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Allgemeine Zeitung, Nr. 126, 16. März 1908.

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Der Sonntag
[Spaltenumbruch]
Friedrich der Große
im Lichte ſeiner Werke.
1)

Es iſt nicht nötig, daß ich lebe, wohl aber, daß ich meine
Pflicht tue, und für das Vaterland kämpfe, um es zu retten. (An
Argens, 18. Oktober 1760.)

An der Stelle, wo ich ſtehe, muß man handeln, als ſollte
man nie ſterben. Wer nur noch Augenblicke zu leben hat, hat
nichts zu verbergen. (An den Thronfolger, 1757.)

Man muß für ſein Vaterland kämpfen und fallen, wenn man
es retten kann, und wenn nicht, iſt’s Schimpf, es zu überleben.
(An Voltaire.)

Meine Geſundheit und Herzenszufriedenheit ſind mir ſehr
gleichgültig, ich denke gar nicht daran. (An Argens, 1759.)

Mein einziger Troſt iſt, daß ich ſterben werde, den Degen in
der Hand. (An Argens, 1759.) Solche Reflexionen, die mir das
Leben äußerſt gleichgültig machen, ſind gerade die rechten für
jemand, der ſich bis zum Aeußerſten ſchlagen will. Mit ſolcher
Entäußerung vom Leben kämpft man am mutigſten und verläßt
dieſen irdiſchen Aufenthalt ohne Bedauern. (1759. Ebenda.)

Wir können unglücklich ſein, doch wir werden nie entehrt ſein.
(An Wilhelmine nach der Schlacht von Roßbach.)

All dieſe Unglücksſchläge werfen mich nicht nieder, ich gehe
meinen geraden Weg nach dem beſchloſſenen Plane. (An Prinz
Heinrich vor Leuthen.)

Teſtament vor der Schlacht, für den Fall ich getötet werde.
Eine Niederlage überlebe ich keinesfalls, und dann brauche ich
dem Erben nichts mehr zu raten, wenn alles verloren iſt. Falle
ich im Siege, ſo ſoll mein Nachfolger über den Frieden unter-
handeln. Im übrigen will ich in Sansſouci beerdigt ſein, ohne
jeden Pomp und bei Nacht.

Kabinengenoſſen.

Es ſcheint, als ob jenes Weltgeſetz der Entwicklung, daß
alles einmal wiederkehrt, und daß es nichts gibt, was es
nicht ſchon einmal ſo oder in ähnlicher Form gegeben hat,
auch im Verkehrsleben waltet. Das Reiſen in alter Zeit
bis zu den Tagen der ſeligen Poſtkutſche nötigte alle Paſſa-
giere zu engſtem Zuſammenſchluß; tagelang mußten oft die
Inſaſſen eines Vehikels den ſchmalen Raum mit einem
halben Dutzend Fahrgäſte teilen. Die vollſtändige Um-
wälzung im Verkehrsweſen ſeit dem Siegeszug der Eiſen-
bahn machte dieſem Zwang ein Ende oder beſchränkte ihn
auf wenige Stunden. Denſelben Fortſchritt zur größeren
Freiheit des einzelnen zeigte in noch verſtärktem Maße das
Beherbergungsweſen. In den alten Gaſthäufern mußten
die Reiſenden eng zuſammenrücken, ſo eng, daß ſie eine große
Familie zu bilden ſchienen und etwaige Abſonderungs-
gelüſte keine Ausſicht hatten, ſie in die Tat umſetzen zu kön-
nen. Die moderne Entwicklung des Hotelweſens verſchaffte
der Individualität ihr Recht und ſuchte jeden Gaſt nach
Möglichkeit zu iſolieren. Nur eine Erſcheinung der engen
Reiſe- und Herbergsgenoſſenſchaft von dazumal hat ſich
[Spaltenumbruch] vielerorts bis heute zu behaupten gewußt: die berühmte
Table d’hote, von den einen geſchätzt, von den anderen als
unerwünſchter Zwang gefürchtet und gern gemieden.

Aber es kehrt alles wieder, auch die Reiſegenoſſenſchaft.
Wieder ſehen wir, wie es damals war, daß ſich ganze Grup-
pen von Wanderluſtigen zu gemeinſchaftlicher Fahrt ver-
einigen; allerdings nicht aus Furcht vor Gefahren, ſondern
um unter ſachkundiger Führung bequemer und vielleicht
auch billiger zu reiſen, als es ihnen auf der Alleinreiſe mög-
lich wäre. Das ſind die Teilnehmer der Geſellſchaftsreiſen,
die von Spezialinſtituten arrangiert werden und ſich heute
bereits über den ganzen Erdball ausbreiten. Von dieſer
Reiſegenoſſenſchaft ſoll aber hier nicht die Rede ſein, ſon-
dern von einer anderen, intimeren, die mit der mächtigen
Entfaltung des Seeverkehrs und der Beliebtheit der Exkur-
ſionsſchiffe zuſammenhängt. Ich meine die Kabinen-
genoſſenſchaft. Daß ſie für den Seereiſenden eine gewiſſe
Zwangslage bedeutet, die nicht gerade als übermäßige An-
nehmlichkeit empfunden wird, darüber ſind ſich wohl alle
einig. Aber ins Notwendige muß man ſich fügen, und die
Kabinengenoſſenſchaft iſt ſchwer vermeidlich, aus dem ein-
fachen Grunde, weil die Oekonomie des Raumes auf unſeren
großen Dampfern, bei deren Bau jedes Kubikmeter eine
wichtige Rolle ſpielt, die Einrichtung von Kabinen zum
Alleinbewohnen nur in beſchränktem Maße zuläßt. Im all-
gemeinen ſind alle Kabinen erſter Klaſſe für zwei Reiſende
eingerichtet; und es gibt nur eine verhältnismäßig kleine
Anzahl von Kabinen mit nur einem Bett, die dafür aber,
um dieſe Annehmlichkeit wieder auszugleichen, oft ungünſtig
gelegen ſind.

Das Ideal eines Alleinreiſenden, der eine große, viel-
leicht wochenlange Seereiſe vor ſich hat, iſt natürlich die
Alleinbenutzung einer Kabine, und ſelbſt der geſelligſte
Menſch wird wohl ſchwerlich das Verlangen haben, ſeine
enge Klauſe lange Zeit hindurch mit einem ihm gänzlich
fremden, vom Zufall beſtimmten Paſſagier zu teilen. Jeder
gibt ſich deshalb der Hoffnung hin, daß das Schiff nicht
ſtark beſetzt und es möglich ſein wird, eine Kabine allein zu
beherrſchen. Mit wachſender Spannung blickt der an Bord
geſtiegene Reiſende dem Augenblick entgegen, wo er die
Ehre und das Vergnügen hat, ſeinen Kabinengenoſſen ken-
nen zu lernen. Wer wird es ſein? Wie wird er ausſehen?
Welche Eigentümlichkeiten wird er haben? Das ſind die
Fragen, die durch den Kopf gehen und einen nervöſen Rei-
ſenden geradezu beunruhigen. Ja, wenn man noch irgend-
einen Einfluß auf die Wahl des Kabinengenoſſen ausüben
und Schillers Mahnung: „Drum prüfe, wer ſich ewig bin-
det“ befolgen könnte! Aber das iſt wohl nur in den ſelten-
ſten Fällen möglich, und im allgemeinen ſpricht Se. Majeſtät
der Zufall, der die Welt regiert, auch hier das entſcheidende
Wort. Dieſer Zufall verleugnet ſeinen alten Hang zur Bos-
heit mitunter nicht. Er liebt es, die kraſſeſten Gegenſätze
aneinanderzuſchmieden und Antipoden des Gefühls und der
Geſinnung zum engſten Zuſammenſchluß zu verurteilen.

Glücklicherweiſe hat Knigges „Umgang mit Menſchen“,
obwohl das Buch bloß zitiert und niemals geleſen wird,
nebſt all den anderen trefflichen Büchern, die über dieſe
Materie geſchrieben worden ſind und ebenfalls nicht ge-
leſen werden, einen nivellierenden, beſänftigenden Einfluß
auf unſere Umgangsformen ausgeübt und uns gelehrt, die
Triebe der Individualität zugunſten der Geſellſchaftstriebe
einzudämmen. Wie weit wir darin gehen ſollen, darüber
kann man überall verſchiedener Meinung ſein, nur nicht im
Punkte der Kabinengenoſſenſchaft. Da heißt es hübſch Rück-
ſicht aufeinander nehmen und alles vermeiden, was vom
anderen übel vermerkt werden und ein Unbehagen oder
gar eine gereizte Stimmung erregen könnte. Wer viel auf
See gereiſt iſt, weiß aus Erfahrung, daß dieſe Kabinen-
genoſſenſchaften, obwohl ſie jedem ein gewiſſes Maß von
Entſagung auferlegen, im allgemeinen friedlich verlaufen;
aber es gibt auch Ausnahmen. Auf jeder langen Reiſe
findet man an Bord einen Krakehler, dem es unmöglich zu
[Spaltenumbruch] ſein ſcheint, ſich mit Würde in den unvermeidlichen Zwang
zu fügen. Solche Leute, die das Recht ſich „auszuleben“,
wie es heute ſo ſchön heißt, in jeder Lebenslage bean-
ſpruchen, ſcheinen nur zu dem Zweck zu reiſen, ſich ſelbſt
und den anderen das Leben ſchwer zu machen. Jeder Ober-
ſteward an Bord eines großen Dampfers weiß von dieſen
angenehmen Typen ein Lied zu ſingen. Sie ſind es, die
gleich nach der Abfahrt wütend ins Bureau des Ober-
ſtewards ſtürmen mit dem Erſuchen, ihnen einen anderen
Tiſchplatz anzuweiſen, weil die Nachbarn unausſtehlich
wären; ſie ſind es, die entrüſtet räſonieren, weil man ihnen
nicht die allerbeſte Kabine reſerviert hat, ſelbſtverſtändlich
zum Alleinwohnen. Sie bringen es fertig, fünf Minuten
ſpäter, nachdem ſie ihren Kabinengenoſſen kennen gelernt
haben, bereits ein vernichtendes Urteil über den Unglück-
lichen zu fällen und jedem, der es hören will, zu erzählen,
welches Pech man mit „ſolchen Leuten“ hat. Daß ſie ſelbſt
aber vielleicht die allerbedenklichſten Qualitäten zum
Reiſegenoſſen beſitzen, das bekümmert ſie nicht, denn ſie
ſind gewöhnt, ſtets nur an ſich zu denken und ihren allzu
perſönlichen Standpunkt als den allein richtigen zu be-
trachten.

Iſt der Reiſende, dem der Zufall einen derartigen
Schikaneur zum Genoſſen gibt, ein Mann von ruhiger
Energie, ſo wird er ihn bald merken laſſen, daß er ein ag-
greſſives Weſen oder irgendwelche Uebergriffe unter keinen
Umſtänden geſtattet. Nun gibt es aber ſchwache Naturen,
die nicht die Fähigkeiten beſitzen, läſtige Menſchen in ihre
Schranken zurückzuweiſen, und die dann in einen ſolchen
Zuſtand der ſtillen Verärgerung und des heimlich lodern-
den Ingrimms geraten, daß ſie das Ende der Seefahrt als
eine Erlöſung betrachten. Auf kleine, nicht allzu bösartige
Eigentümlichkeiten und Schwächen wird jeder vernünftige
Reiſende Rückſicht nehmen; aber grobe Rückſichtsloſigkeiten
braucht ſich niemand gefallen zu laſſen. So gibt es z. B.
Menſchen, die am Tage ſehr nett und angenehm ſein kön-
nen, ſich des Nachts aber als unverbeſſerliche Schnarcher
entpuppen. Wer jemals das Vergnügen hatte, mit einem
Angehörigen dieſer weitverbreiteten Spezies einen Schlaf-
raum teilen zu müſſen, der weiß, was das bedeutet. Wer,
einem pathologiſchen Zwange unterliegend, ſchnarcht und
von dieſem Zuſtande Kenntnis hat, darf unter keinen Um-
ſtänden einem Nebenmenſchen zumuten, daß er ſich Nacht
für Nacht anhört, wie er ſtundenlang die dickſten Aeſte
durchſägt, und es iſt einem gequälten Zwangshörer eines
ſolchen Konzertes nicht zu verargen, wenn er ſchließlich zu
draſtiſchen Mitteln der Selbſtverteidigung greift. Da gibt
es ferner rückſichtsloſe Menſchen von reizender Naivität, die
mit lächelnder Miene erzählen, daß ſie nur bei brennendem
Licht ſchlafen können, und die es dann furchtbar übelneh-
men, wenn der Genoſſe ſich einen beſcheidenen Proteſt er-
laubt. Andere wiederum ſind von dem an ſich ſehr lobens-
werten Triebe beſeelt, ihren Körper durch Gymnaſtik zu
ſtärken. Sie tun ganz ſo, als wenn ſie zu Hauſe wären, und
beginnen in der engen Kabine abends beim Zubettgehen
oder morgens bei der Toilette in einer Weiſe zu „müllern“,
daß es mehr eigenartig als ſchön iſt. Andere wiederum
entpuppen ſich als Hypochonder mit den läſtigſten Ange-
wohnheiten und verwandeln die Kabine in ein Lazarett,
indem ſie jedes verfügbare Plätzchen mit duftenden Me-
dizinflaſchen und hygieniſchen Artikeln beſetzen und ihrem
armen Genoſſen die Ohren vollſtöhnen über ihren Zuſtand.
Man kann mit ſolchen Hypochondern keine Stunde lang zu-
ſammen ſein, ohne daß man die Geſchichte all ihrer über-
ſtandenen Leiden und den vorausſichtlichen Entwicklungs-
gang der noch zu erwartenden Krankheiten vernehmen
muß. Dann gibt es wieder Menſchen, die die liebens-
würdige Schwäche haben, fortwährend vor ſich hin zu träl-
lern und zu ſummen, oder die unverwüſtliche Schwätzer ſind
und Anekdotenjäger mit den allerälteſten Kalauern.

Aber genug von dieſen Greueln. Man findet ja glück-
licherweiſe unter den Kabinengenoſſen auch ſo vernünftige

[Spaltenumbruch]
Meeresfahrt.

„Der leukatiſche Felſen, von dem Sappho ſich ins Meer
ſtürzte,“ ſagte der Kommandant des Simeto, zu Bianca
Savini tretend, der jungen, ſchönen Reiſenden, die ihn ſeit
drei Tagen mit einer Ausdauer vermied, die faſt an
Unhöflichkeit grenzte.

„Ich weiß,“ antwortete das junge Mädchen, ohne den
Kopf zu wenden, indem ſie ſich noch feſter an die Bruſt-
wehr der Kommandobrücke lehnte, die ſie kurz vorher er-
ſtiegen hatte, weil ſie ſicher zu ſein glaubte, daß der Kom-
mandant ſie jetzt während der Dinerſtunde nicht überraſchen
konnte.

„Hat es Ihnen der Steuermann geſagt?“

„Nein; vor drei Jahren ſagte es mir der Kommandant
des Nilo auf der Hinreiſe. Auf irgend eine Weiſe muß
ich doch nach Smyrna gekommen ſein, meinen Sie nicht?“

Ein friſches Lachen begleitete die etwas ſpöttiſche Rede.

„Wie hieß jener Kapitän?“

„Ich erinnere mich nicht mehr.“

„Iſt’s möglich?“

„Sehr möglich,“ beſtätigte Bianca ernſt, im ſtillen er-
freut über den Blitz der Eiferſucht, den ſie in des Kapitäns
Augen hatte aufleuchten ſehen.

„Machte er Ihnen den Hof?“

„Ein wenig aber in liebenswürdiger Weiſe, nicht ſo
wild, wie Sie.“

„Er war wahrſcheinlich kein Sizilianer, wie ich.“

„Das ſtimmt; ich glaube er ſtammte aus den Marchen.“

„Alſo kühl und ruhig, unfähig einer großen Leiden-
ſchaft, wie auch die Umbrier.“

„Kennen Sie ſo viele Umbrier?“

„Ich kenne Sie, das genügt.“

„Adieu, Kapitän,“ ſagte Bianca, raſch der ſchmalen
Treppe zuſchreitend.

„Warten Sie ... ich muß Sie ſprechen,“ flüſterte der
Kapitän, ihr folgend.

[Spaltenumbruch]

„Kommen Sie in meine Kabine,“ flehte er voll Leiden-
ſchaft.

„Ich bitte Sie, quälen Sie mich nicht mehr.“

„Sie ſind mir noch eine Antwort ſchuldig, das wiſſen
Sie ... ich muß die Antwort haben, heute noch, gleich...“

Zögernd war Bianca auf der letzten Stufe ſtehen ge-
blieben. Sie hätte wer weiß wie viele Jahre ihres Lebens
dafür gegeben, wenn ſie ihm eine kühle, ablehnende Ant-
wort zu geben vermocht hätte. Aber ſie vermochte ſich dem
Zauber dieſes ſchönen, jungen, feurigen Mannes nicht zu
entziehen, ſie fühlte, daß ſie in ſeiner Macht war, wie das
ſchlanke, ſchnelle Schiff, auf dem ſie ſtand, in der Gewalt
des Meeres.

„Quälen Sie mich nicht mehr; ich bitte Sie, es iſt nutz-
los, weiter darüber zu ſprechen... Ich werde Ihnen heute
und morgen und immer, immer nur die gleiche Antwort
geben können, die ich Ihnen geſtern gab.“

„Nein, Bianca, entſchuldigen Sie, daß ich Sie ſo zu
nennen wage,“ bat er, ihr Erröten bemerkend, „Sie haben
mir geſtern nicht geſagt, warum Sie ablehnen, und ich
glaube ein Recht darauf zu haben, Ihre Gründe zu kennen.
Sagen Sie mir warum und dann werde ich Sie nicht mehr
beläſtigen, auf Ehrenwort.“

„Nein, Kapitän, laſſen Sie mich in meine Kabine
gehen. Die Leute werden ohnehin ſchon bemerkt haben,
daß Sie und ich fehlen.“

„Was liegt an denen, Bianca; in wenigen Tagen wird
jeder ſeines Weges gehen und keiner wird mehr an Sie
denken. Nur ich werde, wenn Sie meine Bitte nicht er-
füllen, mein Leben lang unter der Erinnerung leiden.“

Er hatte ſie bei der Hand gefaßt und zog ſie mit ſanfter
Gewalt zu ſeiner Kajüte, die er durch alle möglichen, auf
ſeinen Reiſen erworbenen Merkwürdigkeiten in ein win-
ziges, orientaliſches Muſeum verwandelt hatte.

„Nein, nein,“ ſträubte ſich Bianca noch einmal an der
Türe. „Nicht jetzt, wir können heute nacht auf der Kom-
mandobrücke ſprechen.“

„Nein, jetzt, jetzt,“ entgegnete er eigenſinnig, hinter
ihr eintretend und die Türe halb offen laſſend.

Dem jungen Mädchen war das nicht entgangen, und
wenn ſie auch von ſeiner Seite keine Taktloſigkeit befürch-
[Spaltenumbruch] tete, ſo war ſie ihm doch dankbar dafür und lächelte ihm
freundlich zu. Sie hatte nun auch ihre Unentſchloſſenheit
abgeſtreift und brach zuerſt das Schweigen.

„Sehen Sie, Kapitän, Ihr Töchterchen braucht eine
ältere, erfahrenere Erzieherin als ich bin. Ich habe es
Ihnen ſchon geſagt, Kapitän, es iſt eine zu ſchwere Auf-
gabe für mich, ein mutterloſes Kind, dem auch noch die
ſtändige Ueberwachung des Vaters fehlt, zu erziehen.“

„Aber es handelt ſich ja nicht mehr um mein Töchter-
chen allein, das wiſſen Sie wohl, Bianca,“ unterbrach ſie
der Kapitän, ſie mit flammenden Blicken betrachtend. „Es
handelt ſich auch um mich und meine verlotene Ruhe, die
nur Sie mir wiedergeben können.“

„O, ſehen Sie, wie recht ich hatte, daß ich Sie nicht an-
hören wollte? Was erwarten Sie eigentlich von mir? Daß
ich mich unter der Maske einer Erzieherin in Ihr Haus
einſchmuggle, um dann als halbe Herrin, als Ihre Geliebte
dort zu bleiben, bis mich eine Laune Ihrer Tochter oder
Ihrer ſelbſt vertreibt, wenn es Ihnen in den Sinn kommt,
die „andere“, Ihr Weib, wieder zu ſich zu rufen? Ich bin
jung und rein und kann mir mein Brot auf ehrliche Weiſe
verdienen. Und wenn mir jemand ein Heim bieten will,
dann glaube ich verlangen zu können, daß dieſes Heim für
mich bereitet ſei, daß der Mann, der mich liebt, keine andere
Kette trägt, als die meine Arme um ihn legen ſollen.
Haben Sie mich nun verſtanden? Kennen Sie nun meine
Gründe?“

„Bianca? Iſt’s möglich, daß Ihre Augen lügen? Daß
ſie verſprechen und nicht halten?“

„Meine Augen? Haben die Ihnen etwas verſprochen?“
unterbrach ihn das ſchöne Mädchen in ſpöttiſchem Tone.
Sie war tief erblaßt und erzitterte unwillkürlich unter den
heißen Blicken des Mannes, der ſich ſchon Sieger fühlte.

„Ja, Bianca, daß Sie mich lieben,“ antwortete er mit
feſter Stimme.

„Daß ich Sie liebe?“

„Ja, ja, auch die anderen haben das gemerkt.“

„Auch die anderen, ... und Sie? ... Sie?“ ... preßte
Bianca hervor, nicht imſtande, den Gedanken Ausdruck zu
geben, die Sie beſtürmten.

1) Ein Seelenbild von Karl Bleibtreu. (Aus der
Gedankenwelt großer Geiſter. Eine Sammlung von Auswahl-
bänden, herausgegeben von Lothar Brieger-Waſſervogel. Bd. 8.
Verlag von Robert Lutz in Stuttgart.)

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 126, 16. März 1908, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine126_1908/13>, abgerufen am 02.03.2025.