiteres seiner Partei ins Gesicht als es sich in der Kammer um Aufhebung
der deutschen Sprache in den Gerichtsverhandlungen und Schulen der nichtdeut-
schen Provinzen handelt. Seit diesem Tag bleiben die Besuche seiner Partei-
genossen aus, und Adel und Geistlichkeit geben einen Korb voll Visitenkarten bei
ihm ab. Am wichtigsten Entscheidungstag, als es sich um Hebung des gesammten
Unterrichtswesens handelt, als es nur eines einzigen kräftigen Schlages bedarf
um die noch schwankende Mittelpartei herüberzuziehen, da ist der Abg. Graf Wal-
ram verreist, weil er am Sterbetage seiner Mutter an ihrem Grabe sein soll.

Schon aber hat die Rache begonnen. Walram hat, weil er an jenem Tage
nicht bei seiner Partei ist, wenigstens eine Rede für den Antrag geschrieben die in
der Kammer von einem Freunde soll vorgetragen werden. Aus dem Couvert hat
der schlaue Hofrath Marquardstein des Grafen Rede wegstibitzt, und dafür sein
eigenes Geisteskind hineingethan. Des Grafen Freund beginnt, wird irre, will
aufhören, die Rechte zwingt zum Vortrag des ganzen Schriftstücks. Es ist eine
satirische Philippika gegen die Aufklärungssucht der liberalen Partei mit starken
Seitenhieben auf Halbwissen, Treibhauscultur, Ueberfütterung des Volkes mit
brodloser Schöngeisterei, auf das Uebertünchen seines naturwüchsigen Wesens mit
fremdem Kalk, der doch wieder herabfallen werde sobald er trocken geworden. Der
Antrag, von welchem der freisinnige Fürst alles gehofft hat, fällt, und die ganze
liberale Welt ist wüthend über den Grafen. Seiner Erklärung wird kaum geglaubt.
Durch den entlarvten Schauspieler bringt man sein Porträt mit Joppe, Stiefeln
und Bernhardinerhund, wie der Graf leibt und lebt, auf die Bühne in Kotzebue's
"Landjunker in der Residenz." Ein ungeheurer Skandal entsteht, der Fluch des
Lächerlichen wirft sich centnerschwer auf den Grafen. Als er in der Kammer sich
andern Tags erhebt, überschüttet ihn die Gallerie mit Gelächter, er kommt nicht
mehr zu Wort und Ansehen. Ultramontane wie radicale Blätter zerfleischen seine
Ehre: er will nicht antworten, weil er erklärt die Stelle der einstigen Hofnarren
nehmen jetzt die Redacteure von Witzblättern ein. Er will auch weder gegen das
Theater vorgehen noch jemanden fordern. Die öffentliche Meinung verurtheilt ihn
schonungslos, seine eigene Partei läßt ihn fallen. Denn ist die Löwenhaut einem
politischen Helden einmal von den Schultern abgerissen, hat er gar schweren Stand.
Walrams einzige Hoffnung ist eine Flugschrift, in welcher er das Gesammte seiner
staatsheilenden Jdeen mit hinreißender Frische vorgetragen. Als die Schrift soll
ausgegeben werden, läßt man die ganze Auflage sammt dem Manuscript ver-
brennen, und als er wenigstens die geretteten Aushängebogen dem Fürsten brin-
gen soll, hat auch diese der Hofrath ihm wegstibitzt. "Er ist ein Abtrünniger, ein
Renegat seines Standes, ein Renegat seiner einstigen Jdeale" -- so erschallt rings
und allgemein das Verdammungsurtheil, und über dem Gestürzten reichen sich die
Familien Kayserling und Marquardstein die Hände.

Nun ist das Lustige daß seine Feinde und Verderber echte Renegaten werden.
Der dicke Häuptling der Radicalen übt ein schauriges Französisch ein, und gibt sich
zu den lächerlichsten und erniedrigendsten Handlungen her, um eine Consulats-
uniform von dem kleinen vertriebenen Fürsten zu gewinnen. Während er sich bei
Tage die redlichste Mühe gibt "der hohen Sache der Loyalität und Legitimität zu
dienen," kommen ihm im Traume die demokratischen Anwandlungen wieder. Er
macht sich zuletzt so gemein und lächerlich, daß seine Frau, die stolze schöne Con-
stanze, mit jenem Fürsten durchgeht, dessen Gemahlin wird und nun in Paris eine
andere politische Rolle spielt; sie will eine Coalition im Sinne der Legitimität or-
ganisiren. Sie findet ein plötzliches Ende, und zwar, wie man munkelt, durch die
von ihr verrathene Partei. Der Hofrath v. Marquardstein aber, der größte eynische
Halunke auf Erden, besolgt seine alte Regel: "Ein blöder Hund wird selten fett,
und wer an eine volle Krippe gebunden ist und nicht satt wird, der capirt die zweite
Regel nie: Partei ist Jnteresse, habt ihr Witz dazu, so brandschatzt alle Parteien,
sie verdienen es nicht besser." Da in den höchsten Regionen anderer Wind zu wehen
beginnt, springt die Katze rasch svieder auf die alten Füße. Er hebt seinen versun-
[Spaltenumbruch] kenen Nibelungenhort, die Jdeale der Jugend, wieder aus den Wellen, und über-
reicht dem Könige Walrams Reformschrift, die er ihm gestohlen, jetzt als sein
eigenes Werk. Schon wird er als Minister begrüßt, da werden seine Schandthaten
offenbar. Vor der Verhaftung flüchtend, will er den großen Sprung ins Nichts
wagen, bedeckt sich aber nur mit unauslöschlicher Schande. Wir scheiden dennoch
ungern von dem alten Sünder, weil seine Ruchlosigkeiten mit nicht weniger Witz als
Cynismus auftreten. Nichts kann belustigender sein als wenn er der Kloster-Oberin
den Tert liest. Durch diese wird auch seiner adelsstolzen Frau, der frömmelnden
Hofräthin, der Staar gestochen. Denn als sie in Armuth und Schande um Auf-
nahme in das Kloster bittet, welches sie so sehr bereichert hat, schließt ihr die Oberin
die Thüre vor der Nase zu.

Walram aber war von tiefer Schwermuth, von Lebensüberdruß und Ekel
an den Menschen überfallen. Als er nach weiten Reisen zum erstenmal in die
Hauptstadt zurückgekehrt war, hatte er vermeint: eine Welt werde er umgestalten,
eine Welt finden die auf ihn warte: eine Hoffnung nach der anderen wurde ihm
vereitelt, er erreichte nichts und verlor alles. Da, in seinem tiefsten Elend, gab ihm
der Himmel Ersatz, er fand ein treues Herz, ein Frauenherz -- das war seine ganze
Ausbeute von jener Menschheit die ihn aufgegeben. Er hatte sich in einen ein-
samen Garten der Vorstadt zurückgezogen um sein verlornes Werk noch einmal zu
schreben: da lernte er daß des alten Sondermann Tochter, ein edles und schönes
Mädchen, ihn liebe, und wieder neu webte Maienglanz und Rosenduft ihm die
ganze Schöpfung. Noch einen zweiten Trost fand er auf seiner Flucht vor der
Welt, nämlich durch Theilnahme am Geschick der Verstoßenen, die sich unter Trüm-
mern ein Leben voll Frieden, voll Reinheit und Güte auferbaut haben.

Tiefsinnig stellt der Dichter dem Flüchtling eine ganze Gesellschaft von
Männern gegenüber die ohne moralische Schuld aus dem bürgerlichen Leben her-
ausgedrängt, ins Dunkel hinabgestoßen, nutzlos gemacht waren für die menschliche
Gesellschaft. Es ist so der Lauf der Welt daß die Wellen der Gesellschaft fort-
während Trümmer und Todte an den Strand spülen wie das wirkliche Meer.
Solche Gescheiterte und Gestrandete gibt es in jeder größeren Stadt, in jedem
Staat, und vielleicht in den kleinen Staaten am meisten, denn ein Großstaat ge-
währt leichter die Möglichkeit wieder emporzukommen. Da ist ein würdiger Super-
intendent, ein edler Rath und früherer Minister, ein alter liebenswürdiger Major,
ein genialer Ingenieur, ein früher berühmter Maler u. s. w. Sie haben sich zu-
sammengefunden zu einer freien Gesellschaft, in welcher absolute Gleichheit und
geistige Freiheit herrscht. Wer für sie reif ist, findet sich auch von selbst zu ihnen.
In demselben Saal aber hält ihren Spieltisch und ihre Bankets eine andere Gesell-
schaft, die gleichsam das verjüngte Spiegelbild der ersteren. Auch ihre Mitglieder
sind in der Gesellschaft gestrandet, ihr Ruf ist befleckt, aber sie haben die Welt
unter ihre Füße bekommen und lachen sie aus im Wohlleben. Es ist der männliche
Demimonde, gesucht und gemieden zu gleicher Zeit. Der Hofrath v. Marquard-
stein, jener alte Fuchs von Buchhändler, der Redacteur eines ultramontanen
Schimpfblattes, verschwenderische Cavaliere, geheime politische Agenten bilden
diese zweite Gesellschaft, und es gibt seltsame Händel.

Graf Walram findet hier seine innere Zucht und Heilung. Er sieht ein daß
er Unglück hat, und Unglück stiftet wo er sich einmischt, obgleich er das Beste im
Sinne hat. Er slieht "die Stadt und ihre Dämpfe," und zieht auf seine Güter,
wo Sabine ihn glücklich macht. Ihr Bruder Friedel wird sein Nachbar und erfolg-
reicher Schriftsteller: in ihm hatte Walram, als er ihn zu seinem Secretär machte,
ein schmutzig Entlein aus dem Elend errettet und zufällig einen jungen Schwan
erwischt. Die eine edle Hälfte der Gestrandeten aber zieht zu ihm ins Schloß und
bildet eine Art idyllischer Akademie in Genuß und Arbeit. Während die glücklich
vom Menschenhaß Genesenen attische Tage feiern, klatschen Adel und Geistlichkeit:
Graf Walram habe sich den Freimaurern ergeben, hege und pflege Atheisten und
Projectenmacher, halte zigeunerhafte Orgien mit seiner Bande, und habe sogar
den berüchtigten Superintendenten wieder angestellt, der sich die Keckheit wollte
beikommen lassen die christlichen Confessionen in eine Kirche zu verschmelzen. Der
König aber kommt öfter herüber, um an den akademischen Gesprächen und Spielen
theil- und in zweifelhaften Fällen Walrams Nath und Hülfe in Anspruch zu nehmen.
Vergebens hat er ihn ersucht Minister zu werden. Walram will nicht eines deutschen
Kleinstaates gezwungener Todtengräber werden, und fühlt daß ihm jede unbefangene
Begeisterung abhanden gekommen. Er antwortet dem drängenden Fürsten:
"Majestät, ich bin alt geworden, seit ich mit Schrecken gelernt habe daß es keine
reinen sogenannten Ideale gibt, sondern nur Fragen des Interesses. Einstweilen
aber dominiren materielle Interessen, materielle Parte ifragen. Große Ideen werden
nur von denen unterstützt denen sie nützen; man macht ein Partei-Interesse daraus,
aber zum Lohn ihrer Anerkennung verlangt die Partei daß ich auch ihre übrigen
Interessen durchführen helfe. Keine Partei in der Welt erlaubt mir der Gegenpartei
da Recht zu geben wo sie gesunden Menschenverstand zeigt, denn mit solcher An-
erkennung würde sie ihre eigenen Interessen gefährden, würde sie inconsequent sein.
Den Kühnen der sich über die Parteien stellen, der sich einbilden könnte er allein
vermöge dem common sense unter allen Umständen zu folgen, wird man als Träumer
und Idealisten verlachen. Man wird eine Weile zusehen wie er gegen den Strom
schwimmt, und dann geht man wieder an seine eigene Arbeit. Mag er schwimmen.
Ich bin zu alt und müde dazu." Würde Graf Walram noch heutzutage auch denen
welche für eine macht- und weihevolle Verjüngung des deutschen Volkes in Reich
und Kirche kämpfen, bloß engherzige Interessenpolitik vorwerfen?

Wir sind hier dem geistvollen Roman in seinen Hauptzügen gefolgt: jedoch
nur hindeuten können wir auf die Reihenfolge drastischer Scenen, in denen er sich
abspielt. Eine wahre Fülle von komischer Kraft wie von Ursprünglichkeit zeichnet
den Dichter aus.

Manchmal freilich, und nicht gerade selten, könnten die Lichter weniger grell
aufgesetzt und die Absätze mehr zusammengedrängt sein. Die ganze verwickelte
Geschichte aber von des Helden Mutter und ihren Verwandten hat mit dem eigent-
lichen Kern des Romans gar zu wenig zu thun. Auch ließen sich Fremdwörter, wie
minaudiren, desavouiren, Embonpoint und dergleichen, wohl von einem Dichter
vermeiden der unsere edle schöne Sprache so in der Gewalt hat, daß sie ihm mit
Leichtigkeit das Höchste wie das Feinste ausdrückt.



[Spaltenumbruch] lich ſchmecken läßt und ihre kirchlichen Angelegenheiten mit Geſchäftsklugheit be-
treibt — eine europäiſche Berühmtheit unter den Flüchtlingen im faltenreichen
ſchwarzen Radmantel und ſeine ungariſchen und polniſchen Genoſſen im National-
coſtüm — ein fremder verjagter Fürſt mit ſeinem Begleiter — ein durchtriebener
Fuchs von Buchhändler, Abgeordnete, Publiciſten, Beamte, Prediger, Künſtler.

Jede Perſönlichkeit iſt wie aus dem Leben gegriffen. Man glaubt: man
ſei ihr nicht bloß begegnet, ſondern habe ſie auch geſprochen, entweder in München,
oder in Wien, oder in Stuttgart. Gleichwohl ſind die Charaktere, wie ſich der
Verfaſſer kaum zu verwahren brauchte, in keinerlei Sinn Porträtſtudien, ſie wol-
len nichts als freie Typen für ganze Menſchenclaſſen ſein. Die Satire des Buches
hat nur mit ſelbſtgeſchaffenen Geſtalten, mit erdichteten Vorfällen und Zuſtänden
zu thun, nichts mit der wirklichen Welt irgendeines Landes.

Graf Walram haßt gründlich jenes Weltbürgerthum, jene neue Zigeuner-
religion welche fremdes Geſindel auf Koſten der Deutſchen füttert. „Es iſt Mode,
es iſt Manie geworden mit dieſen intereſſanten Polen, Tſchechen, Magyaren, Ita-
lienern zu cokettiren, Mode geworden die deutſchen Intereſſen ihnen preiszugeben,
Mode geworden das nicht ſehen zu wollen daß man für Zwecke ausgebeutet wird
die undeutſch, barbariſch und abſolutiſtiſch im ſchlimmſten Sinne ſind.“ Das paßt
ja auf Wien wie aufs Haar. Hoffentlich iſt man auch dort ſeit den Fundamen-
talartikeln der Tſchechen gründlich bekehrt, ſonſt werden die Magyaren ſchon weiter
dafür ſorgen. Die neue Roland aber beherbergt unter dem Namen der Völker-
brüderſchaft und Völkerfreiheit jene intereſſanten Fremdlinge, und gerade iſt ein
öffentliches Feſt zu Ehren jener europäiſchen Flüchtlingsberühmtheit auf ſeiner
Höhe, als Walram vortritt und den abgefeimten Betrüger als einen deutſchen
Schauſpieler entlarvt.

Graf Walram aber haßt auch alles Parteiweſen, alles Parteigetriebe mit
ſeiner ſogenannten Diſciplin und Solidarität. „Wozu haben,“ fragt er, „die Bürger
und Bauern ihre Abgeordneten gewählt wenn ſie bloß wieder Heerde ſein ſollen
die einem beliebigen Leithammel folgen, und blind ins Feuer gehen ſoll, das ihr
und ihrer Wähler Wohl vernichten muß?“ Ob letzteres wirklich ſo arg, wäre doch
erſt in jedem einzelnen Falle zu unterſuchen. Wie aber ſoll denn etwas durchgeſetzt
werden wenn man ſich nicht zuſammenſchließt? Und wie ſoll eine Partei geſchloſ-
ſen handeln wenn ſie keine Zucht und Schule hat? Graf Walram aber ſchlägt
ohne weiteres ſeiner Partei ins Geſicht als es ſich in der Kammer um Aufhebung
der deutſchen Sprache in den Gerichtsverhandlungen und Schulen der nichtdeut-
ſchen Provinzen handelt. Seit dieſem Tag bleiben die Beſuche ſeiner Partei-
genoſſen aus, und Adel und Geiſtlichkeit geben einen Korb voll Viſitenkarten bei
ihm ab. Am wichtigſten Entſcheidungstag, als es ſich um Hebung des geſammten
Unterrichtsweſens handelt, als es nur eines einzigen kräftigen Schlages bedarf
um die noch ſchwankende Mittelpartei herüberzuziehen, da iſt der Abg. Graf Wal-
ram verreist, weil er am Sterbetage ſeiner Mutter an ihrem Grabe ſein ſoll.

Schon aber hat die Rache begonnen. Walram hat, weil er an jenem Tage
nicht bei ſeiner Partei iſt, wenigſtens eine Rede für den Antrag geſchrieben die in
der Kammer von einem Freunde ſoll vorgetragen werden. Aus dem Couvert hat
der ſchlaue Hofrath Marquardſtein des Grafen Rede wegſtibitzt, und dafür ſein
eigenes Geiſteskind hineingethan. Des Grafen Freund beginnt, wird irre, will
aufhören, die Rechte zwingt zum Vortrag des ganzen Schriftſtücks. Es iſt eine
ſatiriſche Philippika gegen die Aufklärungsſucht der liberalen Partei mit ſtarken
Seitenhieben auf Halbwiſſen, Treibhauscultur, Ueberfütterung des Volkes mit
brodloſer Schöngeiſterei, auf das Uebertünchen ſeines naturwüchſigen Weſens mit
fremdem Kalk, der doch wieder herabfallen werde ſobald er trocken geworden. Der
Antrag, von welchem der freiſinnige Fürſt alles gehofft hat, fällt, und die ganze
liberale Welt iſt wüthend über den Grafen. Seiner Erklärung wird kaum geglaubt.
Durch den entlarvten Schauſpieler bringt man ſein Porträt mit Joppe, Stiefeln
und Bernhardinerhund, wie der Graf leibt und lebt, auf die Bühne in Kotzebue’s
„Landjunker in der Reſidenz.“ Ein ungeheurer Skandal entſteht, der Fluch des
Lächerlichen wirft ſich centnerſchwer auf den Grafen. Als er in der Kammer ſich
andern Tags erhebt, überſchüttet ihn die Gallerie mit Gelächter, er kommt nicht
mehr zu Wort und Anſehen. Ultramontane wie radicale Blätter zerfleiſchen ſeine
Ehre: er will nicht antworten, weil er erklärt die Stelle der einſtigen Hofnarren
nehmen jetzt die Redacteure von Witzblättern ein. Er will auch weder gegen das
Theater vorgehen noch jemanden fordern. Die öffentliche Meinung verurtheilt ihn
ſchonungslos, ſeine eigene Partei läßt ihn fallen. Denn iſt die Löwenhaut einem
politiſchen Helden einmal von den Schultern abgeriſſen, hat er gar ſchweren Stand.
Walrams einzige Hoffnung iſt eine Flugſchrift, in welcher er das Geſammte ſeiner
ſtaatsheilenden Jdeen mit hinreißender Friſche vorgetragen. Als die Schrift ſoll
ausgegeben werden, läßt man die ganze Auflage ſammt dem Manuſcript ver-
brennen, und als er wenigſtens die geretteten Aushängebogen dem Fürſten brin-
gen ſoll, hat auch dieſe der Hofrath ihm wegſtibitzt. „Er iſt ein Abtrünniger, ein
Renegat ſeines Standes, ein Renegat ſeiner einſtigen Jdeale“ — ſo erſchallt rings
und allgemein das Verdammungsurtheil, und über dem Geſtürzten reichen ſich die
Familien Kayſerling und Marquardſtein die Hände.

Nun iſt das Luſtige daß ſeine Feinde und Verderber echte Renegaten werden.
Der dicke Häuptling der Radicalen übt ein ſchauriges Franzöſiſch ein, und gibt ſich
zu den lächerlichſten und erniedrigendſten Handlungen her, um eine Conſulats-
uniform von dem kleinen vertriebenen Fürſten zu gewinnen. Während er ſich bei
Tage die redlichſte Mühe gibt „der hohen Sache der Loyalität und Legitimität zu
dienen,“ kommen ihm im Traume die demokratiſchen Anwandlungen wieder. Er
macht ſich zuletzt ſo gemein und lächerlich, daß ſeine Frau, die ſtolze ſchöne Con-
ſtanze, mit jenem Fürſten durchgeht, deſſen Gemahlin wird und nun in Paris eine
andere politiſche Rolle ſpielt; ſie will eine Coalition im Sinne der Legitimität or-
ganiſiren. Sie findet ein plötzliches Ende, und zwar, wie man munkelt, durch die
von ihr verrathene Partei. Der Hofrath v. Marquardſtein aber, der größte eyniſche
Halunke auf Erden, beſolgt ſeine alte Regel: „Ein blöder Hund wird ſelten fett,
und wer an eine volle Krippe gebunden iſt und nicht ſatt wird, der capirt die zweite
Regel nie: Partei iſt Jntereſſe, habt ihr Witz dazu, ſo brandſchatzt alle Parteien,
ſie verdienen es nicht beſſer.“ Da in den höchſten Regionen anderer Wind zu wehen
beginnt, ſpringt die Katze raſch ſvieder auf die alten Füße. Er hebt ſeinen verſun-
[Spaltenumbruch] kenen Nibelungenhort, die Jdeale der Jugend, wieder aus den Wellen, und über-
reicht dem Könige Walrams Reformſchrift, die er ihm geſtohlen, jetzt als ſein
eigenes Werk. Schon wird er als Miniſter begrüßt, da werden ſeine Schandthaten
offenbar. Vor der Verhaftung flüchtend, will er den großen Sprung ins Nichts
wagen, bedeckt ſich aber nur mit unauslöſchlicher Schande. Wir ſcheiden dennoch
ungern von dem alten Sünder, weil ſeine Ruchloſigkeiten mit nicht weniger Witz als
Cynismus auftreten. Nichts kann beluſtigender ſein als wenn er der Kloſter-Oberin
den Tert liest. Durch dieſe wird auch ſeiner adelsſtolzen Frau, der frömmelnden
Hofräthin, der Staar geſtochen. Denn als ſie in Armuth und Schande um Auf-
nahme in das Kloſter bittet, welches ſie ſo ſehr bereichert hat, ſchließt ihr die Oberin
die Thüre vor der Naſe zu.

Walram aber war von tiefer Schwermuth, von Lebensüberdruß und Ekel
an den Menſchen überfallen. Als er nach weiten Reiſen zum erſtenmal in die
Hauptſtadt zurückgekehrt war, hatte er vermeint: eine Welt werde er umgeſtalten,
eine Welt finden die auf ihn warte: eine Hoffnung nach der anderen wurde ihm
vereitelt, er erreichte nichts und verlor alles. Da, in ſeinem tiefſten Elend, gab ihm
der Himmel Erſatz, er fand ein treues Herz, ein Frauenherz — das war ſeine ganze
Ausbeute von jener Menſchheit die ihn aufgegeben. Er hatte ſich in einen ein-
ſamen Garten der Vorſtadt zurückgezogen um ſein verlornes Werk noch einmal zu
ſchreben: da lernte er daß des alten Sondermann Tochter, ein edles und ſchönes
Mädchen, ihn liebe, und wieder neu webte Maienglanz und Roſenduft ihm die
ganze Schöpfung. Noch einen zweiten Troſt fand er auf ſeiner Flucht vor der
Welt, nämlich durch Theilnahme am Geſchick der Verſtoßenen, die ſich unter Trüm-
mern ein Leben voll Frieden, voll Reinheit und Güte auferbaut haben.

Tiefſinnig ſtellt der Dichter dem Flüchtling eine ganze Geſellſchaft von
Männern gegenüber die ohne moraliſche Schuld aus dem bürgerlichen Leben her-
ausgedrängt, ins Dunkel hinabgeſtoßen, nutzlos gemacht waren für die menſchliche
Geſellſchaft. Es iſt ſo der Lauf der Welt daß die Wellen der Geſellſchaft fort-
während Trümmer und Todte an den Strand ſpülen wie das wirkliche Meer.
Solche Geſcheiterte und Geſtrandete gibt es in jeder größeren Stadt, in jedem
Staat, und vielleicht in den kleinen Staaten am meiſten, denn ein Großſtaat ge-
währt leichter die Möglichkeit wieder emporzukommen. Da iſt ein würdiger Super-
intendent, ein edler Rath und früherer Miniſter, ein alter liebenswürdiger Major,
ein genialer Ingenieur, ein früher berühmter Maler u. ſ. w. Sie haben ſich zu-
ſammengefunden zu einer freien Geſellſchaft, in welcher abſolute Gleichheit und
geiſtige Freiheit herrſcht. Wer für ſie reif iſt, findet ſich auch von ſelbſt zu ihnen.
In demſelben Saal aber hält ihren Spieltiſch und ihre Bankets eine andere Geſell-
ſchaft, die gleichſam das verjüngte Spiegelbild der erſteren. Auch ihre Mitglieder
ſind in der Geſellſchaft geſtrandet, ihr Ruf iſt befleckt, aber ſie haben die Welt
unter ihre Füße bekommen und lachen ſie aus im Wohlleben. Es iſt der männliche
Demimonde, geſucht und gemieden zu gleicher Zeit. Der Hofrath v. Marquard-
ſtein, jener alte Fuchs von Buchhändler, der Redacteur eines ultramontanen
Schimpfblattes, verſchwenderiſche Cavaliere, geheime politiſche Agenten bilden
dieſe zweite Geſellſchaft, und es gibt ſeltſame Händel.

Graf Walram findet hier ſeine innere Zucht und Heilung. Er ſieht ein daß
er Unglück hat, und Unglück ſtiftet wo er ſich einmiſcht, obgleich er das Beſte im
Sinne hat. Er ſlieht „die Stadt und ihre Dämpfe,“ und zieht auf ſeine Güter,
wo Sabine ihn glücklich macht. Ihr Bruder Friedel wird ſein Nachbar und erfolg-
reicher Schriftſteller: in ihm hatte Walram, als er ihn zu ſeinem Secretär machte,
ein ſchmutzig Entlein aus dem Elend errettet und zufällig einen jungen Schwan
erwiſcht. Die eine edle Hälfte der Geſtrandeten aber zieht zu ihm ins Schloß und
bildet eine Art idylliſcher Akademie in Genuß und Arbeit. Während die glücklich
vom Menſchenhaß Geneſenen attiſche Tage feiern, klatſchen Adel und Geiſtlichkeit:
Graf Walram habe ſich den Freimaurern ergeben, hege und pflege Atheiſten und
Projectenmacher, halte zigeunerhafte Orgien mit ſeiner Bande, und habe ſogar
den berüchtigten Superintendenten wieder angeſtellt, der ſich die Keckheit wollte
beikommen laſſen die chriſtlichen Confeſſionen in eine Kirche zu verſchmelzen. Der
König aber kommt öfter herüber, um an den akademiſchen Geſprächen und Spielen
theil- und in zweifelhaften Fällen Walrams Nath und Hülfe in Anſpruch zu nehmen.
Vergebens hat er ihn erſucht Miniſter zu werden. Walram will nicht eines deutſchen
Kleinſtaates gezwungener Todtengräber werden, und fühlt daß ihm jede unbefangene
Begeiſterung abhanden gekommen. Er antwortet dem drängenden Fürſten:
„Majeſtät, ich bin alt geworden, ſeit ich mit Schrecken gelernt habe daß es keine
reinen ſogenannten Ideale gibt, ſondern nur Fragen des Intereſſes. Einſtweilen
aber dominiren materielle Intereſſen, materielle Parte ifragen. Große Ideen werden
nur von denen unterſtützt denen ſie nützen; man macht ein Partei-Intereſſe daraus,
aber zum Lohn ihrer Anerkennung verlangt die Partei daß ich auch ihre übrigen
Intereſſen durchführen helfe. Keine Partei in der Welt erlaubt mir der Gegenpartei
da Recht zu geben wo ſie geſunden Menſchenverſtand zeigt, denn mit ſolcher An-
erkennung würde ſie ihre eigenen Intereſſen gefährden, würde ſie inconſequent ſein.
Den Kühnen der ſich über die Parteien ſtellen, der ſich einbilden könnte er allein
vermöge dem common sense unter allen Umſtänden zu folgen, wird man als Träumer
und Idealiſten verlachen. Man wird eine Weile zuſehen wie er gegen den Strom
ſchwimmt, und dann geht man wieder an ſeine eigene Arbeit. Mag er ſchwimmen.
Ich bin zu alt und müde dazu.“ Würde Graf Walram noch heutzutage auch denen
welche für eine macht- und weihevolle Verjüngung des deutſchen Volkes in Reich
und Kirche kämpfen, bloß engherzige Intereſſenpolitik vorwerfen?

Wir ſind hier dem geiſtvollen Roman in ſeinen Hauptzügen gefolgt: jedoch
nur hindeuten können wir auf die Reihenfolge draſtiſcher Scenen, in denen er ſich
abſpielt. Eine wahre Fülle von komiſcher Kraft wie von Urſprünglichkeit zeichnet
den Dichter aus.

Manchmal freilich, und nicht gerade ſelten, könnten die Lichter weniger grell
aufgeſetzt und die Abſätze mehr zuſammengedrängt ſein. Die ganze verwickelte
Geſchichte aber von des Helden Mutter und ihren Verwandten hat mit dem eigent-
lichen Kern des Romans gar zu wenig zu thun. Auch ließen ſich Fremdwörter, wie
minaudiren, desavouiren, Embonpoint und dergleichen, wohl von einem Dichter
vermeiden der unſere edle ſchöne Sprache ſo in der Gewalt hat, daß ſie ihm mit
Leichtigkeit das Höchſte wie das Feinſte ausdrückt.



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&#x201E;Landjunker in der Re&#x017F;idenz.&#x201C; Ein ungeheurer Skandal ent&#x017F;teht, der Fluch des<lb/>
Lächerlichen wirft &#x017F;ich centner&#x017F;chwer auf den Grafen. Als er in der Kammer &#x017F;ich<lb/>
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Walrams einzige Hoffnung i&#x017F;t eine Flug&#x017F;chrift, in welcher er das Ge&#x017F;ammte &#x017F;einer<lb/>
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Der dicke Häuptling der Radicalen übt ein &#x017F;chauriges Franzö&#x017F;i&#x017F;ch ein, und gibt &#x017F;ich<lb/>
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&#x017F;tanze, mit jenem Für&#x017F;ten durchgeht, de&#x017F;&#x017F;en Gemahlin wird und nun in Paris eine<lb/>
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Halunke auf Erden, be&#x017F;olgt &#x017F;eine alte Regel: &#x201E;Ein blöder Hund wird &#x017F;elten fett,<lb/>
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&#x017F;ie verdienen es nicht be&#x017F;&#x017F;er.&#x201C; Da in den höch&#x017F;ten Regionen anderer Wind zu wehen<lb/>
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Hofräthin, der Staar ge&#x017F;tochen. Denn als &#x017F;ie in Armuth und Schande um Auf-<lb/>
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Ausbeute von jener Men&#x017F;chheit die ihn aufgegeben. Er hatte &#x017F;ich in einen ein-<lb/>
&#x017F;amen Garten der Vor&#x017F;tadt zurückgezogen um &#x017F;ein verlornes Werk noch einmal zu<lb/>
&#x017F;chreben: da lernte er daß des alten Sondermann Tochter, ein edles und &#x017F;chönes<lb/>
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Schimpfblattes, ver&#x017F;chwenderi&#x017F;che Cavaliere, geheime politi&#x017F;che Agenten bilden<lb/>
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Sinne hat. Er &#x017F;lieht &#x201E;die Stadt und ihre Dämpfe,&#x201C; und zieht auf &#x017F;eine Güter,<lb/>
wo Sabine ihn glücklich macht. Ihr Bruder Friedel wird &#x017F;ein Nachbar und erfolg-<lb/>
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Vergebens hat er ihn er&#x017F;ucht Mini&#x017F;ter zu werden. Walram will nicht eines deut&#x017F;chen<lb/>
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Ich bin zu alt und müde dazu.&#x201C; Würde Graf Walram noch heutzutage auch denen<lb/>
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[202/0010] lich ſchmecken läßt und ihre kirchlichen Angelegenheiten mit Geſchäftsklugheit be- treibt — eine europäiſche Berühmtheit unter den Flüchtlingen im faltenreichen ſchwarzen Radmantel und ſeine ungariſchen und polniſchen Genoſſen im National- coſtüm — ein fremder verjagter Fürſt mit ſeinem Begleiter — ein durchtriebener Fuchs von Buchhändler, Abgeordnete, Publiciſten, Beamte, Prediger, Künſtler. Jede Perſönlichkeit iſt wie aus dem Leben gegriffen. Man glaubt: man ſei ihr nicht bloß begegnet, ſondern habe ſie auch geſprochen, entweder in München, oder in Wien, oder in Stuttgart. Gleichwohl ſind die Charaktere, wie ſich der Verfaſſer kaum zu verwahren brauchte, in keinerlei Sinn Porträtſtudien, ſie wol- len nichts als freie Typen für ganze Menſchenclaſſen ſein. Die Satire des Buches hat nur mit ſelbſtgeſchaffenen Geſtalten, mit erdichteten Vorfällen und Zuſtänden zu thun, nichts mit der wirklichen Welt irgendeines Landes. Graf Walram haßt gründlich jenes Weltbürgerthum, jene neue Zigeuner- religion welche fremdes Geſindel auf Koſten der Deutſchen füttert. „Es iſt Mode, es iſt Manie geworden mit dieſen intereſſanten Polen, Tſchechen, Magyaren, Ita- lienern zu cokettiren, Mode geworden die deutſchen Intereſſen ihnen preiszugeben, Mode geworden das nicht ſehen zu wollen daß man für Zwecke ausgebeutet wird die undeutſch, barbariſch und abſolutiſtiſch im ſchlimmſten Sinne ſind.“ Das paßt ja auf Wien wie aufs Haar. Hoffentlich iſt man auch dort ſeit den Fundamen- talartikeln der Tſchechen gründlich bekehrt, ſonſt werden die Magyaren ſchon weiter dafür ſorgen. Die neue Roland aber beherbergt unter dem Namen der Völker- brüderſchaft und Völkerfreiheit jene intereſſanten Fremdlinge, und gerade iſt ein öffentliches Feſt zu Ehren jener europäiſchen Flüchtlingsberühmtheit auf ſeiner Höhe, als Walram vortritt und den abgefeimten Betrüger als einen deutſchen Schauſpieler entlarvt. Graf Walram aber haßt auch alles Parteiweſen, alles Parteigetriebe mit ſeiner ſogenannten Diſciplin und Solidarität. „Wozu haben,“ fragt er, „die Bürger und Bauern ihre Abgeordneten gewählt wenn ſie bloß wieder Heerde ſein ſollen die einem beliebigen Leithammel folgen, und blind ins Feuer gehen ſoll, das ihr und ihrer Wähler Wohl vernichten muß?“ Ob letzteres wirklich ſo arg, wäre doch erſt in jedem einzelnen Falle zu unterſuchen. Wie aber ſoll denn etwas durchgeſetzt werden wenn man ſich nicht zuſammenſchließt? Und wie ſoll eine Partei geſchloſ- ſen handeln wenn ſie keine Zucht und Schule hat? Graf Walram aber ſchlägt ohne weiteres ſeiner Partei ins Geſicht als es ſich in der Kammer um Aufhebung der deutſchen Sprache in den Gerichtsverhandlungen und Schulen der nichtdeut- ſchen Provinzen handelt. Seit dieſem Tag bleiben die Beſuche ſeiner Partei- genoſſen aus, und Adel und Geiſtlichkeit geben einen Korb voll Viſitenkarten bei ihm ab. Am wichtigſten Entſcheidungstag, als es ſich um Hebung des geſammten Unterrichtsweſens handelt, als es nur eines einzigen kräftigen Schlages bedarf um die noch ſchwankende Mittelpartei herüberzuziehen, da iſt der Abg. Graf Wal- ram verreist, weil er am Sterbetage ſeiner Mutter an ihrem Grabe ſein ſoll. Schon aber hat die Rache begonnen. Walram hat, weil er an jenem Tage nicht bei ſeiner Partei iſt, wenigſtens eine Rede für den Antrag geſchrieben die in der Kammer von einem Freunde ſoll vorgetragen werden. Aus dem Couvert hat der ſchlaue Hofrath Marquardſtein des Grafen Rede wegſtibitzt, und dafür ſein eigenes Geiſteskind hineingethan. Des Grafen Freund beginnt, wird irre, will aufhören, die Rechte zwingt zum Vortrag des ganzen Schriftſtücks. Es iſt eine ſatiriſche Philippika gegen die Aufklärungsſucht der liberalen Partei mit ſtarken Seitenhieben auf Halbwiſſen, Treibhauscultur, Ueberfütterung des Volkes mit brodloſer Schöngeiſterei, auf das Uebertünchen ſeines naturwüchſigen Weſens mit fremdem Kalk, der doch wieder herabfallen werde ſobald er trocken geworden. Der Antrag, von welchem der freiſinnige Fürſt alles gehofft hat, fällt, und die ganze liberale Welt iſt wüthend über den Grafen. Seiner Erklärung wird kaum geglaubt. Durch den entlarvten Schauſpieler bringt man ſein Porträt mit Joppe, Stiefeln und Bernhardinerhund, wie der Graf leibt und lebt, auf die Bühne in Kotzebue’s „Landjunker in der Reſidenz.“ Ein ungeheurer Skandal entſteht, der Fluch des Lächerlichen wirft ſich centnerſchwer auf den Grafen. Als er in der Kammer ſich andern Tags erhebt, überſchüttet ihn die Gallerie mit Gelächter, er kommt nicht mehr zu Wort und Anſehen. Ultramontane wie radicale Blätter zerfleiſchen ſeine Ehre: er will nicht antworten, weil er erklärt die Stelle der einſtigen Hofnarren nehmen jetzt die Redacteure von Witzblättern ein. Er will auch weder gegen das Theater vorgehen noch jemanden fordern. Die öffentliche Meinung verurtheilt ihn ſchonungslos, ſeine eigene Partei läßt ihn fallen. Denn iſt die Löwenhaut einem politiſchen Helden einmal von den Schultern abgeriſſen, hat er gar ſchweren Stand. Walrams einzige Hoffnung iſt eine Flugſchrift, in welcher er das Geſammte ſeiner ſtaatsheilenden Jdeen mit hinreißender Friſche vorgetragen. Als die Schrift ſoll ausgegeben werden, läßt man die ganze Auflage ſammt dem Manuſcript ver- brennen, und als er wenigſtens die geretteten Aushängebogen dem Fürſten brin- gen ſoll, hat auch dieſe der Hofrath ihm wegſtibitzt. „Er iſt ein Abtrünniger, ein Renegat ſeines Standes, ein Renegat ſeiner einſtigen Jdeale“ — ſo erſchallt rings und allgemein das Verdammungsurtheil, und über dem Geſtürzten reichen ſich die Familien Kayſerling und Marquardſtein die Hände. Nun iſt das Luſtige daß ſeine Feinde und Verderber echte Renegaten werden. Der dicke Häuptling der Radicalen übt ein ſchauriges Franzöſiſch ein, und gibt ſich zu den lächerlichſten und erniedrigendſten Handlungen her, um eine Conſulats- uniform von dem kleinen vertriebenen Fürſten zu gewinnen. Während er ſich bei Tage die redlichſte Mühe gibt „der hohen Sache der Loyalität und Legitimität zu dienen,“ kommen ihm im Traume die demokratiſchen Anwandlungen wieder. Er macht ſich zuletzt ſo gemein und lächerlich, daß ſeine Frau, die ſtolze ſchöne Con- ſtanze, mit jenem Fürſten durchgeht, deſſen Gemahlin wird und nun in Paris eine andere politiſche Rolle ſpielt; ſie will eine Coalition im Sinne der Legitimität or- ganiſiren. Sie findet ein plötzliches Ende, und zwar, wie man munkelt, durch die von ihr verrathene Partei. Der Hofrath v. Marquardſtein aber, der größte eyniſche Halunke auf Erden, beſolgt ſeine alte Regel: „Ein blöder Hund wird ſelten fett, und wer an eine volle Krippe gebunden iſt und nicht ſatt wird, der capirt die zweite Regel nie: Partei iſt Jntereſſe, habt ihr Witz dazu, ſo brandſchatzt alle Parteien, ſie verdienen es nicht beſſer.“ Da in den höchſten Regionen anderer Wind zu wehen beginnt, ſpringt die Katze raſch ſvieder auf die alten Füße. Er hebt ſeinen verſun- kenen Nibelungenhort, die Jdeale der Jugend, wieder aus den Wellen, und über- reicht dem Könige Walrams Reformſchrift, die er ihm geſtohlen, jetzt als ſein eigenes Werk. Schon wird er als Miniſter begrüßt, da werden ſeine Schandthaten offenbar. Vor der Verhaftung flüchtend, will er den großen Sprung ins Nichts wagen, bedeckt ſich aber nur mit unauslöſchlicher Schande. Wir ſcheiden dennoch ungern von dem alten Sünder, weil ſeine Ruchloſigkeiten mit nicht weniger Witz als Cynismus auftreten. Nichts kann beluſtigender ſein als wenn er der Kloſter-Oberin den Tert liest. Durch dieſe wird auch ſeiner adelsſtolzen Frau, der frömmelnden Hofräthin, der Staar geſtochen. Denn als ſie in Armuth und Schande um Auf- nahme in das Kloſter bittet, welches ſie ſo ſehr bereichert hat, ſchließt ihr die Oberin die Thüre vor der Naſe zu. Walram aber war von tiefer Schwermuth, von Lebensüberdruß und Ekel an den Menſchen überfallen. Als er nach weiten Reiſen zum erſtenmal in die Hauptſtadt zurückgekehrt war, hatte er vermeint: eine Welt werde er umgeſtalten, eine Welt finden die auf ihn warte: eine Hoffnung nach der anderen wurde ihm vereitelt, er erreichte nichts und verlor alles. Da, in ſeinem tiefſten Elend, gab ihm der Himmel Erſatz, er fand ein treues Herz, ein Frauenherz — das war ſeine ganze Ausbeute von jener Menſchheit die ihn aufgegeben. Er hatte ſich in einen ein- ſamen Garten der Vorſtadt zurückgezogen um ſein verlornes Werk noch einmal zu ſchreben: da lernte er daß des alten Sondermann Tochter, ein edles und ſchönes Mädchen, ihn liebe, und wieder neu webte Maienglanz und Roſenduft ihm die ganze Schöpfung. Noch einen zweiten Troſt fand er auf ſeiner Flucht vor der Welt, nämlich durch Theilnahme am Geſchick der Verſtoßenen, die ſich unter Trüm- mern ein Leben voll Frieden, voll Reinheit und Güte auferbaut haben. Tiefſinnig ſtellt der Dichter dem Flüchtling eine ganze Geſellſchaft von Männern gegenüber die ohne moraliſche Schuld aus dem bürgerlichen Leben her- ausgedrängt, ins Dunkel hinabgeſtoßen, nutzlos gemacht waren für die menſchliche Geſellſchaft. Es iſt ſo der Lauf der Welt daß die Wellen der Geſellſchaft fort- während Trümmer und Todte an den Strand ſpülen wie das wirkliche Meer. Solche Geſcheiterte und Geſtrandete gibt es in jeder größeren Stadt, in jedem Staat, und vielleicht in den kleinen Staaten am meiſten, denn ein Großſtaat ge- währt leichter die Möglichkeit wieder emporzukommen. Da iſt ein würdiger Super- intendent, ein edler Rath und früherer Miniſter, ein alter liebenswürdiger Major, ein genialer Ingenieur, ein früher berühmter Maler u. ſ. w. Sie haben ſich zu- ſammengefunden zu einer freien Geſellſchaft, in welcher abſolute Gleichheit und geiſtige Freiheit herrſcht. Wer für ſie reif iſt, findet ſich auch von ſelbſt zu ihnen. In demſelben Saal aber hält ihren Spieltiſch und ihre Bankets eine andere Geſell- ſchaft, die gleichſam das verjüngte Spiegelbild der erſteren. Auch ihre Mitglieder ſind in der Geſellſchaft geſtrandet, ihr Ruf iſt befleckt, aber ſie haben die Welt unter ihre Füße bekommen und lachen ſie aus im Wohlleben. Es iſt der männliche Demimonde, geſucht und gemieden zu gleicher Zeit. Der Hofrath v. Marquard- ſtein, jener alte Fuchs von Buchhändler, der Redacteur eines ultramontanen Schimpfblattes, verſchwenderiſche Cavaliere, geheime politiſche Agenten bilden dieſe zweite Geſellſchaft, und es gibt ſeltſame Händel. Graf Walram findet hier ſeine innere Zucht und Heilung. Er ſieht ein daß er Unglück hat, und Unglück ſtiftet wo er ſich einmiſcht, obgleich er das Beſte im Sinne hat. Er ſlieht „die Stadt und ihre Dämpfe,“ und zieht auf ſeine Güter, wo Sabine ihn glücklich macht. Ihr Bruder Friedel wird ſein Nachbar und erfolg- reicher Schriftſteller: in ihm hatte Walram, als er ihn zu ſeinem Secretär machte, ein ſchmutzig Entlein aus dem Elend errettet und zufällig einen jungen Schwan erwiſcht. Die eine edle Hälfte der Geſtrandeten aber zieht zu ihm ins Schloß und bildet eine Art idylliſcher Akademie in Genuß und Arbeit. Während die glücklich vom Menſchenhaß Geneſenen attiſche Tage feiern, klatſchen Adel und Geiſtlichkeit: Graf Walram habe ſich den Freimaurern ergeben, hege und pflege Atheiſten und Projectenmacher, halte zigeunerhafte Orgien mit ſeiner Bande, und habe ſogar den berüchtigten Superintendenten wieder angeſtellt, der ſich die Keckheit wollte beikommen laſſen die chriſtlichen Confeſſionen in eine Kirche zu verſchmelzen. Der König aber kommt öfter herüber, um an den akademiſchen Geſprächen und Spielen theil- und in zweifelhaften Fällen Walrams Nath und Hülfe in Anſpruch zu nehmen. Vergebens hat er ihn erſucht Miniſter zu werden. Walram will nicht eines deutſchen Kleinſtaates gezwungener Todtengräber werden, und fühlt daß ihm jede unbefangene Begeiſterung abhanden gekommen. Er antwortet dem drängenden Fürſten: „Majeſtät, ich bin alt geworden, ſeit ich mit Schrecken gelernt habe daß es keine reinen ſogenannten Ideale gibt, ſondern nur Fragen des Intereſſes. Einſtweilen aber dominiren materielle Intereſſen, materielle Parte ifragen. Große Ideen werden nur von denen unterſtützt denen ſie nützen; man macht ein Partei-Intereſſe daraus, aber zum Lohn ihrer Anerkennung verlangt die Partei daß ich auch ihre übrigen Intereſſen durchführen helfe. Keine Partei in der Welt erlaubt mir der Gegenpartei da Recht zu geben wo ſie geſunden Menſchenverſtand zeigt, denn mit ſolcher An- erkennung würde ſie ihre eigenen Intereſſen gefährden, würde ſie inconſequent ſein. Den Kühnen der ſich über die Parteien ſtellen, der ſich einbilden könnte er allein vermöge dem common sense unter allen Umſtänden zu folgen, wird man als Träumer und Idealiſten verlachen. Man wird eine Weile zuſehen wie er gegen den Strom ſchwimmt, und dann geht man wieder an ſeine eigene Arbeit. Mag er ſchwimmen. Ich bin zu alt und müde dazu.“ Würde Graf Walram noch heutzutage auch denen welche für eine macht- und weihevolle Verjüngung des deutſchen Volkes in Reich und Kirche kämpfen, bloß engherzige Intereſſenpolitik vorwerfen? Wir ſind hier dem geiſtvollen Roman in ſeinen Hauptzügen gefolgt: jedoch nur hindeuten können wir auf die Reihenfolge draſtiſcher Scenen, in denen er ſich abſpielt. Eine wahre Fülle von komiſcher Kraft wie von Urſprünglichkeit zeichnet den Dichter aus. Manchmal freilich, und nicht gerade ſelten, könnten die Lichter weniger grell aufgeſetzt und die Abſätze mehr zuſammengedrängt ſein. Die ganze verwickelte Geſchichte aber von des Helden Mutter und ihren Verwandten hat mit dem eigent- lichen Kern des Romans gar zu wenig zu thun. Auch ließen ſich Fremdwörter, wie minaudiren, desavouiren, Embonpoint und dergleichen, wohl von einem Dichter vermeiden der unſere edle ſchöne Sprache ſo in der Gewalt hat, daß ſie ihm mit Leichtigkeit das Höchſte wie das Feinſte ausdrückt.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 14. Januar 1872, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine14_1872/10>, abgerufen am 24.11.2024.