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Allgemeine Zeitung, Nr. 10, 10. Januar 1872.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 10. Augsburg, Mittwoch, 10 Januar 1872.


Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. Für die Redactien verantwortlich: Dr. J. v. Gosen.



[Spaltenumbruch]
Uebersicht.

England im Jahre 1871. II. Innere Politik.
Das Ausschußgutachten über den Lasker'schen Antrag.
Aus der französischen Nationalversammlung.
Deutsches Reich.
Aus Bayern: Der neue Fahneneid. Aus Baden:
Aus dem Landtage. Maß und Gewicht. Post. Militärisches. Berlin: Prof.
Th. Mommsen und Napoleons "Cäsar." Französische Bestechungsversuche.
Prinz Friedrich Karl. Dr. Goltdammer +. Ernennungen. Die Competenzerwei-
terung der Reichsgesetzgebung. Diplomatisches. Aus dem Elsaß: Eindruck
der neuen Verwaltungsorganisation. Hr. v. Möller. Aufschwung der Industrie.
Stimmung. Militärfrage.
Oesterreichisch-ungarische Monarchie. Aus Oesterreich: Erklärung
des Exministers Hohenwart. Die Polen. Altkatholisches. Die Ungarn. Wien:
Die Adresse. Vom Reichsrath. Erwartete Regierungsvorlagen. Hr. v. Holz-
gethan. Der Credit.
Großbritaunien. Innere Fragen. Hofnachrichten. Capital und Arbeit.
Frankreich. Die Nationalversammlung. Der Herzog v. Gramont vor der
Commission. Deutsche Ehrlichkeit. Exgeneral Cremer. Die Capitulation der
Sorbonne. Complott des Finanzausschusses. Auflösung der National-
versammlung.
Italien. Rom: Die Sendung des Generals Pralormo. Der Tod des Hrn.
v. Dönniges.
Rumänien. Bukarest: Beendigung der Eisenbahndebatten.
Industrie, Handel und Verkehr.
Neueste Posten.
London: Vom Hof. New-York: Mordanfall.



Telegraphische Berichte.

Das Nesultat der Ergänzungswahlen ist: in Paris,
Mezieres, Nimes, Besancon, Oran, Lille sind 8 Republicaner, in Limoges, Cham-
bery, Amiens, Pau 4 Conservative, in Arras ist 1 Bonapartist, in Draguignan,
Marseille, Grenoble sind 4 Radicale gewählt.


Nationalversammlung. Auf Vorschlag Thiers'
beschließt die Versammlung die Berathung der neuen Steuern beginne mit der
Mobiliareinkommensteuer, sodann folge die Prüfung der Frage: ob eine Erhöhung
der bestehenden Auflagen geboten sei, endlich folge die Besteuerung der Rohstoffe.
Die Berathung beginnt morgen. Hr. Thiers sprach sich aufs neue gegen die Be-
steuerung jedes Einkommens aus, er hielt Zuschläge auf alle bestehenden Abgaben
für undurchführbar, und schloß: "nur die Besteuerung der Nohstoffe ist möglich."


Eröffnungscurse. Oesterr. Creditaetien 345,
Staatsbahn 4043/4, 1860er L. 91, 1882er Amerikaner 96, Lombarden 2181/4, Silber-
rente 65, Bankactien 850. Tendenz: fest.


12 Uhr 10 M Anfangsbericht. Oesterr. Creditactien 197,
1860er L. 913/4, österr. franz. Staatsbahn 231, Lombarden 1241/4, Italiener 67,
1882er Amerikaner 97, Türken 493/4, Rumänier 453/4, Köln-Mindener Präm.-Anl 99,
Disconto-Commandit 2283/4, Galizier 1131/2. Stimmung: starke Kauflust.


Gelreidemarkt. (Schlußbericht.) Fremde Zufuhren: Weizen
17,633 Q., Gerste 17,478 Q., Hafer 30,198 Q., Englischer Weizen um 1 Sh. höher,
fremder bebauptet, Hafer um 1/2 Sh. höher. Anderes bessernd.


Baumwollbericht. Tagesumsatz 30,000 Ballen, hievon
12,000 B. für Speculation. Orleans 10, middl. Amerik. 10, fair Dhollera 7--8,
middl. fair Dhollera 7, good middl. Dhollera 7, middl. Dhollera 61/4, fair Bengal 61/4,
fair Omra 8, good fair Omra 81/4, Pernam 9, Smyrna 81/4. Egyptian 103/4, Bengal
Schiff genannt 6. Tagesimport 7816 B., davon amerikanische 5170 B.



Verschiedenes.

(Dr. Müller-Melchiors +.)

Der Tod räumt seit
kurzem unter unsern bekannten Persönlichkeiten, namentlich jenen der Finanzwelt, fürch-
lich auf. Nachdem wir eben erst den Baron Königswarter und den Hofrath Warrens be-
graben haben, verschied gestern hier der auch in Deutschland in weitern Kreisen bekannte
Dr. J. B. Müller-Melchiors. Derselbe war eine Zeitlang Director der österreichischen
Creditanstalt.


(Paul Jaccottet +.)

Gestern ist Paul Jaccottet, der
Director der bekanntlich unter den Auspicien Cavours gegründeten "Italie," an den
Blattern gestorben. Der talentvolle Publicist war erst 25 Jahre alt, und sein Verlust
ist ein schwerer Schlag für die Zeitung, deren Stellung mit dem politischen Umschwunge
des vorigen Jahres nicht ohne große Schwierigkeiten ist. (K. Z.)



England im Jahre 1871.
II.*)
Innere Politik.

Das Mirabeau'sche Wort daß in der Politik nur
die Inconsequenz unverzeihlich sei, bedarf bedeutender Modification um wahr zu
werden. Die Consequenz des Nichtsthuns mag noch so rein durchgeführt werden,
aber sie kann nie etwas schaffen, nie zur Beförderung des Gemeinwohls beitragen.
Das Schlechte wird dadurch nicht besser daß es consequent auftritt, sondern viel-
mehr noch schlechter, gefährlicher und verabscheuungswürdiger. Wenn aber Mira-
beau Necht hat, dann müssen wir England von seinen Begehungs- und Unter-
lassungssünden des vergangenen Jahrs unbedingt absolviren, denn consequent
war es nach außen und im Innern. Dieselbe thatlose Negation, dasselbe wider-
[Spaltenumbruch] standslose Zurückweichen von großen Positionen, dasselbe Bewußtsein der Schwäche,
derselbe Trost in schönen Gefühlen und gefühllosem Gelderwerb, welche wir als
die Hauptzüge der äußern Politik bezeichnet haben, finden wir auch maßgebend in
den innern Angelegenheiten. Das Ministerium Gladstone allein für die negativen
Resultate der politischen Jahresarbeit verantwortlich zu machen, ist sehr bequem,
aber offenbar ungerecht; denn wie der Kriegsminister Hr. Cardwell dieser Tage
zur Rechtfertigung seiner Collegen in Oxford richtig bemerkte: in England ist die
Regierung nur das Organ des Unterhauses und dieses wieder nur das Organ der
Nation. Es ist daher unmöglich für eine Negierung thätig zu sein wenn Parla-
ment und Volk unthätig sind, und umgekehrt der Trägheit zu huldigen wenn die
Nation arbeitet und so das Parlament mit Thatkraft erfüllt. Regierung und Par-
lament waren auch in diesem Falle nur die gehorsamen Organe der öffentlichen
Meinung. Die Nation im Ganzen und Großen wollte nichts gethan haben. Sie
war allen radicalen Aenderungen im Verfassungsleben, die nicht ohne stürmische
Bewegung hätten bewerkstelligt werden können, abhold; sie bedurfte der Ruhe und
des Gefühls der Stabilität, um mit desto größerer Objectivität und Sicherheit die
Erschütterungen des Festlandes zu beobachten und auszunutzen. Dieß müssen wir
festhalten wenn wir die auffallende Erscheinung begreifen wollen daß die stärkste
Regierung, welche England seit 50 Jahren mit der Leitung seiner öffentlichen An-
gelegenheiten zu betrauen vermochte, eine klägliche Ohnmacht bekundete, von Fehl-
geburt zu Fehlgeburt forttaumelte, mit allen ihren wichtigern Vorlagen im Par-
lament scheiterte, und schließlich die Herrschaft über sich selbst, über die große
Mehrheit, als deren Organ sie zur Macht gelangte, und über die öffentliche Mei-
nung des Landes verlor.

Schakespeare's goldene Lehre: treu gegen sich selbst zu bleiben, weil man
dann gegen niemanden falsch sein könne, wurde von dem Ministerium Gladstone
unbeachtet gelassen. Es blieb sich selbst, seinem Ursprunge, seinen Grundsätzen,
seinem Mandat nicht treu; daher zerfiel es in sich, wie die große liberale Partei
in deren Namen es zu handeln vorgab; daher machten ihm Freunde und Feinde
den Vorwurf der Täuschung. Es täuschte und verstimmte alle, und es befriedigte
eigentlich niemanden, nicht einmal seine eigenen Mitglieder. Seine besten Inten-
tionen scheiterten, und seine schlimmsten blieben erfolglos; es hatte die Macht zum
Guten wie zum Bösen verloren. Nach dem Verluste seiner Popularität war es
nur noch eine Erinnerung, ein zerfallendes Denkmal einstiger Größe, zerstörter
Hoffnungen, gebrochener Gelöbnisse. Seine unversöhnlichsten Gegner befinden sich
nicht unter der Tory-Opposition, sondern im eigenen Lager. Die einflußreichste,
compacteste und populärste Section der liberalen Partei, die "unabhängigen Libe-
ralen," haben sich von seiner Fahne zurückgezogen, alle Versöhnungsversuche sind
an ihrem tiefen Mißtrauen gescheitert. Sie können und wollen es dem Hrn. Glad-
stone nicht verzeihen daß er den mit ihnen und ihren Grundsätzen geschlossenen
Vertrag gebrochen, alle wahrhaft liberalen Maßregeln den conservativen Gegner
durch unsittliche Compromisse oder durch frivole Unthätigkeit geopfert hat. Gleich-
wohl dürfen wir nicht verkennen daß das Gladstone'sche Cabinet unter schweren
untoward events gelitten hat. Mit John Bright, der von physischer oder pfychi-
scher, wahrscheinlich von physischer, weil psychischer Krankheit, veranlaßt wurde
sich in das Privatleben zurückzuziehen, hatte es seinen eigentlichen politischen Mini-
ster verloren, seinen guten Genius. Es fehlte während der Parlamentssession des
letzten Jahrs das große belebende Princip, vor dem sich bisher die verschiedenen
Fractionen der liberalen Partei vertrauensvoll gebeugt hatten; es fehlte im Cabinet
selbst die anerkannte Autorität, welche die alten Whiggelüste zu zügeln und mit
den Forderungen des liberalen Bürgerthums zu versöhnen vermochte; es fehlte vor
allem die mächtige Stimme welche den hadernden Parteien mit ihren lärmenden
Intriguen und ihrem babylonischen Sprachgewirr Schweigen und Achtung ge-
bieten konnte, weil sie über die Mauern des Westminsterpalastes gedrungen und
unmittelbar an das Volksgewissen geschlagen hätte. Nach John Bright war Hr.
Childers genöthigt sich aus Gesundheitsrücksichten vom Gladstone'schen Cabinet
zurückzuziehen, dessen Mitglieder von einem Departement zum andern verschoben
wurden bis alles Vertrauen auf Stabilität in ihnen selbst und in der Nation zer-
stört war. Die "conservative Neaction," welche nur eine natürliche Reaction gegen
den Gladstone'schen Scheinliberalismus ist, wurde eine Wahrheit, stark genug um
die halbherzige, mit ihrem eigenen Ministerium und ihren eigenen politischen Lei-
stungen unzufriedene, liberale Partei in allen wichtigern Nachwahlen zu schlagen
und Hrn. Disraeli Chancen zu geben auf die noch vor einem Jahr seine begeistert-
sten Anhänger nicht zu hoffen wagten.

Die Parlamentssession begann mit einer vielversprechenden Thronrede, mit
einem ministeriellen Programm das in keinem Punkte durchgeführt werden sollte.
Das Ministerium versprach wichtige und von der öffentlichen Meinung seit Jahren
verlangte Maßregeln vor und durch das Parlament zu bringen. Die Universitäten
sollten für alle Glaubensbekenntnisse geöffnet, der Volksunterricht nach dem Muster
der englischen Schulbill in Schottland und in Irland verbessert, die Armee durch eine
allgemeine Reform den Armeen des Festlandes gleichgestellt, die Wahlfreiheit durch
geheime Stimmabgebung gesichert, Gemeinde- und Grasschaftsverwaltung nach den

*) S. "Allg. Ztg." Nr. 7.

Allgemeine Zeitung.
Nr. 10. Augsburg, Mittwoch, 10 Januar 1872.


Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. Für die Redactien verantwortlich: Dr. J. v. Goſen.



[Spaltenumbruch]
Ueberſicht.

England im Jahre 1871. II. Innere Politik.
Das Ausſchußgutachten über den Lasker’ſchen Antrag.
Aus der franzöſiſchen Nationalverſammlung.
Deutſches Reich.
Aus Bayern: Der neue Fahneneid. Aus Baden:
Aus dem Landtage. Maß und Gewicht. Poſt. Militäriſches. Berlin: Prof.
Th. Mommſen und Napoleons „Cäſar.“ Franzöſiſche Beſtechungsverſuche.
Prinz Friedrich Karl. Dr. Goltdammer †. Ernennungen. Die Competenzerwei-
terung der Reichsgeſetzgebung. Diplomatiſches. Aus dem Elſaß: Eindruck
der neuen Verwaltungsorganiſation. Hr. v. Möller. Aufſchwung der Induſtrie.
Stimmung. Militärfrage.
Oeſterreichiſch-ungariſche Monarchie. Aus Oeſterreich: Erklärung
des Exminiſters Hohenwart. Die Polen. Altkatholiſches. Die Ungarn. Wien:
Die Adreſſe. Vom Reichsrath. Erwartete Regierungsvorlagen. Hr. v. Holz-
gethan. Der Credit.
Großbritaunien. Innere Fragen. Hofnachrichten. Capital und Arbeit.
Frankreich. Die Nationalverſammlung. Der Herzog v. Gramont vor der
Commiſſion. Deutſche Ehrlichkeit. Exgeneral Cremer. Die Capitulation der
Sorbonne. Complott des Finanzausſchuſſes. Auflöſung der National-
verſammlung.
Italien. Rom: Die Sendung des Generals Pralormo. Der Tod des Hrn.
v. Dönniges.
Rumänien. Bukareſt: Beendigung der Eiſenbahndebatten.
Induſtrie, Handel und Verkehr.
Neueſte Poſten.
London: Vom Hof. New-York: Mordanfall.



Telegraphiſche Berichte.

Das Neſultat der Ergänzungswahlen iſt: in Paris,
Mézières, Nìmes, Beſançon, Oran, Lille ſind 8 Republicaner, in Limoges, Cham-
béry, Amiens, Pau 4 Conſervative, in Arras iſt 1 Bonapartiſt, in Draguignan,
Marſeille, Grenoble ſind 4 Radicale gewählt.


Nationalverſammlung. Auf Vorſchlag Thiers’
beſchließt die Verſammlung die Berathung der neuen Steuern beginne mit der
Mobiliareinkommenſteuer, ſodann folge die Prüfung der Frage: ob eine Erhöhung
der beſtehenden Auflagen geboten ſei, endlich folge die Beſteuerung der Rohſtoffe.
Die Berathung beginnt morgen. Hr. Thiers ſprach ſich aufs neue gegen die Be-
ſteuerung jedes Einkommens aus, er hielt Zuſchläge auf alle beſtehenden Abgaben
für undurchführbar, und ſchloß: „nur die Beſteuerung der Nohſtoffe iſt möglich.“


Eröffnungscurſe. Oeſterr. Creditaetien 345,
Staatsbahn 404¾, 1860er L. 91, 1882er Amerikaner 96, Lombarden 218¼, Silber-
rente 65, Bankactien 850. Tendenz: feſt.


12 Uhr 10 M Anfangsbericht. Oeſterr. Creditactien 197,
1860er L. 91¾, öſterr. franz. Staatsbahn 231, Lombarden 124¼, Italiener 67,
1882er Amerikaner 97, Türken 49¾, Rumänier 45¾, Köln-Mindener Präm.-Anl 99,
Disconto-Commandit 228¾, Galizier 113½. Stimmung: ſtarke Kaufluſt.


Gelreidemarkt. (Schlußbericht.) Fremde Zufuhren: Weizen
17,633 Q., Gerſte 17,478 Q., Hafer 30,198 Q., Engliſcher Weizen um 1 Sh. höher,
fremder bebauptet, Hafer um ½ Sh. höher. Anderes beſſernd.


Baumwollbericht. Tagesumſatz 30,000 Ballen, hievon
12,000 B. für Speculation. Orleans 10, middl. Amerik. 10, fair Dhollera 7—8,
middl. fair Dhollera 7, good middl. Dhollera 7, middl. Dhollera 6¼, fair Bengal 6¼,
fair Omra 8, good fair Omra 8¼, Pernam 9, Smyrna 8¼. Egyptian 10¾, Bengal
Schiff genannt 6. Tagesimport 7816 B., davon amerikaniſche 5170 B.



Verſchiedenes.

(Dr. Müller-Melchiors †.)

Der Tod räumt ſeit
kurzem unter unſern bekannten Perſönlichkeiten, namentlich jenen der Finanzwelt, fürch-
lich auf. Nachdem wir eben erſt den Baron Königswarter und den Hofrath Warrens be-
graben haben, verſchied geſtern hier der auch in Deutſchland in weitern Kreiſen bekannte
Dr. J. B. Müller-Melchiors. Derſelbe war eine Zeitlang Director der öſterreichiſchen
Creditanſtalt.


(Paul Jaccottet †.)

Geſtern iſt Paul Jaccottet, der
Director der bekanntlich unter den Auſpicien Cavours gegründeten „Italie,“ an den
Blattern geſtorben. Der talentvolle Publiciſt war erſt 25 Jahre alt, und ſein Verluſt
iſt ein ſchwerer Schlag für die Zeitung, deren Stellung mit dem politiſchen Umſchwunge
des vorigen Jahres nicht ohne große Schwierigkeiten iſt. (K. Z.)



England im Jahre 1871.
II.*)
Innere Politik.

Das Mirabeau’ſche Wort daß in der Politik nur
die Inconſequenz unverzeihlich ſei, bedarf bedeutender Modification um wahr zu
werden. Die Conſequenz des Nichtsthuns mag noch ſo rein durchgeführt werden,
aber ſie kann nie etwas ſchaffen, nie zur Beförderung des Gemeinwohls beitragen.
Das Schlechte wird dadurch nicht beſſer daß es conſequent auftritt, ſondern viel-
mehr noch ſchlechter, gefährlicher und verabſcheuungswürdiger. Wenn aber Mira-
beau Necht hat, dann müſſen wir England von ſeinen Begehungs- und Unter-
laſſungsſünden des vergangenen Jahrs unbedingt abſolviren, denn conſequent
war es nach außen und im Innern. Dieſelbe thatloſe Negation, dasſelbe wider-
[Spaltenumbruch] ſtandsloſe Zurückweichen von großen Poſitionen, dasſelbe Bewußtſein der Schwäche,
derſelbe Troſt in ſchönen Gefühlen und gefühlloſem Gelderwerb, welche wir als
die Hauptzüge der äußern Politik bezeichnet haben, finden wir auch maßgebend in
den innern Angelegenheiten. Das Miniſterium Gladſtone allein für die negativen
Reſultate der politiſchen Jahresarbeit verantwortlich zu machen, iſt ſehr bequem,
aber offenbar ungerecht; denn wie der Kriegsminiſter Hr. Cardwell dieſer Tage
zur Rechtfertigung ſeiner Collegen in Oxford richtig bemerkte: in England iſt die
Regierung nur das Organ des Unterhauſes und dieſes wieder nur das Organ der
Nation. Es iſt daher unmöglich für eine Negierung thätig zu ſein wenn Parla-
ment und Volk unthätig ſind, und umgekehrt der Trägheit zu huldigen wenn die
Nation arbeitet und ſo das Parlament mit Thatkraft erfüllt. Regierung und Par-
lament waren auch in dieſem Falle nur die gehorſamen Organe der öffentlichen
Meinung. Die Nation im Ganzen und Großen wollte nichts gethan haben. Sie
war allen radicalen Aenderungen im Verfaſſungsleben, die nicht ohne ſtürmiſche
Bewegung hätten bewerkſtelligt werden können, abhold; ſie bedurfte der Ruhe und
des Gefühls der Stabilität, um mit deſto größerer Objectivität und Sicherheit die
Erſchütterungen des Feſtlandes zu beobachten und auszunutzen. Dieß müſſen wir
feſthalten wenn wir die auffallende Erſcheinung begreifen wollen daß die ſtärkſte
Regierung, welche England ſeit 50 Jahren mit der Leitung ſeiner öffentlichen An-
gelegenheiten zu betrauen vermochte, eine klägliche Ohnmacht bekundete, von Fehl-
geburt zu Fehlgeburt forttaumelte, mit allen ihren wichtigern Vorlagen im Par-
lament ſcheiterte, und ſchließlich die Herrſchaft über ſich ſelbſt, über die große
Mehrheit, als deren Organ ſie zur Macht gelangte, und über die öffentliche Mei-
nung des Landes verlor.

Schakeſpeare’s goldene Lehre: treu gegen ſich ſelbſt zu bleiben, weil man
dann gegen niemanden falſch ſein könne, wurde von dem Miniſterium Gladſtone
unbeachtet gelaſſen. Es blieb ſich ſelbſt, ſeinem Urſprunge, ſeinen Grundſätzen,
ſeinem Mandat nicht treu; daher zerfiel es in ſich, wie die große liberale Partei
in deren Namen es zu handeln vorgab; daher machten ihm Freunde und Feinde
den Vorwurf der Täuſchung. Es täuſchte und verſtimmte alle, und es befriedigte
eigentlich niemanden, nicht einmal ſeine eigenen Mitglieder. Seine beſten Inten-
tionen ſcheiterten, und ſeine ſchlimmſten blieben erfolglos; es hatte die Macht zum
Guten wie zum Böſen verloren. Nach dem Verluſte ſeiner Popularität war es
nur noch eine Erinnerung, ein zerfallendes Denkmal einſtiger Größe, zerſtörter
Hoffnungen, gebrochener Gelöbniſſe. Seine unverſöhnlichſten Gegner befinden ſich
nicht unter der Tory-Oppoſition, ſondern im eigenen Lager. Die einflußreichſte,
compacteſte und populärſte Section der liberalen Partei, die „unabhängigen Libe-
ralen,“ haben ſich von ſeiner Fahne zurückgezogen, alle Verſöhnungsverſuche ſind
an ihrem tiefen Mißtrauen geſcheitert. Sie können und wollen es dem Hrn. Glad-
ſtone nicht verzeihen daß er den mit ihnen und ihren Grundſätzen geſchloſſenen
Vertrag gebrochen, alle wahrhaft liberalen Maßregeln den conſervativen Gegner
durch unſittliche Compromiſſe oder durch frivole Unthätigkeit geopfert hat. Gleich-
wohl dürfen wir nicht verkennen daß das Gladſtone’ſche Cabinet unter ſchweren
untoward events gelitten hat. Mit John Bright, der von phyſiſcher oder pfychi-
ſcher, wahrſcheinlich von phyſiſcher, weil pſychiſcher Krankheit, veranlaßt wurde
ſich in das Privatleben zurückzuziehen, hatte es ſeinen eigentlichen politiſchen Mini-
ſter verloren, ſeinen guten Genius. Es fehlte während der Parlamentsſeſſion des
letzten Jahrs das große belebende Princip, vor dem ſich bisher die verſchiedenen
Fractionen der liberalen Partei vertrauensvoll gebeugt hatten; es fehlte im Cabinet
ſelbſt die anerkannte Autorität, welche die alten Whiggelüſte zu zügeln und mit
den Forderungen des liberalen Bürgerthums zu verſöhnen vermochte; es fehlte vor
allem die mächtige Stimme welche den hadernden Parteien mit ihren lärmenden
Intriguen und ihrem babyloniſchen Sprachgewirr Schweigen und Achtung ge-
bieten konnte, weil ſie über die Mauern des Weſtminſterpalaſtes gedrungen und
unmittelbar an das Volksgewiſſen geſchlagen hätte. Nach John Bright war Hr.
Childers genöthigt ſich aus Geſundheitsrückſichten vom Gladſtone’ſchen Cabinet
zurückzuziehen, deſſen Mitglieder von einem Departement zum andern verſchoben
wurden bis alles Vertrauen auf Stabilität in ihnen ſelbſt und in der Nation zer-
ſtört war. Die „conſervative Neaction,“ welche nur eine natürliche Reaction gegen
den Gladſtone’ſchen Scheinliberalismus iſt, wurde eine Wahrheit, ſtark genug um
die halbherzige, mit ihrem eigenen Miniſterium und ihren eigenen politiſchen Lei-
ſtungen unzufriedene, liberale Partei in allen wichtigern Nachwahlen zu ſchlagen
und Hrn. Diſraeli Chancen zu geben auf die noch vor einem Jahr ſeine begeiſtert-
ſten Anhänger nicht zu hoffen wagten.

Die Parlamentsſeſſion begann mit einer vielverſprechenden Thronrede, mit
einem miniſteriellen Programm das in keinem Punkte durchgeführt werden ſollte.
Das Miniſterium verſprach wichtige und von der öffentlichen Meinung ſeit Jahren
verlangte Maßregeln vor und durch das Parlament zu bringen. Die Univerſitäten
ſollten für alle Glaubensbekenntniſſe geöffnet, der Volksunterricht nach dem Muſter
der engliſchen Schulbill in Schottland und in Irland verbeſſert, die Armee durch eine
allgemeine Reform den Armeen des Feſtlandes gleichgeſtellt, die Wahlfreiheit durch
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*) S. „Allg. Ztg.“ Nr. 7.
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[0001] Allgemeine Zeitung. Nr. 10. Augsburg, Mittwoch, 10 Januar 1872. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. Für die Redactien verantwortlich: Dr. J. v. Goſen. Ueberſicht. England im Jahre 1871. II. Innere Politik. Das Ausſchußgutachten über den Lasker’ſchen Antrag. Aus der franzöſiſchen Nationalverſammlung. Deutſches Reich. Aus Bayern: Der neue Fahneneid. Aus Baden: Aus dem Landtage. Maß und Gewicht. Poſt. Militäriſches. Berlin: Prof. Th. Mommſen und Napoleons „Cäſar.“ Franzöſiſche Beſtechungsverſuche. Prinz Friedrich Karl. Dr. Goltdammer †. Ernennungen. Die Competenzerwei- terung der Reichsgeſetzgebung. Diplomatiſches. Aus dem Elſaß: Eindruck der neuen Verwaltungsorganiſation. Hr. v. Möller. Aufſchwung der Induſtrie. Stimmung. Militärfrage. Oeſterreichiſch-ungariſche Monarchie. Aus Oeſterreich: Erklärung des Exminiſters Hohenwart. Die Polen. Altkatholiſches. Die Ungarn. Wien: Die Adreſſe. Vom Reichsrath. Erwartete Regierungsvorlagen. Hr. v. Holz- gethan. Der Credit. Großbritaunien. Innere Fragen. Hofnachrichten. Capital und Arbeit. Frankreich. Die Nationalverſammlung. Der Herzog v. Gramont vor der Commiſſion. Deutſche Ehrlichkeit. Exgeneral Cremer. Die Capitulation der Sorbonne. Complott des Finanzausſchuſſes. Auflöſung der National- verſammlung. Italien. Rom: Die Sendung des Generals Pralormo. Der Tod des Hrn. v. Dönniges. Rumänien. Bukareſt: Beendigung der Eiſenbahndebatten. Induſtrie, Handel und Verkehr. Neueſte Poſten. London: Vom Hof. New-York: Mordanfall. Telegraphiſche Berichte. * Paris, 8 Jan. Das Neſultat der Ergänzungswahlen iſt: in Paris, Mézières, Nìmes, Beſançon, Oran, Lille ſind 8 Republicaner, in Limoges, Cham- béry, Amiens, Pau 4 Conſervative, in Arras iſt 1 Bonapartiſt, in Draguignan, Marſeille, Grenoble ſind 4 Radicale gewählt. * Verſailles, 8 Jan. Nationalverſammlung. Auf Vorſchlag Thiers’ beſchließt die Verſammlung die Berathung der neuen Steuern beginne mit der Mobiliareinkommenſteuer, ſodann folge die Prüfung der Frage: ob eine Erhöhung der beſtehenden Auflagen geboten ſei, endlich folge die Beſteuerung der Rohſtoffe. Die Berathung beginnt morgen. Hr. Thiers ſprach ſich aufs neue gegen die Be- ſteuerung jedes Einkommens aus, er hielt Zuſchläge auf alle beſtehenden Abgaben für undurchführbar, und ſchloß: „nur die Beſteuerung der Nohſtoffe iſt möglich.“ * Frankfurt a. M., 9 Jan. Eröffnungscurſe. Oeſterr. Creditaetien 345, Staatsbahn 404¾, 1860er L. 91[FORMEL], 1882er Amerikaner 96[FORMEL], Lombarden 218¼, Silber- rente 65, Bankactien 850. Tendenz: feſt. * Berlin, 9 Jan., 12 Uhr 10 M Anfangsbericht. Oeſterr. Creditactien 197, 1860er L. 91¾, öſterr. franz. Staatsbahn 231, Lombarden 124¼, Italiener 67[FORMEL], 1882er Amerikaner 97, Türken 49¾, Rumänier 45¾, Köln-Mindener Präm.-Anl 99[FORMEL], Disconto-Commandit 228¾, Galizier 113½. 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Nachdem wir eben erſt den Baron Königswarter und den Hofrath Warrens be- graben haben, verſchied geſtern hier der auch in Deutſchland in weitern Kreiſen bekannte Dr. J. B. Müller-Melchiors. Derſelbe war eine Zeitlang Director der öſterreichiſchen Creditanſtalt. Rom, 3 Jan. (Paul Jaccottet †.) Geſtern iſt Paul Jaccottet, der Director der bekanntlich unter den Auſpicien Cavours gegründeten „Italie,“ an den Blattern geſtorben. Der talentvolle Publiciſt war erſt 25 Jahre alt, und ſein Verluſt iſt ein ſchwerer Schlag für die Zeitung, deren Stellung mit dem politiſchen Umſchwunge des vorigen Jahres nicht ohne große Schwierigkeiten iſt. (K. Z.) England im Jahre 1871. II. *) Innere Politik. △ London, 6 Jan. Das Mirabeau’ſche Wort daß in der Politik nur die Inconſequenz unverzeihlich ſei, bedarf bedeutender Modification um wahr zu werden. Die Conſequenz des Nichtsthuns mag noch ſo rein durchgeführt werden, aber ſie kann nie etwas ſchaffen, nie zur Beförderung des Gemeinwohls beitragen. Das Schlechte wird dadurch nicht beſſer daß es conſequent auftritt, ſondern viel- mehr noch ſchlechter, gefährlicher und verabſcheuungswürdiger. Wenn aber Mira- beau Necht hat, dann müſſen wir England von ſeinen Begehungs- und Unter- laſſungsſünden des vergangenen Jahrs unbedingt abſolviren, denn conſequent war es nach außen und im Innern. Dieſelbe thatloſe Negation, dasſelbe wider- ſtandsloſe Zurückweichen von großen Poſitionen, dasſelbe Bewußtſein der Schwäche, derſelbe Troſt in ſchönen Gefühlen und gefühlloſem Gelderwerb, welche wir als die Hauptzüge der äußern Politik bezeichnet haben, finden wir auch maßgebend in den innern Angelegenheiten. Das Miniſterium Gladſtone allein für die negativen Reſultate der politiſchen Jahresarbeit verantwortlich zu machen, iſt ſehr bequem, aber offenbar ungerecht; denn wie der Kriegsminiſter Hr. Cardwell dieſer Tage zur Rechtfertigung ſeiner Collegen in Oxford richtig bemerkte: in England iſt die Regierung nur das Organ des Unterhauſes und dieſes wieder nur das Organ der Nation. Es iſt daher unmöglich für eine Negierung thätig zu ſein wenn Parla- ment und Volk unthätig ſind, und umgekehrt der Trägheit zu huldigen wenn die Nation arbeitet und ſo das Parlament mit Thatkraft erfüllt. Regierung und Par- lament waren auch in dieſem Falle nur die gehorſamen Organe der öffentlichen Meinung. Die Nation im Ganzen und Großen wollte nichts gethan haben. Sie war allen radicalen Aenderungen im Verfaſſungsleben, die nicht ohne ſtürmiſche Bewegung hätten bewerkſtelligt werden können, abhold; ſie bedurfte der Ruhe und des Gefühls der Stabilität, um mit deſto größerer Objectivität und Sicherheit die Erſchütterungen des Feſtlandes zu beobachten und auszunutzen. Dieß müſſen wir feſthalten wenn wir die auffallende Erſcheinung begreifen wollen daß die ſtärkſte Regierung, welche England ſeit 50 Jahren mit der Leitung ſeiner öffentlichen An- gelegenheiten zu betrauen vermochte, eine klägliche Ohnmacht bekundete, von Fehl- geburt zu Fehlgeburt forttaumelte, mit allen ihren wichtigern Vorlagen im Par- lament ſcheiterte, und ſchließlich die Herrſchaft über ſich ſelbſt, über die große Mehrheit, als deren Organ ſie zur Macht gelangte, und über die öffentliche Mei- nung des Landes verlor. Schakeſpeare’s goldene Lehre: treu gegen ſich ſelbſt zu bleiben, weil man dann gegen niemanden falſch ſein könne, wurde von dem Miniſterium Gladſtone unbeachtet gelaſſen. Es blieb ſich ſelbſt, ſeinem Urſprunge, ſeinen Grundſätzen, ſeinem Mandat nicht treu; daher zerfiel es in ſich, wie die große liberale Partei in deren Namen es zu handeln vorgab; daher machten ihm Freunde und Feinde den Vorwurf der Täuſchung. Es täuſchte und verſtimmte alle, und es befriedigte eigentlich niemanden, nicht einmal ſeine eigenen Mitglieder. Seine beſten Inten- tionen ſcheiterten, und ſeine ſchlimmſten blieben erfolglos; es hatte die Macht zum Guten wie zum Böſen verloren. Nach dem Verluſte ſeiner Popularität war es nur noch eine Erinnerung, ein zerfallendes Denkmal einſtiger Größe, zerſtörter Hoffnungen, gebrochener Gelöbniſſe. Seine unverſöhnlichſten Gegner befinden ſich nicht unter der Tory-Oppoſition, ſondern im eigenen Lager. Die einflußreichſte, compacteſte und populärſte Section der liberalen Partei, die „unabhängigen Libe- ralen,“ haben ſich von ſeiner Fahne zurückgezogen, alle Verſöhnungsverſuche ſind an ihrem tiefen Mißtrauen geſcheitert. Sie können und wollen es dem Hrn. Glad- ſtone nicht verzeihen daß er den mit ihnen und ihren Grundſätzen geſchloſſenen Vertrag gebrochen, alle wahrhaft liberalen Maßregeln den conſervativen Gegner durch unſittliche Compromiſſe oder durch frivole Unthätigkeit geopfert hat. Gleich- wohl dürfen wir nicht verkennen daß das Gladſtone’ſche Cabinet unter ſchweren untoward events gelitten hat. Mit John Bright, der von phyſiſcher oder pfychi- ſcher, wahrſcheinlich von phyſiſcher, weil pſychiſcher Krankheit, veranlaßt wurde ſich in das Privatleben zurückzuziehen, hatte es ſeinen eigentlichen politiſchen Mini- ſter verloren, ſeinen guten Genius. Es fehlte während der Parlamentsſeſſion des letzten Jahrs das große belebende Princip, vor dem ſich bisher die verſchiedenen Fractionen der liberalen Partei vertrauensvoll gebeugt hatten; es fehlte im Cabinet ſelbſt die anerkannte Autorität, welche die alten Whiggelüſte zu zügeln und mit den Forderungen des liberalen Bürgerthums zu verſöhnen vermochte; es fehlte vor allem die mächtige Stimme welche den hadernden Parteien mit ihren lärmenden Intriguen und ihrem babyloniſchen Sprachgewirr Schweigen und Achtung ge- bieten konnte, weil ſie über die Mauern des Weſtminſterpalaſtes gedrungen und unmittelbar an das Volksgewiſſen geſchlagen hätte. Nach John Bright war Hr. Childers genöthigt ſich aus Geſundheitsrückſichten vom Gladſtone’ſchen Cabinet zurückzuziehen, deſſen Mitglieder von einem Departement zum andern verſchoben wurden bis alles Vertrauen auf Stabilität in ihnen ſelbſt und in der Nation zer- ſtört war. Die „conſervative Neaction,“ welche nur eine natürliche Reaction gegen den Gladſtone’ſchen Scheinliberalismus iſt, wurde eine Wahrheit, ſtark genug um die halbherzige, mit ihrem eigenen Miniſterium und ihren eigenen politiſchen Lei- ſtungen unzufriedene, liberale Partei in allen wichtigern Nachwahlen zu ſchlagen und Hrn. Diſraeli Chancen zu geben auf die noch vor einem Jahr ſeine begeiſtert- ſten Anhänger nicht zu hoffen wagten. Die Parlamentsſeſſion begann mit einer vielverſprechenden Thronrede, mit einem miniſteriellen Programm das in keinem Punkte durchgeführt werden ſollte. Das Miniſterium verſprach wichtige und von der öffentlichen Meinung ſeit Jahren verlangte Maßregeln vor und durch das Parlament zu bringen. Die Univerſitäten ſollten für alle Glaubensbekenntniſſe geöffnet, der Volksunterricht nach dem Muſter der engliſchen Schulbill in Schottland und in Irland verbeſſert, die Armee durch eine allgemeine Reform den Armeen des Feſtlandes gleichgeſtellt, die Wahlfreiheit durch geheime Stimmabgebung geſichert, Gemeinde- und Graſſchaftsverwaltung nach den *) S. „Allg. Ztg.“ Nr. 7.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 10, 10. Januar 1872, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine10_1872/1>, abgerufen am 21.11.2024.