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Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 13. Januar 1924.

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Allgemeine Zeitung. Nr. 12 Sonntag, den 13. Januar 1924
[Spaltenumbruch]

schrift tunlichste Mitwirkung des Reichsrats vorzu-
sehen und den Vollzug auch der Reichsanordnungen
grundsätzlich den Landesbehörden zu überlassen. Die
Hauptsache erscheint mir aber eine genaue Um-
schreibung der Ausnahmebefugnisse
eventuell unter Differenzierung der
Rechte des Reichs und der Länder,

in welchem Falle die Bedenken gegen die Vorhand
der letzteren wesentlich abgeschwächt würden. Über-
haupt läßt sich in dieser ganzen Materie schon im
Interesse der Rechtssicherheit der Einzelnen gegen
behördliche Willkür die in Aussicht genommene spe-
zialgesetzliche Regelung nicht mehr lange hinaus-
schieben.

Wenn den Ländern bei der Regelung der Aus-
nahmebefugnisse möglichst entgegengekommen wird,
verliert auch das Interesse an Einschränkun-
gen des Oberbefehls des Reichspräsi-
denten über die Wehrmacht,
wie sie von
der Denkschrift zugunsten der bayerischen Regierung
gefordert werden, an Gewicht. Gerade auf diesem
Gebiete aber sind Konflikte, für die sich
bei Erfüllung der vorgebrachten
Wünsche nur erhöhte Gelegenheit er-
geben würde,
für das Ansehen und die Schlag-
kraft des Reiches nach Außen hin besonders ge-
fährlich. Die frühere Trennung der Kommandoge-
walt im Frieden bedeutete eine reinliche Scheidung
der Zuständigkeiten und machte so disziplinäre Un-
zukömmlichkeiten unmöglich; eine Rückkehr zu dem
Kontingentsystem erscheint aber auch der Denkschrift
mit Rücksicht auf die uns aufgezwungene Reduzie-
rung des Heeres vollkommen ausgeschlossen.

Raummangel verbietet es, auf die Vorschläge über
Justiz (Begnadigungsrecht, Sonderstrafgerichte),
Finanzwesen (Aufteilung der Steuern, einzel-
staatliche Verwaltung, letztere auch für die dem Reiche
verbleibenden Zölle und Verbrauchsabgaben, obwohl
der behauptete enge Zusammenhang mit der Ver-
waltung der direkten Steuern nicht einzusehen ist),
Kulturpolitik und Kulturpflege (sorg-
fältig gearbeitete Vorschläge auf Abbau der gewiß
überspannten Vereinheitlichung, die entsprechend
eingehende Stellungnahme erfordern würden), Ver-
kehrswesen
(wo selbst neben der Rückgabe auch
die Eventualität einer bloßen Erweiterung des
Landeseinflusses nicht ausgeschlossen wird) und
Wirtschaft einzugehen.

Wenn in dem Abschnitt über auswärtige
Beziehungen
u. a. an Stelle der Zustimmung
des Reichs zu Staatsverträgen über Gegenstände
der Landesgesetzgebung ein Einspruchrecht bean-
tragt wird, so muß auf die außenpolitischen Ver-
wicklungen hingewiesen werden, die sich aus derarti-
gen nachträglichen Einsprüchen ergeben müßten.

VIII.

Wesentlich kürzer sind die Ausführungen über
die "bundesstaatliche Mitbestimmung
im Reich
" und darum kann auch die Stellung-
nahme hiezu wesentlich kürzer sein. Verlangt wird
zunächst, daß der Reichsrat wieder gleichberechtigter
Gesetzgebungsfaktor neben dem Reichstag werden
soll. Dieser Forderung ist beizupflichten. Dem entspricht
es aber nicht, wenn schon die Vorlagen der Reichsregie-
rung an die unbedingte Zustimmung des Reichsrates
gebunden werden, da der Reichsrat ja ohnedies an
der Verabschiedung der Gesetze entscheidend mitwir-
ken soll. Eine solche Regelung würde ein wesent-
liches Übergewicht über den Reichstag bedeuten, das
nicht veranlaßt ist. Ebenso würde die Übertragung
der Befugnis zum Erlaß von Rechts- und Verwal-
tungsverordnungen an den Reichsrat an Stelle der
Reichsregierung eine gewaltige Überhöhung des
Reichsrats über den Reichstag bedeuten, während es
wohl genügen würde, nicht nur wie bisher bei Ver-
ordnungen, deren Vollzug den Landesbehörden ob-
liegt, sondern auch bei solchen, die an die Zustim-
mung eines Reichstagsausschusses gebunden werden,
auch das Zustimmungsrecht des Reichsrates verfas-
sungsmäßig festzulegen. Unbedenklich ist der Vor-
schlag, dem Reichsrat verfassungsmäßig ein Inter-
pellationsrecht, insbesondere auch auf dem Gebiete
der Auswärtigen Angelegenheiten, sowie das Zu-
stimmungsrecht zu Bündnissen und Verträgen über
Gegenstände der Reichsgesetzgebung einzuräumen.
Schließlich sei hier noch auf eine Anregung in der
Juristenzeitung verwiesen, wonach für den Reichsrat
zum Schutze stärkerer Länderminderheiten nicht nur
bei der Verfassungsgesetzgebung, von welchem Fall
[Spaltenumbruch] auch die Denkschrift auf S. 9 spricht, sondern auch
in andern für die Länder wichtigen Fragen erhöhte
Mehrheitsziffern festgelegt werden könnten.

IX.

Am Schluß verlangt die Denkschrift aus Gründen
des Dekorums -- unter nicht gerade glücklicher Be-
rufung auf den Bündnisvertrag von 1870 -- den
Ersatz der degradierenden Bezeichnung "Länder"
durch den Ausdruck "Bundesstaaten". Wenn
man das m. E. staatsrechtlich ganz unvorgreifliche Wort
"Länder" nun einmal ausscheiden will, wäre es
vorzuziehen, von "Staaten" schlechthin, eventuell
von "Gliedstaaten" oder "Einzelstaaten" zu sprechen,
da der Ausdruck "Bundesstaat", wie der Sprachge-
brauch der Denkschrift selbst beweist, zweideutig und
daher irreführend ist; denn er bezeichnet ebenso den
Zentralstaat, das Reich, wie die Einzelstaaten.



Die Verzögerung der Landtags-
neuwahlen

* Die Bayerische Volkspartei hatte be-
kanntlich im Landtag den Antrag gestellt,
den Landtag sofort aufzulösen. Sämtliche
übrigen Parteien (einschließlich der an der
Regierungskoalition beteiligten Deutsch-
nationalen Mittelpartei und Deutschen
Volkspartei) haben demgegenüber beschlos-
sen, vor der Neuwahl noch das bayerische
Landeswahlgesetz zu ändern,
um eine Verminderung der Zahl
der Abgeordneten
und damit die un-
bedingt notwendige Verbilligung des
parlamentarischen Betriebes
zu
erreichen.

Nun hat die Bayerische Volkspartei die
Herbeiführung eines Volksbegehrens auf
sofortige Auflösung in Aussicht genommen
und will damit den Eindruck erwecken, als
ob der Landtagsbeschluß die Auflösung zu
lange verzögern würde und deshalb der von
ihr gewählte raschere Weg beschritten wer-
den müsse.

In Wirklichkeit bedeutet die Verweisung
der Angelegenheit auf Volksbegehren und
Volksentscheidung eine ganz außer-
ordentliche Verzögerung
, die einer
Hinausschiebung auf den Zeitpunkt gleich-
kommt, an dem die Neuwahl ohnehin ver-
fassungsgemäß zu erfolgen hätte. Die Sache
liegt wie folgt:

1. Einreichung des Vorschlages beim
Staatsministerium des Innern und Prü-
fung durch dieses (Art. 22 des Landeswahl-
gesetzes). 1 Woche.

2. Bekanntgabe und Auflegung des Volks-
begehrens zur Einzeichnung (Art. 24)
3 Wochen.

3. Feststellung des Ergebnisses durch den
Landeswahlausschuß und Weiterleitung an
den Landtag (Art. 24) 1 Woche.

4. Beschlußfassung des Landtages nach den
§§ 76 und 45 der Verfassung. 1 Woche.

5. Anberaumung der Volksentscheidung
durch das Staatsministerium des Innern
1 Woche.

6. Bildung der Stimmbezirke und Wahl-
behörden, Ausstellung der Wählerlisten
mindestens 2 Wochen.

7. Abstimmung und Feststellung des Er-
gebnisses durch den Landeswahlausschuß
(Art. 71) 1 Woche.

8. Feststellung der Rechtswirksamkeit der
[Spaltenumbruch] Volksentscheidung durch den Landtag
(Art. 72) 1 Woche.

Zusammen 11 Wochen.

Die Entscheidung über die Landtags-
auflösung kann also -- vorausgesetzt, daß
die oben genannten Fristen nicht irgendwie
eine Verlängerung erfahren -- frühestens
Ende März fallen. Von da ab werden noch
mindestens 5 Wochen vergehen, bis die
Wahl stattfindet, so daß sich als Zeitpunkt
für die Wahl selbst im besten Fall die
erste Maiwoche
ergibt. Verfassungs-
mäßig endigt der Landtag am 6. Juni 1924.
Die Wahlausschreibung muß 5 Wochen vor-
her stattfinden. Im Falle der Durchführung
der Volksentscheidung ergibt sich demnach
im besten Fall ein Zeitgewinn von 3 bis
5 Wochen.

Eine Verkürzung der oben genannten
Fristen um etwa 5 Wochen würde eintreten,
wenn der Landtag nach Einreichung des
Volksbegehrens auf die Volksentscheidung
verzichten und sich selbst auflösen würde.

Von Interesse sind auch die Aussich-
ten,
die der Durchführung der Beschlüsse
der Bayerischen Volkspartei gegeben sind.

Die zur Unterstützung des Vorschlages
eines Volksbegehrens nötigen 1000 Stim-
men (Art. 22 L.W.G.) sind natürlich leicht
aufzubringen. Etwas schwieriger sind die
übrigen Bestimmungen der Verfassung zu
erfüllen.

Das Ziffernerfordernis für das Volks-
begehren
beträgt nach § 10 Abs. II bzw.
§ 30 Abs. IV der Verfassung jeweils ein
Fünftel der stimmberechtigten Staatsbürger,
d i. bei 4 000 000 Wählern 800 000 Stimmen.

Am Volksentscheid über die Land-
tagsauflösung muß sich mindestens die
Hälfte der Stimmberechtigten, also 2 000 000
beteiligen und davon müssen mindestens
zwei Drittel d. i. 1 333 334 für die Auflösung
aussprechen.

Aehnlich ist es mit den Erfordernissen
für die Volksentscheidung, wonach der
künftige Landtag mit einfacher Stimmen-
mehrheit über eine neue Verfassung be-
schließen kann. Nach § 10 Abs. II der
Verfassung ist hierzu die Beteiligung von
mindestens zwei Fünftel der Stimmberech-
tigten und die Bejahung der gestellten
Frage durch mindestens zwei Drittel der
abgegebenen Stimmen notwendig. d. h.
also von 1 600 000 erforderlichen Stimmen
müssen sich mindestens 1 066 667 Stimmen
für die gestellte Forderung aussprechen.

Die Bedeutung dieser Ziffern erhellt aus
der Tatsache, daß bei der letzten Landtags-
wahl die Bayerische Volkspartei und die
vereinigte Liste der Deutschnationalen und
Mittelpartei und der Deutschen Volkspartei
zusammen etwa 1 600 000 zusammengebracht
haben. Bei Stimmenthaltung
aller Gegner
könnten sich also für die
Bayerische Volkspartei immerhin einige
Schwierigkeiten ergeben. Nicht in Berück-
sichtigung gezogen ist bei diesen Betrach-
tungen, daß die Pfalz sich voraussichtlich
überhaupt nicht an der Abstimmung wird
beteiligen können, weshalb die Pfälzer
Stimmen aus der ganzen Berechnung über-
haupt abzuziehen sind.

[Spaltenumbruch]
Aus den Parteien
Deutsche Demokratische Partei.

Der Kreisverband München hält Dienstag,
den 15. Januar, abends 1/28 Uhr, im Kreuzbräu,
Brunnstraße 7 (Saal 2), seine ordentliche
Jahreshauptversammlung
ab. Nach
Erledigung der geschäftlichen Angelegenheiten
(Jahresbericht usw.) wird der Vorsitzende der
demokratischen Stadtratsfraktion, Stadtrat Karl
Hübsch, über "Die Tätigkeit der de-
mokratischen Stadtratsfraktion im
Münchener Rathaus
" sprechen. Zutritt
nur gegen Mitgliedsausweis.

Deutsche Volkspartei.

Die Ju-
gendgruppe Isargau
der Deutschen
Volkspartei (Nationalliberale Partei) veranstaltet
am Montag, den 14. Januar, abends 8 Uhr,
im großen Mathildensaal, Mathildenstr. 5, einen
Gedenkabend anläßlich des Jahrestages der
Reichsgründung
. Es spricht Reichstagsab-
geordneter, Generalleutnant Karl v. Schoch.
Oberspielleiter Fritz Basil wird vaterländische
Dichtungen vortragen. Alle Anhänger des Reichs-
gedankens auf nationaler Grundlage sind ein-
geladen, an der Kundgebung teilzunehmen. Der
Eintritt ist unentgeltlich.



[irrelevantes Material]


Der Meister des jüngsten Tages.

12
Roman

Gehorsam erhob ich die Hand und fuhr auf
aus Schlaf und Traum und saß allein auf der
naßkalten Bank. Wahrhaftig, ich war krank, der
Frost schüttelte mich, meine Zähne schlugen wild
aneinander. Ich wollte nach Hause, ohne Ab-
schied, einfach davongehen, man brauchte mich
nicht, wer brauchte mich denn? Dina und Felix,
die wußten selbst, was sie zu tun hatten, und
Doktor Gorski war ja auch da, ich stand allen
nur im Wege.

-- Gute Nacht, Garten! Gute Nacht du,
Mundharmonika, Gefährtin dieser einsamen
Stunde -- lieber, alter Eugen, gute Nacht für
alle Zeit! Ich gehe, ich lasse dich allein, du
brauchst mich nicht mehr. --

Ich stand auf, müde, durchnäßt und durch-
froren, ich wollte gehen und tastete nach meinem
Hut. Aber ich fand ihn nicht und konnte mich
nicht darauf besinnen, wo ich ihn gelassen hatte.
Und während ich auf dem Gartentisch nach ihm
suchte, stieß meine Hand auf das Buch, das hier
seit vielen Tagen oder Wochen aufgeschlagen lag.

Vielleicht war es, weil meine Finger die regen-
feuchten Blätter berührten, vielleicht war ein
kalter Windstoß schuld, der in dem Augenblick,
da ich mich zum Gehen wandte, mein Gesicht
traf: Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fühlte
plötzlich den Hauch und Duft eines längst ver-
gangenen Tages um mich, nur eine Sekunde
lang, aber in dieser Sekunde stand er lebendig
vor meinen Augen und ich erkannte ihn wieder.
[Spaltenumbruch] Ein Herbstmorgen, draußen auf den Hügeln vor
der Stadt, von den Aeckern her kam der Geruch
des welkenden Kartoffelkrautes. Wir gingen
den Waldweg hinauf, vor uns stand die grüne
Hügelwand und über den Baumwipfeln trieb
ein ferner, weißer Dunst. Wie eine Ahnung
kommenden Frostes lag es auf der Landschaft,
kühl und klar war der blaue Herbsthimmel, und
zu beiden Seiten des Weges standen brennendrot
die Hagebuttenbüsche.

Während wir gingen, lehnte Dinas Kopf an
meiner Schulter, der Wind trieb sein Spiel mit
den kurzen, braunen Locken auf ihrer Stirne.
Einmal blieben wir stehen, und sie sagte Verse
vor sich hin, Verse von herbstlich roten Blättern
und von dem silbernen Dunst, der über den
Hügeln lag.

Dann verschwand das Bild, verging so jäh,
wie es gekommen war. Aber eine andere
Erinnerung tauchte in mir auf: Ein Haus hoch
oben in den Bergen, Silvesternacht, Schnee-
wächten ringsumher, an den Fenstern eine dicke
Eisschicht -- wie gut, daß der Wirt den kleinen
Eisenofen in meine Stube gestellt hat, er knistert
und sprüht Funken und ist weiß vor Glut.
Draußen kratzt mein Hund an der Türe und
winselt und will zu uns herein. -- "Das ist
Zamor," sagte sie leise. "Mach' ihm doch auf.
Der wird mich nicht verraten." Und ich machte
mich los von Dinas Lippen und aus Dinas
Armen, um ihm zu öffnen, und einen kurzen
Augenblick lang dringt durch die Türe ein kalter
Luftzug zu uns herein und Gläserklirren und
gedämpfte Tanzmusik. --

Dann war auch dieses Bild verschwunden, nur
das Gefühl der Kälte blieb und die Tanzmusik,
[Spaltenumbruch] die von drüben her aus dem Küchenfenster kam.
Und in mir war wilde Verzweiflung und ein
stechender Schmerz -- wie, um Gottes willen, ist
es gekommen, daß wir einander so fremd gewor-
den sind? schrie es auf in mir. -- Kann denn
das sein, daß das verschwindet, was einmal zwei
Menschen miteinander verbunden hat? Wie ist
es möglich, daß wir heute einander gegenüber
gesessen sind wie zwei Fremde und hatten einan-
der nichts zu sagen! Wie hat es nur geschehen
können, daß sie mir so plötzlich aus den Armen
geglitten ist, und ein anderer hält sie an sich
gepreßt, und ich, ich bin es jetzt, der draußen
steht und an der Türe kratzt und winselt.

Und jetzt, in diesem Augenblicke erst, drang es
in mein Bewußtsein, daß jener andere tot war;
und dieses Wort "tot", was es bedeutete, in
dieser Sekunde erst verstand ich es.

Und Staunen und Ueberraschung ergriff mich
bei dem Gedanken an dieses Spiel des Zufalls,
daß ich hier war, gerade heute und in dieser
Stunde, daß ich zur Stelle war, da das Schicksal
winkte. -- Nein! Das war kein Spiel des Zu-
falls, das war mir so bestimmt gewesen, weil es
unabänderliche Gesetze gibt, denen wir gehorchen.

Und nun, da es geschehen war, hatte ich davon
gehen wollen, hatte mich fortstehlen wollen, --
ich verstand nicht, wie nur dieser Gedanke hatte
kommen können. Und oben saß Dina, saß im
dunkeln Zimmer und wartete:

"Du bist es, Gottfried? Du bist so lange fort-
geblieben --"

"Ich bin aufgestanden, Liebste, um die Türe
zu öffnen. Du wolltest es ja. Da bin ich wieder."

[Spaltenumbruch]

Noch immer war Licht im Pavillon. Ich stand
hinter dem Stamm eines Kastanienbaumes ver-
borgen und wartete.

Die Tür öffnete sich, und ich hörte Stimmen.
Felix war es, der heraustrat, er trug eine
Laterne in der Hand und ging langsam auf das
Haus zu.

Hinter ihm kamen wie ein Schatten zwei Ge-
stalten: Dina und Doktor Gorski.

Sie sah mich nicht.

"Dina," sagte ich noch einmal. Da ließ sie
Doktor Gorkis Hand los und machte einen
Schritt auf mich zu.

Die Laterne glitt die Stufen hinauf und ver-
schwand im Haustor. Einen Augenblick lang
noch ließ mich ihr Schein Dinas Gestalt er-
kennen, einen Augenblick lang warfen die Bäume
Schatten und die Büsche und das Efeugeranke --
dann lag der Garten wieder in tiefer Dunkel-
heit.

"Sie sind noch da?" hörte ich Dinas Stimme
dicht vor mir. "Was suchen Sie noch hier?"

Irgend etwas glitt über meine Stirne wie
eine leichte, warme Hand. Ich griff danach, --
es war nur ein welkes Kastanienblatt, das von
der Baumkrone herab zur Erde taumelte.

"Meinen Hund Zamor hab' ich gesucht," sagte
ich leise und das sollt' ihr sagen, daß ich an die
vergangenen Zeiten gedacht hatte.

Ein langes Schweigen.

"Wenn Sie einen Funken Menschlichkeit in
sich haben," kam endlich Dinas Stimme leise und
verzagt zu mir, "dann gehen Sie jetzt, gehen Sie
sogleich."
(Fortsetzung folgt.)

Allgemeine Zeitung. Nr. 12 Sonntag, den 13. Januar 1924
[Spaltenumbruch]

ſchrift tunlichſte Mitwirkung des Reichsrats vorzu-
ſehen und den Vollzug auch der Reichsanordnungen
grundſätzlich den Landesbehörden zu überlaſſen. Die
Hauptſache erſcheint mir aber eine genaue Um-
ſchreibung der Ausnahmebefugniſſe
eventuell unter Differenzierung der
Rechte des Reichs und der Länder,

in welchem Falle die Bedenken gegen die Vorhand
der letzteren weſentlich abgeſchwächt würden. Über-
haupt läßt ſich in dieſer ganzen Materie ſchon im
Intereſſe der Rechtsſicherheit der Einzelnen gegen
behördliche Willkür die in Ausſicht genommene ſpe-
zialgeſetzliche Regelung nicht mehr lange hinaus-
ſchieben.

Wenn den Ländern bei der Regelung der Aus-
nahmebefugniſſe möglichſt entgegengekommen wird,
verliert auch das Intereſſe an Einſchränkun-
gen des Oberbefehls des Reichspräſi-
denten über die Wehrmacht,
wie ſie von
der Denkſchrift zugunſten der bayeriſchen Regierung
gefordert werden, an Gewicht. Gerade auf dieſem
Gebiete aber ſind Konflikte, für die ſich
bei Erfüllung der vorgebrachten
Wünſche nur erhöhte Gelegenheit er-
geben würde,
für das Anſehen und die Schlag-
kraft des Reiches nach Außen hin beſonders ge-
fährlich. Die frühere Trennung der Kommandoge-
walt im Frieden bedeutete eine reinliche Scheidung
der Zuſtändigkeiten und machte ſo disziplinäre Un-
zukömmlichkeiten unmöglich; eine Rückkehr zu dem
Kontingentſyſtem erſcheint aber auch der Denkſchrift
mit Rückſicht auf die uns aufgezwungene Reduzie-
rung des Heeres vollkommen ausgeſchloſſen.

Raummangel verbietet es, auf die Vorſchläge über
Juſtiz (Begnadigungsrecht, Sonderſtrafgerichte),
Finanzweſen (Aufteilung der Steuern, einzel-
ſtaatliche Verwaltung, letztere auch für die dem Reiche
verbleibenden Zölle und Verbrauchsabgaben, obwohl
der behauptete enge Zuſammenhang mit der Ver-
waltung der direkten Steuern nicht einzuſehen iſt),
Kulturpolitik und Kulturpflege (ſorg-
fältig gearbeitete Vorſchläge auf Abbau der gewiß
überſpannten Vereinheitlichung, die entſprechend
eingehende Stellungnahme erfordern würden), Ver-
kehrsweſen
(wo ſelbſt neben der Rückgabe auch
die Eventualität einer bloßen Erweiterung des
Landeseinfluſſes nicht ausgeſchloſſen wird) und
Wirtſchaft einzugehen.

Wenn in dem Abſchnitt über auswärtige
Beziehungen
u. a. an Stelle der Zuſtimmung
des Reichs zu Staatsverträgen über Gegenſtände
der Landesgeſetzgebung ein Einſpruchrecht bean-
tragt wird, ſo muß auf die außenpolitiſchen Ver-
wicklungen hingewieſen werden, die ſich aus derarti-
gen nachträglichen Einſprüchen ergeben müßten.

VIII.

Weſentlich kürzer ſind die Ausführungen über
die „bundesſtaatliche Mitbeſtimmung
im Reich
“ und darum kann auch die Stellung-
nahme hiezu weſentlich kürzer ſein. Verlangt wird
zunächſt, daß der Reichsrat wieder gleichberechtigter
Geſetzgebungsfaktor neben dem Reichstag werden
ſoll. Dieſer Forderung iſt beizupflichten. Dem entſpricht
es aber nicht, wenn ſchon die Vorlagen der Reichsregie-
rung an die unbedingte Zuſtimmung des Reichsrates
gebunden werden, da der Reichsrat ja ohnedies an
der Verabſchiedung der Geſetze entſcheidend mitwir-
ken ſoll. Eine ſolche Regelung würde ein weſent-
liches Übergewicht über den Reichstag bedeuten, das
nicht veranlaßt iſt. Ebenſo würde die Übertragung
der Befugnis zum Erlaß von Rechts- und Verwal-
tungsverordnungen an den Reichsrat an Stelle der
Reichsregierung eine gewaltige Überhöhung des
Reichsrats über den Reichstag bedeuten, während es
wohl genügen würde, nicht nur wie bisher bei Ver-
ordnungen, deren Vollzug den Landesbehörden ob-
liegt, ſondern auch bei ſolchen, die an die Zuſtim-
mung eines Reichstagsausſchuſſes gebunden werden,
auch das Zuſtimmungsrecht des Reichsrates verfaſ-
ſungsmäßig feſtzulegen. Unbedenklich iſt der Vor-
ſchlag, dem Reichsrat verfaſſungsmäßig ein Inter-
pellationsrecht, insbeſondere auch auf dem Gebiete
der Auswärtigen Angelegenheiten, ſowie das Zu-
ſtimmungsrecht zu Bündniſſen und Verträgen über
Gegenſtände der Reichsgeſetzgebung einzuräumen.
Schließlich ſei hier noch auf eine Anregung in der
Juriſtenzeitung verwieſen, wonach für den Reichsrat
zum Schutze ſtärkerer Länderminderheiten nicht nur
bei der Verfaſſungsgeſetzgebung, von welchem Fall
[Spaltenumbruch] auch die Denkſchrift auf S. 9 ſpricht, ſondern auch
in andern für die Länder wichtigen Fragen erhöhte
Mehrheitsziffern feſtgelegt werden könnten.

IX.

Am Schluß verlangt die Denkſchrift aus Gründen
des Dekorums — unter nicht gerade glücklicher Be-
rufung auf den Bündnisvertrag von 1870 — den
Erſatz der degradierenden Bezeichnung „Länder
durch den Ausdruck „Bundesſtaaten“. Wenn
man das m. E. ſtaatsrechtlich ganz unvorgreifliche Wort
„Länder“ nun einmal ausſcheiden will, wäre es
vorzuziehen, von „Staaten“ ſchlechthin, eventuell
von „Gliedſtaaten“ oder „Einzelſtaaten“ zu ſprechen,
da der Ausdruck „Bundesſtaat“, wie der Sprachge-
brauch der Denkſchrift ſelbſt beweiſt, zweideutig und
daher irreführend iſt; denn er bezeichnet ebenſo den
Zentralſtaat, das Reich, wie die Einzelſtaaten.



Die Verzögerung der Landtags-
neuwahlen

* Die Bayeriſche Volkspartei hatte be-
kanntlich im Landtag den Antrag geſtellt,
den Landtag ſofort aufzulöſen. Sämtliche
übrigen Parteien (einſchließlich der an der
Regierungskoalition beteiligten Deutſch-
nationalen Mittelpartei und Deutſchen
Volkspartei) haben demgegenüber beſchloſ-
ſen, vor der Neuwahl noch das bayeriſche
Landeswahlgeſetz zu ändern,
um eine Verminderung der Zahl
der Abgeordneten
und damit die un-
bedingt notwendige Verbilligung des
parlamentariſchen Betriebes
zu
erreichen.

Nun hat die Bayeriſche Volkspartei die
Herbeiführung eines Volksbegehrens auf
ſofortige Auflöſung in Ausſicht genommen
und will damit den Eindruck erwecken, als
ob der Landtagsbeſchluß die Auflöſung zu
lange verzögern würde und deshalb der von
ihr gewählte raſchere Weg beſchritten wer-
den müſſe.

In Wirklichkeit bedeutet die Verweiſung
der Angelegenheit auf Volksbegehren und
Volksentſcheidung eine ganz außer-
ordentliche Verzögerung
, die einer
Hinausſchiebung auf den Zeitpunkt gleich-
kommt, an dem die Neuwahl ohnehin ver-
faſſungsgemäß zu erfolgen hätte. Die Sache
liegt wie folgt:

1. Einreichung des Vorſchlages beim
Staatsminiſterium des Innern und Prü-
fung durch dieſes (Art. 22 des Landeswahl-
geſetzes). 1 Woche.

2. Bekanntgabe und Auflegung des Volks-
begehrens zur Einzeichnung (Art. 24)
3 Wochen.

3. Feſtſtellung des Ergebniſſes durch den
Landeswahlausſchuß und Weiterleitung an
den Landtag (Art. 24) 1 Woche.

4. Beſchlußfaſſung des Landtages nach den
§§ 76 und 45 der Verfaſſung. 1 Woche.

5. Anberaumung der Volksentſcheidung
durch das Staatsminiſterium des Innern
1 Woche.

6. Bildung der Stimmbezirke und Wahl-
behörden, Auſſtellung der Wählerliſten
mindeſtens 2 Wochen.

7. Abſtimmung und Feſtſtellung des Er-
gebniſſes durch den Landeswahlausſchuß
(Art. 71) 1 Woche.

8. Feſtſtellung der Rechtswirkſamkeit der
[Spaltenumbruch] Volksentſcheidung durch den Landtag
(Art. 72) 1 Woche.

Zuſammen 11 Wochen.

Die Entſcheidung über die Landtags-
auflöſung kann alſo — vorausgeſetzt, daß
die oben genannten Friſten nicht irgendwie
eine Verlängerung erfahren — früheſtens
Ende März fallen. Von da ab werden noch
mindeſtens 5 Wochen vergehen, bis die
Wahl ſtattfindet, ſo daß ſich als Zeitpunkt
für die Wahl ſelbſt im beſten Fall die
erſte Maiwoche
ergibt. Verfaſſungs-
mäßig endigt der Landtag am 6. Juni 1924.
Die Wahlausſchreibung muß 5 Wochen vor-
her ſtattfinden. Im Falle der Durchführung
der Volksentſcheidung ergibt ſich demnach
im beſten Fall ein Zeitgewinn von 3 bis
5 Wochen.

Eine Verkürzung der oben genannten
Friſten um etwa 5 Wochen würde eintreten,
wenn der Landtag nach Einreichung des
Volksbegehrens auf die Volksentſcheidung
verzichten und ſich ſelbſt auflöſen würde.

Von Intereſſe ſind auch die Ausſich-
ten,
die der Durchführung der Beſchlüſſe
der Bayeriſchen Volkspartei gegeben ſind.

Die zur Unterſtützung des Vorſchlages
eines Volksbegehrens nötigen 1000 Stim-
men (Art. 22 L.W.G.) ſind natürlich leicht
aufzubringen. Etwas ſchwieriger ſind die
übrigen Beſtimmungen der Verfaſſung zu
erfüllen.

Das Ziffernerfordernis für das Volks-
begehren
beträgt nach § 10 Abſ. II bzw.
§ 30 Abſ. IV der Verfaſſung jeweils ein
Fünftel der ſtimmberechtigten Staatsbürger,
d i. bei 4 000 000 Wählern 800 000 Stimmen.

Am Volksentſcheid über die Land-
tagsauflöſung muß ſich mindeſtens die
Hälfte der Stimmberechtigten, alſo 2 000 000
beteiligen und davon müſſen mindeſtens
zwei Drittel d. i. 1 333 334 für die Auflöſung
ausſprechen.

Aehnlich iſt es mit den Erforderniſſen
für die Volksentſcheidung, wonach der
künftige Landtag mit einfacher Stimmen-
mehrheit über eine neue Verfaſſung be-
ſchließen kann. Nach § 10 Abſ. II der
Verfaſſung iſt hierzu die Beteiligung von
mindeſtens zwei Fünftel der Stimmberech-
tigten und die Bejahung der geſtellten
Frage durch mindeſtens zwei Drittel der
abgegebenen Stimmen notwendig. d. h.
alſo von 1 600 000 erforderlichen Stimmen
müſſen ſich mindeſtens 1 066 667 Stimmen
für die geſtellte Forderung ausſprechen.

Die Bedeutung dieſer Ziffern erhellt aus
der Tatſache, daß bei der letzten Landtags-
wahl die Bayeriſche Volkspartei und die
vereinigte Liſte der Deutſchnationalen und
Mittelpartei und der Deutſchen Volkspartei
zuſammen etwa 1 600 000 zuſammengebracht
haben. Bei Stimmenthaltung
aller Gegner
könnten ſich alſo für die
Bayeriſche Volkspartei immerhin einige
Schwierigkeiten ergeben. Nicht in Berück-
ſichtigung gezogen iſt bei dieſen Betrach-
tungen, daß die Pfalz ſich vorausſichtlich
überhaupt nicht an der Abſtimmung wird
beteiligen können, weshalb die Pfälzer
Stimmen aus der ganzen Berechnung über-
haupt abzuziehen ſind.

[Spaltenumbruch]
Aus den Parteien
Deutſche Demokratiſche Partei.

Der Kreisverband München hält Dienstag,
den 15. Januar, abends ½8 Uhr, im Kreuzbräu,
Brunnſtraße 7 (Saal 2), ſeine ordentliche
Jahreshauptverſammlung
ab. Nach
Erledigung der geſchäftlichen Angelegenheiten
(Jahresbericht uſw.) wird der Vorſitzende der
demokratiſchen Stadtratsfraktion, Stadtrat Karl
Hübſch, über „Die Tätigkeit der de-
mokratiſchen Stadtratsfraktion im
Münchener Rathaus
“ ſprechen. Zutritt
nur gegen Mitgliedsausweis.

Deutſche Volkspartei.

Die Ju-
gendgruppe Iſargau
der Deutſchen
Volkspartei (Nationalliberale Partei) veranſtaltet
am Montag, den 14. Januar, abends 8 Uhr,
im großen Mathildenſaal, Mathildenſtr. 5, einen
Gedenkabend anläßlich des Jahrestages der
Reichsgründung
. Es ſpricht Reichstagsab-
geordneter, Generalleutnant Karl v. Schoch.
Oberſpielleiter Fritz Baſil wird vaterländiſche
Dichtungen vortragen. Alle Anhänger des Reichs-
gedankens auf nationaler Grundlage ſind ein-
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[irrelevantes Material]


Der Meiſter des jüngſten Tages.

12
Roman

Gehorſam erhob ich die Hand und fuhr auf
aus Schlaf und Traum und ſaß allein auf der
naßkalten Bank. Wahrhaftig, ich war krank, der
Froſt ſchüttelte mich, meine Zähne ſchlugen wild
aneinander. Ich wollte nach Hauſe, ohne Ab-
ſchied, einfach davongehen, man brauchte mich
nicht, wer brauchte mich denn? Dina und Felix,
die wußten ſelbſt, was ſie zu tun hatten, und
Doktor Gorski war ja auch da, ich ſtand allen
nur im Wege.

— Gute Nacht, Garten! Gute Nacht du,
Mundharmonika, Gefährtin dieſer einſamen
Stunde — lieber, alter Eugen, gute Nacht für
alle Zeit! Ich gehe, ich laſſe dich allein, du
brauchſt mich nicht mehr. —

Ich ſtand auf, müde, durchnäßt und durch-
froren, ich wollte gehen und taſtete nach meinem
Hut. Aber ich fand ihn nicht und konnte mich
nicht darauf beſinnen, wo ich ihn gelaſſen hatte.
Und während ich auf dem Gartentiſch nach ihm
ſuchte, ſtieß meine Hand auf das Buch, das hier
ſeit vielen Tagen oder Wochen aufgeſchlagen lag.

Vielleicht war es, weil meine Finger die regen-
feuchten Blätter berührten, vielleicht war ein
kalter Windſtoß ſchuld, der in dem Augenblick,
da ich mich zum Gehen wandte, mein Geſicht
traf: Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fühlte
plötzlich den Hauch und Duft eines längſt ver-
gangenen Tages um mich, nur eine Sekunde
lang, aber in dieſer Sekunde ſtand er lebendig
vor meinen Augen und ich erkannte ihn wieder.
[Spaltenumbruch] Ein Herbſtmorgen, draußen auf den Hügeln vor
der Stadt, von den Aeckern her kam der Geruch
des welkenden Kartoffelkrautes. Wir gingen
den Waldweg hinauf, vor uns ſtand die grüne
Hügelwand und über den Baumwipfeln trieb
ein ferner, weißer Dunſt. Wie eine Ahnung
kommenden Froſtes lag es auf der Landſchaft,
kühl und klar war der blaue Herbſthimmel, und
zu beiden Seiten des Weges ſtanden brennendrot
die Hagebuttenbüſche.

Während wir gingen, lehnte Dinas Kopf an
meiner Schulter, der Wind trieb ſein Spiel mit
den kurzen, braunen Locken auf ihrer Stirne.
Einmal blieben wir ſtehen, und ſie ſagte Verſe
vor ſich hin, Verſe von herbſtlich roten Blättern
und von dem ſilbernen Dunſt, der über den
Hügeln lag.

Dann verſchwand das Bild, verging ſo jäh,
wie es gekommen war. Aber eine andere
Erinnerung tauchte in mir auf: Ein Haus hoch
oben in den Bergen, Silveſternacht, Schnee-
wächten ringsumher, an den Fenſtern eine dicke
Eisſchicht — wie gut, daß der Wirt den kleinen
Eiſenofen in meine Stube geſtellt hat, er kniſtert
und ſprüht Funken und iſt weiß vor Glut.
Draußen kratzt mein Hund an der Türe und
winſelt und will zu uns herein. — „Das iſt
Zamor,“ ſagte ſie leiſe. „Mach’ ihm doch auf.
Der wird mich nicht verraten.“ Und ich machte
mich los von Dinas Lippen und aus Dinas
Armen, um ihm zu öffnen, und einen kurzen
Augenblick lang dringt durch die Türe ein kalter
Luftzug zu uns herein und Gläſerklirren und
gedämpfte Tanzmuſik. —

Dann war auch dieſes Bild verſchwunden, nur
das Gefühl der Kälte blieb und die Tanzmuſik,
[Spaltenumbruch] die von drüben her aus dem Küchenfenſter kam.
Und in mir war wilde Verzweiflung und ein
ſtechender Schmerz — wie, um Gottes willen, iſt
es gekommen, daß wir einander ſo fremd gewor-
den ſind? ſchrie es auf in mir. — Kann denn
das ſein, daß das verſchwindet, was einmal zwei
Menſchen miteinander verbunden hat? Wie iſt
es möglich, daß wir heute einander gegenüber
geſeſſen ſind wie zwei Fremde und hatten einan-
der nichts zu ſagen! Wie hat es nur geſchehen
können, daß ſie mir ſo plötzlich aus den Armen
geglitten iſt, und ein anderer hält ſie an ſich
gepreßt, und ich, ich bin es jetzt, der draußen
ſteht und an der Türe kratzt und winſelt.

Und jetzt, in dieſem Augenblicke erſt, drang es
in mein Bewußtſein, daß jener andere tot war;
und dieſes Wort „tot“, was es bedeutete, in
dieſer Sekunde erſt verſtand ich es.

Und Staunen und Ueberraſchung ergriff mich
bei dem Gedanken an dieſes Spiel des Zufalls,
daß ich hier war, gerade heute und in dieſer
Stunde, daß ich zur Stelle war, da das Schickſal
winkte. — Nein! Das war kein Spiel des Zu-
falls, das war mir ſo beſtimmt geweſen, weil es
unabänderliche Geſetze gibt, denen wir gehorchen.

Und nun, da es geſchehen war, hatte ich davon
gehen wollen, hatte mich fortſtehlen wollen, —
ich verſtand nicht, wie nur dieſer Gedanke hatte
kommen können. Und oben ſaß Dina, ſaß im
dunkeln Zimmer und wartete:

„Du biſt es, Gottfried? Du biſt ſo lange fort-
geblieben —“

„Ich bin aufgeſtanden, Liebſte, um die Türe
zu öffnen. Du wollteſt es ja. Da bin ich wieder.“

[Spaltenumbruch]

Noch immer war Licht im Pavillon. Ich ſtand
hinter dem Stamm eines Kaſtanienbaumes ver-
borgen und wartete.

Die Tür öffnete ſich, und ich hörte Stimmen.
Felix war es, der heraustrat, er trug eine
Laterne in der Hand und ging langſam auf das
Haus zu.

Hinter ihm kamen wie ein Schatten zwei Ge-
ſtalten: Dina und Doktor Gorski.

Sie ſah mich nicht.

„Dina,“ ſagte ich noch einmal. Da ließ ſie
Doktor Gorkis Hand los und machte einen
Schritt auf mich zu.

Die Laterne glitt die Stufen hinauf und ver-
ſchwand im Haustor. Einen Augenblick lang
noch ließ mich ihr Schein Dinas Geſtalt er-
kennen, einen Augenblick lang warfen die Bäume
Schatten und die Büſche und das Efeugeranke —
dann lag der Garten wieder in tiefer Dunkel-
heit.

„Sie ſind noch da?“ hörte ich Dinas Stimme
dicht vor mir. „Was ſuchen Sie noch hier?“

Irgend etwas glitt über meine Stirne wie
eine leichte, warme Hand. Ich griff danach, —
es war nur ein welkes Kaſtanienblatt, das von
der Baumkrone herab zur Erde taumelte.

„Meinen Hund Zamor hab’ ich geſucht,“ ſagte
ich leiſe und das ſollt’ ihr ſagen, daß ich an die
vergangenen Zeiten gedacht hatte.

Ein langes Schweigen.

„Wenn Sie einen Funken Menſchlichkeit in
ſich haben,“ kam endlich Dinas Stimme leiſe und
verzagt zu mir, „dann gehen Sie jetzt, gehen Sie
ſogleich.“
(Fortſetzung folgt.)

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[4/0004] Allgemeine Zeitung. Nr. 12 Sonntag, den 13. Januar 1924 ſchrift tunlichſte Mitwirkung des Reichsrats vorzu- ſehen und den Vollzug auch der Reichsanordnungen grundſätzlich den Landesbehörden zu überlaſſen. Die Hauptſache erſcheint mir aber eine genaue Um- ſchreibung der Ausnahmebefugniſſe eventuell unter Differenzierung der Rechte des Reichs und der Länder, in welchem Falle die Bedenken gegen die Vorhand der letzteren weſentlich abgeſchwächt würden. Über- haupt läßt ſich in dieſer ganzen Materie ſchon im Intereſſe der Rechtsſicherheit der Einzelnen gegen behördliche Willkür die in Ausſicht genommene ſpe- zialgeſetzliche Regelung nicht mehr lange hinaus- ſchieben. Wenn den Ländern bei der Regelung der Aus- nahmebefugniſſe möglichſt entgegengekommen wird, verliert auch das Intereſſe an Einſchränkun- gen des Oberbefehls des Reichspräſi- denten über die Wehrmacht, wie ſie von der Denkſchrift zugunſten der bayeriſchen Regierung gefordert werden, an Gewicht. Gerade auf dieſem Gebiete aber ſind Konflikte, für die ſich bei Erfüllung der vorgebrachten Wünſche nur erhöhte Gelegenheit er- geben würde, für das Anſehen und die Schlag- kraft des Reiches nach Außen hin beſonders ge- fährlich. Die frühere Trennung der Kommandoge- walt im Frieden bedeutete eine reinliche Scheidung der Zuſtändigkeiten und machte ſo disziplinäre Un- zukömmlichkeiten unmöglich; eine Rückkehr zu dem Kontingentſyſtem erſcheint aber auch der Denkſchrift mit Rückſicht auf die uns aufgezwungene Reduzie- rung des Heeres vollkommen ausgeſchloſſen. Raummangel verbietet es, auf die Vorſchläge über Juſtiz (Begnadigungsrecht, Sonderſtrafgerichte), Finanzweſen (Aufteilung der Steuern, einzel- ſtaatliche Verwaltung, letztere auch für die dem Reiche verbleibenden Zölle und Verbrauchsabgaben, obwohl der behauptete enge Zuſammenhang mit der Ver- waltung der direkten Steuern nicht einzuſehen iſt), Kulturpolitik und Kulturpflege (ſorg- fältig gearbeitete Vorſchläge auf Abbau der gewiß überſpannten Vereinheitlichung, die entſprechend eingehende Stellungnahme erfordern würden), Ver- kehrsweſen (wo ſelbſt neben der Rückgabe auch die Eventualität einer bloßen Erweiterung des Landeseinfluſſes nicht ausgeſchloſſen wird) und Wirtſchaft einzugehen. Wenn in dem Abſchnitt über auswärtige Beziehungen u. a. an Stelle der Zuſtimmung des Reichs zu Staatsverträgen über Gegenſtände der Landesgeſetzgebung ein Einſpruchrecht bean- tragt wird, ſo muß auf die außenpolitiſchen Ver- wicklungen hingewieſen werden, die ſich aus derarti- gen nachträglichen Einſprüchen ergeben müßten. VIII. Weſentlich kürzer ſind die Ausführungen über die „bundesſtaatliche Mitbeſtimmung im Reich“ und darum kann auch die Stellung- nahme hiezu weſentlich kürzer ſein. Verlangt wird zunächſt, daß der Reichsrat wieder gleichberechtigter Geſetzgebungsfaktor neben dem Reichstag werden ſoll. Dieſer Forderung iſt beizupflichten. Dem entſpricht es aber nicht, wenn ſchon die Vorlagen der Reichsregie- rung an die unbedingte Zuſtimmung des Reichsrates gebunden werden, da der Reichsrat ja ohnedies an der Verabſchiedung der Geſetze entſcheidend mitwir- ken ſoll. Eine ſolche Regelung würde ein weſent- liches Übergewicht über den Reichstag bedeuten, das nicht veranlaßt iſt. Ebenſo würde die Übertragung der Befugnis zum Erlaß von Rechts- und Verwal- tungsverordnungen an den Reichsrat an Stelle der Reichsregierung eine gewaltige Überhöhung des Reichsrats über den Reichstag bedeuten, während es wohl genügen würde, nicht nur wie bisher bei Ver- ordnungen, deren Vollzug den Landesbehörden ob- liegt, ſondern auch bei ſolchen, die an die Zuſtim- mung eines Reichstagsausſchuſſes gebunden werden, auch das Zuſtimmungsrecht des Reichsrates verfaſ- ſungsmäßig feſtzulegen. Unbedenklich iſt der Vor- ſchlag, dem Reichsrat verfaſſungsmäßig ein Inter- pellationsrecht, insbeſondere auch auf dem Gebiete der Auswärtigen Angelegenheiten, ſowie das Zu- ſtimmungsrecht zu Bündniſſen und Verträgen über Gegenſtände der Reichsgeſetzgebung einzuräumen. Schließlich ſei hier noch auf eine Anregung in der Juriſtenzeitung verwieſen, wonach für den Reichsrat zum Schutze ſtärkerer Länderminderheiten nicht nur bei der Verfaſſungsgeſetzgebung, von welchem Fall auch die Denkſchrift auf S. 9 ſpricht, ſondern auch in andern für die Länder wichtigen Fragen erhöhte Mehrheitsziffern feſtgelegt werden könnten. IX. Am Schluß verlangt die Denkſchrift aus Gründen des Dekorums — unter nicht gerade glücklicher Be- rufung auf den Bündnisvertrag von 1870 — den Erſatz der degradierenden Bezeichnung „Länder“ durch den Ausdruck „Bundesſtaaten“. Wenn man das m. E. ſtaatsrechtlich ganz unvorgreifliche Wort „Länder“ nun einmal ausſcheiden will, wäre es vorzuziehen, von „Staaten“ ſchlechthin, eventuell von „Gliedſtaaten“ oder „Einzelſtaaten“ zu ſprechen, da der Ausdruck „Bundesſtaat“, wie der Sprachge- brauch der Denkſchrift ſelbſt beweiſt, zweideutig und daher irreführend iſt; denn er bezeichnet ebenſo den Zentralſtaat, das Reich, wie die Einzelſtaaten. Die Verzögerung der Landtags- neuwahlen * Die Bayeriſche Volkspartei hatte be- kanntlich im Landtag den Antrag geſtellt, den Landtag ſofort aufzulöſen. Sämtliche übrigen Parteien (einſchließlich der an der Regierungskoalition beteiligten Deutſch- nationalen Mittelpartei und Deutſchen Volkspartei) haben demgegenüber beſchloſ- ſen, vor der Neuwahl noch das bayeriſche Landeswahlgeſetz zu ändern, um eine Verminderung der Zahl der Abgeordneten und damit die un- bedingt notwendige Verbilligung des parlamentariſchen Betriebes zu erreichen. Nun hat die Bayeriſche Volkspartei die Herbeiführung eines Volksbegehrens auf ſofortige Auflöſung in Ausſicht genommen und will damit den Eindruck erwecken, als ob der Landtagsbeſchluß die Auflöſung zu lange verzögern würde und deshalb der von ihr gewählte raſchere Weg beſchritten wer- den müſſe. In Wirklichkeit bedeutet die Verweiſung der Angelegenheit auf Volksbegehren und Volksentſcheidung eine ganz außer- ordentliche Verzögerung, die einer Hinausſchiebung auf den Zeitpunkt gleich- kommt, an dem die Neuwahl ohnehin ver- faſſungsgemäß zu erfolgen hätte. Die Sache liegt wie folgt: 1. Einreichung des Vorſchlages beim Staatsminiſterium des Innern und Prü- fung durch dieſes (Art. 22 des Landeswahl- geſetzes). 1 Woche. 2. Bekanntgabe und Auflegung des Volks- begehrens zur Einzeichnung (Art. 24) 3 Wochen. 3. Feſtſtellung des Ergebniſſes durch den Landeswahlausſchuß und Weiterleitung an den Landtag (Art. 24) 1 Woche. 4. Beſchlußfaſſung des Landtages nach den §§ 76 und 45 der Verfaſſung. 1 Woche. 5. Anberaumung der Volksentſcheidung durch das Staatsminiſterium des Innern 1 Woche. 6. Bildung der Stimmbezirke und Wahl- behörden, Auſſtellung der Wählerliſten mindeſtens 2 Wochen. 7. Abſtimmung und Feſtſtellung des Er- gebniſſes durch den Landeswahlausſchuß (Art. 71) 1 Woche. 8. Feſtſtellung der Rechtswirkſamkeit der Volksentſcheidung durch den Landtag (Art. 72) 1 Woche. Zuſammen 11 Wochen. Die Entſcheidung über die Landtags- auflöſung kann alſo — vorausgeſetzt, daß die oben genannten Friſten nicht irgendwie eine Verlängerung erfahren — früheſtens Ende März fallen. Von da ab werden noch mindeſtens 5 Wochen vergehen, bis die Wahl ſtattfindet, ſo daß ſich als Zeitpunkt für die Wahl ſelbſt im beſten Fall die erſte Maiwoche ergibt. Verfaſſungs- mäßig endigt der Landtag am 6. Juni 1924. Die Wahlausſchreibung muß 5 Wochen vor- her ſtattfinden. Im Falle der Durchführung der Volksentſcheidung ergibt ſich demnach im beſten Fall ein Zeitgewinn von 3 bis 5 Wochen. Eine Verkürzung der oben genannten Friſten um etwa 5 Wochen würde eintreten, wenn der Landtag nach Einreichung des Volksbegehrens auf die Volksentſcheidung verzichten und ſich ſelbſt auflöſen würde. Von Intereſſe ſind auch die Ausſich- ten, die der Durchführung der Beſchlüſſe der Bayeriſchen Volkspartei gegeben ſind. Die zur Unterſtützung des Vorſchlages eines Volksbegehrens nötigen 1000 Stim- men (Art. 22 L.W.G.) ſind natürlich leicht aufzubringen. Etwas ſchwieriger ſind die übrigen Beſtimmungen der Verfaſſung zu erfüllen. Das Ziffernerfordernis für das Volks- begehren beträgt nach § 10 Abſ. II bzw. § 30 Abſ. IV der Verfaſſung jeweils ein Fünftel der ſtimmberechtigten Staatsbürger, d i. bei 4 000 000 Wählern 800 000 Stimmen. Am Volksentſcheid über die Land- tagsauflöſung muß ſich mindeſtens die Hälfte der Stimmberechtigten, alſo 2 000 000 beteiligen und davon müſſen mindeſtens zwei Drittel d. i. 1 333 334 für die Auflöſung ausſprechen. Aehnlich iſt es mit den Erforderniſſen für die Volksentſcheidung, wonach der künftige Landtag mit einfacher Stimmen- mehrheit über eine neue Verfaſſung be- ſchließen kann. Nach § 10 Abſ. II der Verfaſſung iſt hierzu die Beteiligung von mindeſtens zwei Fünftel der Stimmberech- tigten und die Bejahung der geſtellten Frage durch mindeſtens zwei Drittel der abgegebenen Stimmen notwendig. d. h. alſo von 1 600 000 erforderlichen Stimmen müſſen ſich mindeſtens 1 066 667 Stimmen für die geſtellte Forderung ausſprechen. Die Bedeutung dieſer Ziffern erhellt aus der Tatſache, daß bei der letzten Landtags- wahl die Bayeriſche Volkspartei und die vereinigte Liſte der Deutſchnationalen und Mittelpartei und der Deutſchen Volkspartei zuſammen etwa 1 600 000 zuſammengebracht haben. Bei Stimmenthaltung aller Gegner könnten ſich alſo für die Bayeriſche Volkspartei immerhin einige Schwierigkeiten ergeben. Nicht in Berück- ſichtigung gezogen iſt bei dieſen Betrach- tungen, daß die Pfalz ſich vorausſichtlich überhaupt nicht an der Abſtimmung wird beteiligen können, weshalb die Pfälzer Stimmen aus der ganzen Berechnung über- haupt abzuziehen ſind. Aus den Parteien Deutſche Demokratiſche Partei. Der Kreisverband München hält Dienstag, den 15. Januar, abends ½8 Uhr, im Kreuzbräu, Brunnſtraße 7 (Saal 2), ſeine ordentliche Jahreshauptverſammlung ab. Nach Erledigung der geſchäftlichen Angelegenheiten (Jahresbericht uſw.) wird der Vorſitzende der demokratiſchen Stadtratsfraktion, Stadtrat Karl Hübſch, über „Die Tätigkeit der de- mokratiſchen Stadtratsfraktion im Münchener Rathaus“ ſprechen. Zutritt nur gegen Mitgliedsausweis. Deutſche Volkspartei. Die Ju- gendgruppe Iſargau der Deutſchen Volkspartei (Nationalliberale Partei) veranſtaltet am Montag, den 14. Januar, abends 8 Uhr, im großen Mathildenſaal, Mathildenſtr. 5, einen Gedenkabend anläßlich des Jahrestages der Reichsgründung. Es ſpricht Reichstagsab- geordneter, Generalleutnant Karl v. Schoch. Oberſpielleiter Fritz Baſil wird vaterländiſche Dichtungen vortragen. Alle Anhänger des Reichs- gedankens auf nationaler Grundlage ſind ein- geladen, an der Kundgebung teilzunehmen. Der Eintritt iſt unentgeltlich. _ Der Meiſter des jüngſten Tages. 12 Roman von Leo Perutz. Gehorſam erhob ich die Hand und fuhr auf aus Schlaf und Traum und ſaß allein auf der naßkalten Bank. Wahrhaftig, ich war krank, der Froſt ſchüttelte mich, meine Zähne ſchlugen wild aneinander. Ich wollte nach Hauſe, ohne Ab- ſchied, einfach davongehen, man brauchte mich nicht, wer brauchte mich denn? Dina und Felix, die wußten ſelbſt, was ſie zu tun hatten, und Doktor Gorski war ja auch da, ich ſtand allen nur im Wege. — Gute Nacht, Garten! Gute Nacht du, Mundharmonika, Gefährtin dieſer einſamen Stunde — lieber, alter Eugen, gute Nacht für alle Zeit! Ich gehe, ich laſſe dich allein, du brauchſt mich nicht mehr. — Ich ſtand auf, müde, durchnäßt und durch- froren, ich wollte gehen und taſtete nach meinem Hut. Aber ich fand ihn nicht und konnte mich nicht darauf beſinnen, wo ich ihn gelaſſen hatte. Und während ich auf dem Gartentiſch nach ihm ſuchte, ſtieß meine Hand auf das Buch, das hier ſeit vielen Tagen oder Wochen aufgeſchlagen lag. Vielleicht war es, weil meine Finger die regen- feuchten Blätter berührten, vielleicht war ein kalter Windſtoß ſchuld, der in dem Augenblick, da ich mich zum Gehen wandte, mein Geſicht traf: Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fühlte plötzlich den Hauch und Duft eines längſt ver- gangenen Tages um mich, nur eine Sekunde lang, aber in dieſer Sekunde ſtand er lebendig vor meinen Augen und ich erkannte ihn wieder. Ein Herbſtmorgen, draußen auf den Hügeln vor der Stadt, von den Aeckern her kam der Geruch des welkenden Kartoffelkrautes. Wir gingen den Waldweg hinauf, vor uns ſtand die grüne Hügelwand und über den Baumwipfeln trieb ein ferner, weißer Dunſt. Wie eine Ahnung kommenden Froſtes lag es auf der Landſchaft, kühl und klar war der blaue Herbſthimmel, und zu beiden Seiten des Weges ſtanden brennendrot die Hagebuttenbüſche. Während wir gingen, lehnte Dinas Kopf an meiner Schulter, der Wind trieb ſein Spiel mit den kurzen, braunen Locken auf ihrer Stirne. Einmal blieben wir ſtehen, und ſie ſagte Verſe vor ſich hin, Verſe von herbſtlich roten Blättern und von dem ſilbernen Dunſt, der über den Hügeln lag. Dann verſchwand das Bild, verging ſo jäh, wie es gekommen war. Aber eine andere Erinnerung tauchte in mir auf: Ein Haus hoch oben in den Bergen, Silveſternacht, Schnee- wächten ringsumher, an den Fenſtern eine dicke Eisſchicht — wie gut, daß der Wirt den kleinen Eiſenofen in meine Stube geſtellt hat, er kniſtert und ſprüht Funken und iſt weiß vor Glut. Draußen kratzt mein Hund an der Türe und winſelt und will zu uns herein. — „Das iſt Zamor,“ ſagte ſie leiſe. „Mach’ ihm doch auf. Der wird mich nicht verraten.“ Und ich machte mich los von Dinas Lippen und aus Dinas Armen, um ihm zu öffnen, und einen kurzen Augenblick lang dringt durch die Türe ein kalter Luftzug zu uns herein und Gläſerklirren und gedämpfte Tanzmuſik. — Dann war auch dieſes Bild verſchwunden, nur das Gefühl der Kälte blieb und die Tanzmuſik, die von drüben her aus dem Küchenfenſter kam. Und in mir war wilde Verzweiflung und ein ſtechender Schmerz — wie, um Gottes willen, iſt es gekommen, daß wir einander ſo fremd gewor- den ſind? ſchrie es auf in mir. — Kann denn das ſein, daß das verſchwindet, was einmal zwei Menſchen miteinander verbunden hat? Wie iſt es möglich, daß wir heute einander gegenüber geſeſſen ſind wie zwei Fremde und hatten einan- der nichts zu ſagen! Wie hat es nur geſchehen können, daß ſie mir ſo plötzlich aus den Armen geglitten iſt, und ein anderer hält ſie an ſich gepreßt, und ich, ich bin es jetzt, der draußen ſteht und an der Türe kratzt und winſelt. Und jetzt, in dieſem Augenblicke erſt, drang es in mein Bewußtſein, daß jener andere tot war; und dieſes Wort „tot“, was es bedeutete, in dieſer Sekunde erſt verſtand ich es. Und Staunen und Ueberraſchung ergriff mich bei dem Gedanken an dieſes Spiel des Zufalls, daß ich hier war, gerade heute und in dieſer Stunde, daß ich zur Stelle war, da das Schickſal winkte. — Nein! Das war kein Spiel des Zu- falls, das war mir ſo beſtimmt geweſen, weil es unabänderliche Geſetze gibt, denen wir gehorchen. Und nun, da es geſchehen war, hatte ich davon gehen wollen, hatte mich fortſtehlen wollen, — ich verſtand nicht, wie nur dieſer Gedanke hatte kommen können. Und oben ſaß Dina, ſaß im dunkeln Zimmer und wartete: „Du biſt es, Gottfried? Du biſt ſo lange fort- geblieben —“ „Ich bin aufgeſtanden, Liebſte, um die Türe zu öffnen. Du wollteſt es ja. Da bin ich wieder.“ Noch immer war Licht im Pavillon. Ich ſtand hinter dem Stamm eines Kaſtanienbaumes ver- borgen und wartete. Die Tür öffnete ſich, und ich hörte Stimmen. Felix war es, der heraustrat, er trug eine Laterne in der Hand und ging langſam auf das Haus zu. Hinter ihm kamen wie ein Schatten zwei Ge- ſtalten: Dina und Doktor Gorski. Sie ſah mich nicht. „Dina,“ ſagte ich noch einmal. Da ließ ſie Doktor Gorkis Hand los und machte einen Schritt auf mich zu. Die Laterne glitt die Stufen hinauf und ver- ſchwand im Haustor. Einen Augenblick lang noch ließ mich ihr Schein Dinas Geſtalt er- kennen, einen Augenblick lang warfen die Bäume Schatten und die Büſche und das Efeugeranke — dann lag der Garten wieder in tiefer Dunkel- heit. „Sie ſind noch da?“ hörte ich Dinas Stimme dicht vor mir. „Was ſuchen Sie noch hier?“ Irgend etwas glitt über meine Stirne wie eine leichte, warme Hand. Ich griff danach, — es war nur ein welkes Kaſtanienblatt, das von der Baumkrone herab zur Erde taumelte. „Meinen Hund Zamor hab’ ich geſucht,“ ſagte ich leiſe und das ſollt’ ihr ſagen, daß ich an die vergangenen Zeiten gedacht hatte. Ein langes Schweigen. „Wenn Sie einen Funken Menſchlichkeit in ſich haben,“ kam endlich Dinas Stimme leiſe und verzagt zu mir, „dann gehen Sie jetzt, gehen Sie ſogleich.“ (Fortſetzung folgt.)

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-12-19T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 13. Januar 1924, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine12_1924/4>, abgerufen am 18.12.2024.