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Allgemeine Zeitung, Nr. 3, 3. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] kann man bei dem deutschen Leser im allgemeinen, trotz dem ausgebreiteten Studium
der englischen Sprache unter uns, keine solche Vertrautheit mit derselben erwarten
wie zur Beurtheilung von Poesie nothwendig ist. Es dürfte überhaupt ein Irrthum
sein, schlösse man aus der allerdings genauen Vekanntschaft der Deutschen mit
Shakespeare und Byron auf eine gleiche Vertrautheit mit der Ursprache; vielmehr
wissen wir aus Erfahrung daß gar mancher der für einen großen Shakespeare-Kenner
gilt, kaum eine elementare Kenntniß der englischen Sprache besitzt, geschweige denn
Shakespeare im Original zu lesen vermag. Dank unseren meisterhaften Uebersetzungen
und musterhaften Uebersetzern, auch der Tennyson'schen Dichtungen, ist es möglich mit
Deutschen über englische Dichter wie über ihre vaterländischen zu reden, und nur in
diesem Bewußtsein konnten wir uns überhaupt veranlaßt finden diesen Artikel zu
schreiben. Nur mißverstehe man dessen Tendenz nicht. Wir läugnen keineswegs die
vielen Schönheiten, den echt poetischen Gehalt vieler Schöpfungen Tennysons; wir
geben zu daß sie reich sind an gelungenen Bildern, daß er neben vielem wie bloße Prosa
oder gar bänkelsängerartig sich Lesenden auch Meister im Versbau ist; was wir
behaupten, ist nur daß ihm das Ursprüngliche abgehe und daher der natürliche Er-
guß eines poetischen Gemüths nur selten bei ihm anzutreffen sei. Das Gegentheil
ist bei Byron der Fall. Form und Inhalt decken sich so vollkommen bei ihm, daß
man jene kaum berücksichtigt; man nimmt sie als selbstverständlich hin, und in der
Bewunderung des Inhalts vergißt man das Gewand in welches er gekleidet ist.
Was der Erzbischof Whately von der Beredsamkeit gesagt, das gilt natürlich auch
von der Dichtung. Er unterschied nämlich zweierlei Arten der ersteren, deren eine
die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, und uns mit Bewunderung des Redners
erfüllt; während die andere uns dermaßen packt, daß wir uns ihrer hinreißenden
Macht gar nicht bewußt werden, von dem Inhalt ergriffen über diesen nach-
denken und -- falls es eine Predigt war der wir zugehört haben -- in uns gehen
und unseren Wandel untersuchen. Zur besseren Veranschaulichung dieser Einthei-
lung vergleicht er die eine Art Beredsamkeit mit dem Monde, die andere mit der
Sonne. Beim Anblick des ersteren sagen wir: wie schön oder hell scheint der
Mond, und in dessen Betrachtung sehen wir die Gegenstände nicht, die er doch nur
düster beleuchtet; beim Sonnenlicht denken wir der Sonne nicht, denn unser Blick
wird von den Gegenständen auf welche ihr strahlendes Licht fällt angezogen, und
wir verweilen nur bei der Betrachtung dieser. Die Anwendung dieses Gleichnisses
auf das eben behandelte Thema überlassen wir dem Leser.



Die dritte allgemeine Conferenz und der gegenwärtige Stand
der europäischen Gradmessung.
II.

(Schluß.)

* Aus diesen mühevollen und kostspieligen, die Regierungen welche die Mittel
bewilligten nicht minder als die dabei betheiligten Gelehrten und Techniker ehren-
den, Arbeiten haben Bessel und Airy die Gestalt und Größe der Erdoberfläche mit
allen Hülfsmitteln der mathematischen Analysis berechnet, und den Schluß ge-
zogen daß die ideale Erdoberfläche oder der über die ganze Erde ausgebreitet ge-
dachte Meeresspiegel kein regelmäßiges Umdrehungsellipsoid, sondern eine Fläche
ist welche von diesem Ellipsoid durch Erhöhungen und Vertiefungen etwa so ab-
weicht wie der schwach bewegte von dem ruhigen Wasserspiegel eines Sees. Diese
Abweichungen sind indessen nur unbedeutend, und es kann immer noch ein Umdre-
hungsellipsoid von 1718 5/6 Meilen äquatorialem und 1713 1/3 Meilen polarem
Durchmesser, mithin von 51/2 Meilen Axenunterschied oder Ab-
plattung als die Grundform der Erde angesehen werden.

Mit diesem Ergebniß geodätischer Untersuchungen beginnt eine neue Epoche
der Gradmessungen, vor welcher wir stehen. Es handelt sich jetzt darum: die Ab-
weichungen der wirklichen idealen Erdgestalt von der eines Umdrehungsellipsoids,
wie es Bessel und Airy festgesetzt haben, zu erforschen, oder mit andern Worten:
für die wirkliche mathematische Form der Erdoberfläche einen bestimmteren Aus-
druck zu finden als das von Bessel zuerst gebrauchte Bild der bewegten Oberfläche
eines Sees im Gegensatze zu dessen ruhigstehendem Wasserspiegel. Die im Gange
befindliche europäische Gradmessung in Verbindung mit außereuropäischen gleich-
artigen Unternehmungen, welche ihr nachfolgen werden oder schon vorausgegangen
sind, wird diese neue Aufgabe lösen, und es dürfte sich wohl der Mühe lohnen zu
zeigen in welcher Art das vorgesteckte Ziel erreicht werden soll.

In erster Linie kommen auch hier Breiten- und Längengradmessungen, in
möglichst großer Anzahl und mit aller Schärfe der Beobachtung und Rechnung
ausgeführt, zur Anwendung. Durch sie werden die Krümmungsverhältnisse der
betreffenden Meridiane und Parallelkreise untersucht. Da es jedoch nicht genügt
die Krümmung der Erdoberfläche nur nach diesen ganz bestimmten Richtungen zu
kennen, da vielmehr der Charakter einer noch undefinirten und möglicherweise kaum
definirbaren Oberfläche sich nur aus den Krümmungsverhältnissen möglichst vieler
Schnitte derselben beurtheilen läßt, so ist es durchaus nothwendig über diese Fläche
ein möglichst ausdehnbares und dichtes Netz von sphäroidischen Dreiecken zu legen,
deren Endpunkte ihrer geographischen Länge und Breite nach sowohl astronomisch
als geodätisch bestimmt sind, und deren Seiten in Beziehung auf Krümmung, Azi-
muth und Länge aus den vorausgegangenen geodätischen und astronomischen Be-
stimmungen berechnet werden können. Dieses Netz in Europa zur Ausführung zu
bringen, strebt die europäische Gradmessung vor allem an, indem sie nicht bloß die
auf ihrem Arbeitsfelde bestehenden Sternwarten (gegen 40), sondern auch noch
eine große Zahl anderer astronomischer Punkte durch Dreiecksnetze mit einander
verbindet. Hierdurch erhält man für die geographische Breite und Länge eines
jeden dieser Punkte je zwei von einander unabhängige Werthe, aus deren Ueber-
einstimmung und Verschiedenheit man auf eine regel- oder unregelmäßige Gestalt
der mathematischen Erdoberfläche schließen kann. Diese Folgerung bedarf vielleicht
noch einer besonderen Erläuterung, und diese wird mit der Beschreibung der geo-
dätischen und astronomischen Methoden zur Bestimmung der Breiten und Längen
eines Ortes gegeben sein.

Bekanntlich kann man aus jedem Dreiecksnetze die Länge des elliptischen
Meridianbogens berechnen, welcher den Abstand der Parallelkreise zweier Netz-
punkte A und B von einander mißt. Mit der geographischen Breite von A, welche
[Spaltenumbruch] als gegeben angesehen wird, läßt sich die Breite von B aus den Eigenschaften der
die ideale Erdoberfläche erzeugenden Ellipse berechnen, da deren Axen, die Länge
des Bogens zwischen den Parallelen A und B und die Lage des Anfangspunktes
dieses Bogens bekannt sind. Die Rechnung liefert nämlich die Richtung der Nor-
male in B (der Geraden, welche dort auf dem elliptischen Bogen senkrecht steht,
ohne durch den Mittelpunkt der Ellipse zu gehen), und zwar wird diese Richtung
durch den Winkel ausgedrückt welchen die Normale in B mit der großen Axe der
Ellipse oder dem Aequator-Durchmesser bildet. Dieser Winkel, er heiße b, ist nun
die geodätische Breite des Punktes B. Die astronomische Bre ite desselben Punktes
erhält man durch directe Messung seiner Polhöhe, oder desjenigen verticalen Win-
kels welchen die Visirlinie nach dem Himmelspole mit der Horizontalebene des
Punktes B einschließt. (Man kann zu dieser Messung den Polarstern benützen, ob-
wohl er nicht genau in der Richtung der Erd- und Himmelsaxe liegt, wenn man
nur die beiden Verticalwinkel mißt, welche dem höchsten und dem tiefsten Stand jenes
Sterns entsprechen, und aus diesen beiden Winkelwerthen das arithmetische Mittel
nimmt.) Die Polhöhe des Punktes B ist gleich bedeutend mit seiner astronomischen
Breite oder dem Winkel g, den die Schwere-Richtung mit der vorhin genannten gro-
ßen Axe der Meridianellipse macht. Sind nun die beiden Winkel b und g einander
gleich, so fallen die Normale und die Schwere-Richtung in B in eine einzige Gerade
zusammen, und dieß deutet an daß an dieser Stelle auch die ideale und die mathe-
matische Erdoberfläche sich decken, oder mindestens einander parallel sind; fallen je-
doch die Winkel b und g ungleich aus, so bilden die Normale und die Schwere-
Richtung in B einen Winkel (b--g) mit einander, welcher dem Unterschiede der geo-
dätischen und astronomischen Breite gleich ist, und die Lothabweichung oder Loth-
ablenkung des Punktes B im Meridian heißt.

Eine Lothablenkung im Parallel wird in ähnlicher Weise constatirt. Es sei
für irgendeinen Punkt A die geographische Breite und Länge festgestellt, und von
ihm aus bis C ein Dreiecksnetz gemessen, so gestattet dieses den Bogen des Paral-
lels von A bis zu der durch C gelegten Meridianebene, also den Winkel der Me-
ridianebene von A und C zu berechnen. Dieser Winkel, den wir d nennen wollen,
ist die geodätisch bestimmte Länge von C in Bezug auf A. Beobachtet man nun
in A und C genau die Zeiten in welchen ein bestimmter Stern durch die Meridiane
dieser Orte geht, so gibt die fünfzehnfache Zeitdifferenz den Winkel der beiden Me-
ridianebenen von A und B ebenfalls an, und dieser Winkel, welcher e heißen soll,
ist die astronomisch bestimmte Länge von C in Bezug auf A. Sind die Winkel von d
und e einander gleich, so findet eine Lothabweichung im Parallel nicht statt; im
anderen Fall ist sie der Differenz d--e gleich, welche positiv oder negativ sein kann,
und dadurch die Lage der Schwere-Richtung gegen die durch C gelegte Meridianebene
der idealen ellipsoidischen Erdoberfläche anzeigt. Eine solche Lothabweichung gibt
uns nun zu verstehen daß in demselben Punkte C die Mittagslinie mit dem Meri-
dian des Umdrehungsellipsoids nicht in eine Ebene fällt, und es ist daher die Loth-
abweichung eines Punktes im Parallel als der Winkel aufzufassen den die Mittags-
und die Meridianebene jenes Punktes mit einander bilden.

Die Lothabweichung kann auch außer dem Parallel und dem Meridian statt-
finden. Es wird dieser Fall sogar am häufigsten vorkommen. Derselbe läßt sich
aber immer auf die beiden oben betrachteten Fälle zurückführen. Man wird näm-
lich die Abweichungen im Meridian und im Parallel bestimmen, und hieraus die
Ablenkung des Loths von der Normale des Ellipsoids in einem der vier Näume
berechnen welche von den Meridian- und Parallelkreis-Ebenen gebildet werden.

Die Erforschung der Abweichung der Lothlinie von der zum Umdrehungs-
ellipsoid normalen Richtung ist nach den vorausgegangenen Erörterungen gleich-
bedeutend mit der Untersuchung über die Congruenz der idealen und der wirklich en
mathematischen Erdoberfläche, und deßhalb tritt sie auch bei den Gradmessungen
der gegenwärtigen Periode als wesentliches Element in den Vordergrund.

Fragt man nach dem Grunde dieser Lothablenkungen, so kann es nur eine
unregelmäßige Vertheilung der Erdmassen sein welche sie hervorruft. Denn da
nach dem Newton'schen Gravitationsgesetz ein Körper den anderen im Verhältniß
seiner Masse und im umgekehrten quadratischen Verhältniß ihrer gegenseitigen
Entfernung anzieht, so wird bei regelmäßiger und symmetrischer Vertheilung der
Erdschichten um einen Punkt herum kein Grund vorhanden sein warum an die-
sem Punkt ein freihängender Körper nicht die Nichtung der Normale zur Erdober-
fläche, die als Fläche eines Umdrehungsellipsoids gilt, annehmen sollte; wenn
dagegen auf einer Seite dieses Punktes große Gebirgsmassen sich erheben, wäh-
rend an allen übrigen Stellen dieselbe regelmäßige und symmetrische Massenver-
theilung wie vorhin stattfindet, so muß nothwendig das Bleiloth gegen das
Gebirge hin gezogen werden, und es kann folglich auch an dieser Stelle die Er-
streckung der mathematischen Oberfläche des Erdkörpers, welche durch den senkrecht
zur Lothlinie stehenden Spiegel eines ruhigen Wassers sichtbar gemacht werden
kann, nicht mit der des Umdrehungsellipsoids, die in diesem Falle durch kein phy-
sikalisches Mittel darstellbar ist, zusammenfallen.

Diese Flächen werden gegeneinander ebenso geneigt sein wie das Bleiloth
und die Normale des Ellipsoids an der betreffenden Stelle es sind. Nun kommen
freilich auch Lothabweichungen in ganz ebenen Gegenden vor, wie z. B. bei Mos-
kau; diese Erscheinungen deuten dann auf eine unregelmäßige Vertheilung der
Massen unter der sichtbaren Oberfläche der Erde hin. Und wenn man, wie am Hi-
malaja, geringere Lothabweichungen beobachtet als die Ausdehnung der Gebirgs-
massen vermuthen läßt, so wird wohl die Annahme berechtigt sein daß sich in die-
sen Gebirgen bedeutende Höhlen befinden müssen.

Hr. Staatsrath v. Struve hat in seinem Bericht über die russischen Grad-
messungsarbeiten die Mitglieder der dritten allgemeinen Conferenz auf mehrere
wichtige Ergebnisse einer geodätischen Abhandlung des kaiserl. russischen Obersten
Stebnitzki "über die Ablenkung der Lothlinie durch den Kaukasus" aufmerksam
gemacht, welche sicherlich den Anstoß zu weiteren Untersuchungen dieser Art geben
werden. Ganz Kaukasien wurde nämlich durch die kais. russische Vermessungs-
kammer genau triangulirt, und es ist diese Triangulation auch auf die Nordseite
des Kaukasus ausgedehnt und mit dem russischen Hauptdreiecksnetze verbunden
worden. Auf dem Flächenraum dieser kaukasischen Vermessung befindet sich eine
Reihe astronomischer Punkte welche in das trigonometrische Netz einbezogen sind.

[Spaltenumbruch] kann man bei dem deutſchen Leſer im allgemeinen, trotz dem ausgebreiteten Studium
der engliſchen Sprache unter uns, keine ſolche Vertrautheit mit derſelben erwarten
wie zur Beurtheilung von Poeſie nothwendig iſt. Es dürfte überhaupt ein Irrthum
ſein, ſchlöſſe man aus der allerdings genauen Vekanntſchaft der Deutſchen mit
Shakeſpeare und Byron auf eine gleiche Vertrautheit mit der Urſprache; vielmehr
wiſſen wir aus Erfahrung daß gar mancher der für einen großen Shakeſpeare-Kenner
gilt, kaum eine elementare Kenntniß der engliſchen Sprache beſitzt, geſchweige denn
Shakeſpeare im Original zu leſen vermag. Dank unſeren meiſterhaften Ueberſetzungen
und muſterhaften Ueberſetzern, auch der Tennyſon’ſchen Dichtungen, iſt es möglich mit
Deutſchen über engliſche Dichter wie über ihre vaterländiſchen zu reden, und nur in
dieſem Bewußtſein konnten wir uns überhaupt veranlaßt finden dieſen Artikel zu
ſchreiben. Nur mißverſtehe man deſſen Tendenz nicht. Wir läugnen keineswegs die
vielen Schönheiten, den echt poetiſchen Gehalt vieler Schöpfungen Tennyſons; wir
geben zu daß ſie reich ſind an gelungenen Bildern, daß er neben vielem wie bloße Proſa
oder gar bänkelſängerartig ſich Leſenden auch Meiſter im Versbau iſt; was wir
behaupten, iſt nur daß ihm das Urſprüngliche abgehe und daher der natürliche Er-
guß eines poetiſchen Gemüths nur ſelten bei ihm anzutreffen ſei. Das Gegentheil
iſt bei Byron der Fall. Form und Inhalt decken ſich ſo vollkommen bei ihm, daß
man jene kaum berückſichtigt; man nimmt ſie als ſelbſtverſtändlich hin, und in der
Bewunderung des Inhalts vergißt man das Gewand in welches er gekleidet iſt.
Was der Erzbiſchof Whately von der Beredſamkeit geſagt, das gilt natürlich auch
von der Dichtung. Er unterſchied nämlich zweierlei Arten der erſteren, deren eine
die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt lenkt, und uns mit Bewunderung des Redners
erfüllt; während die andere uns dermaßen packt, daß wir uns ihrer hinreißenden
Macht gar nicht bewußt werden, von dem Inhalt ergriffen über dieſen nach-
denken und — falls es eine Predigt war der wir zugehört haben — in uns gehen
und unſeren Wandel unterſuchen. Zur beſſeren Veranſchaulichung dieſer Einthei-
lung vergleicht er die eine Art Beredſamkeit mit dem Monde, die andere mit der
Sonne. Beim Anblick des erſteren ſagen wir: wie ſchön oder hell ſcheint der
Mond, und in deſſen Betrachtung ſehen wir die Gegenſtände nicht, die er doch nur
düſter beleuchtet; beim Sonnenlicht denken wir der Sonne nicht, denn unſer Blick
wird von den Gegenſtänden auf welche ihr ſtrahlendes Licht fällt angezogen, und
wir verweilen nur bei der Betrachtung dieſer. Die Anwendung dieſes Gleichniſſes
auf das eben behandelte Thema überlaſſen wir dem Leſer.



Die dritte allgemeine Conferenz und der gegenwärtige Stand
der europäiſchen Gradmeſſung.
II.

(Schluß.)

* Aus dieſen mühevollen und koſtſpieligen, die Regierungen welche die Mittel
bewilligten nicht minder als die dabei betheiligten Gelehrten und Techniker ehren-
den, Arbeiten haben Beſſel und Airy die Geſtalt und Größe der Erdoberfläche mit
allen Hülfsmitteln der mathematiſchen Analyſis berechnet, und den Schluß ge-
zogen daß die ideale Erdoberfläche oder der über die ganze Erde ausgebreitet ge-
dachte Meeresſpiegel kein regelmäßiges Umdrehungsellipſoid, ſondern eine Fläche
iſt welche von dieſem Ellipſoid durch Erhöhungen und Vertiefungen etwa ſo ab-
weicht wie der ſchwach bewegte von dem ruhigen Waſſerſpiegel eines Sees. Dieſe
Abweichungen ſind indeſſen nur unbedeutend, und es kann immer noch ein Umdre-
hungsellipſoid von 1718⅚ Meilen äquatorialem und 1713⅓ Meilen polarem
Durchmeſſer, mithin vonMeilen Axenunterſchied oder Ab-
plattung als die Grundform der Erde angeſehen werden.

Mit dieſem Ergebniß geodätiſcher Unterſuchungen beginnt eine neue Epoche
der Gradmeſſungen, vor welcher wir ſtehen. Es handelt ſich jetzt darum: die Ab-
weichungen der wirklichen idealen Erdgeſtalt von der eines Umdrehungsellipſoids,
wie es Beſſel und Airy feſtgeſetzt haben, zu erforſchen, oder mit andern Worten:
für die wirkliche mathematiſche Form der Erdoberfläche einen beſtimmteren Aus-
druck zu finden als das von Beſſel zuerſt gebrauchte Bild der bewegten Oberfläche
eines Sees im Gegenſatze zu deſſen ruhigſtehendem Waſſerſpiegel. Die im Gange
befindliche europäiſche Gradmeſſung in Verbindung mit außereuropäiſchen gleich-
artigen Unternehmungen, welche ihr nachfolgen werden oder ſchon vorausgegangen
ſind, wird dieſe neue Aufgabe löſen, und es dürfte ſich wohl der Mühe lohnen zu
zeigen in welcher Art das vorgeſteckte Ziel erreicht werden ſoll.

In erſter Linie kommen auch hier Breiten- und Längengradmeſſungen, in
möglichſt großer Anzahl und mit aller Schärfe der Beobachtung und Rechnung
ausgeführt, zur Anwendung. Durch ſie werden die Krümmungsverhältniſſe der
betreffenden Meridiane und Parallelkreiſe unterſucht. Da es jedoch nicht genügt
die Krümmung der Erdoberfläche nur nach dieſen ganz beſtimmten Richtungen zu
kennen, da vielmehr der Charakter einer noch undefinirten und möglicherweiſe kaum
definirbaren Oberfläche ſich nur aus den Krümmungsverhältniſſen möglichſt vieler
Schnitte derſelben beurtheilen läßt, ſo iſt es durchaus nothwendig über dieſe Fläche
ein möglichſt ausdehnbares und dichtes Netz von ſphäroidiſchen Dreiecken zu legen,
deren Endpunkte ihrer geographiſchen Länge und Breite nach ſowohl aſtronomiſch
als geodätiſch beſtimmt ſind, und deren Seiten in Beziehung auf Krümmung, Azi-
muth und Länge aus den vorausgegangenen geodätiſchen und aſtronomiſchen Be-
ſtimmungen berechnet werden können. Dieſes Netz in Europa zur Ausführung zu
bringen, ſtrebt die europäiſche Gradmeſſung vor allem an, indem ſie nicht bloß die
auf ihrem Arbeitsfelde beſtehenden Sternwarten (gegen 40), ſondern auch noch
eine große Zahl anderer aſtronomiſcher Punkte durch Dreiecksnetze mit einander
verbindet. Hierdurch erhält man für die geographiſche Breite und Länge eines
jeden dieſer Punkte je zwei von einander unabhängige Werthe, aus deren Ueber-
einſtimmung und Verſchiedenheit man auf eine regel- oder unregelmäßige Geſtalt
der mathematiſchen Erdoberfläche ſchließen kann. Dieſe Folgerung bedarf vielleicht
noch einer beſonderen Erläuterung, und dieſe wird mit der Beſchreibung der geo-
dätiſchen und aſtronomiſchen Methoden zur Beſtimmung der Breiten und Längen
eines Ortes gegeben ſein.

Bekanntlich kann man aus jedem Dreiecksnetze die Länge des elliptiſchen
Meridianbogens berechnen, welcher den Abſtand der Parallelkreiſe zweier Netz-
punkte A und B von einander mißt. Mit der geographiſchen Breite von A, welche
[Spaltenumbruch] als gegeben angeſehen wird, läßt ſich die Breite von B aus den Eigenſchaften der
die ideale Erdoberfläche erzeugenden Ellipſe berechnen, da deren Axen, die Länge
des Bogens zwiſchen den Parallelen A und B und die Lage des Anfangspunktes
dieſes Bogens bekannt ſind. Die Rechnung liefert nämlich die Richtung der Nor-
male in B (der Geraden, welche dort auf dem elliptiſchen Bogen ſenkrecht ſteht,
ohne durch den Mittelpunkt der Ellipſe zu gehen), und zwar wird dieſe Richtung
durch den Winkel ausgedrückt welchen die Normale in B mit der großen Axe der
Ellipſe oder dem Aequator-Durchmeſſer bildet. Dieſer Winkel, er heiße β, iſt nun
die geodätiſche Breite des Punktes B. Die aſtronomiſche Bre ite desſelben Punktes
erhält man durch directe Meſſung ſeiner Polhöhe, oder desjenigen verticalen Win-
kels welchen die Viſirlinie nach dem Himmelspole mit der Horizontalebene des
Punktes B einſchließt. (Man kann zu dieſer Meſſung den Polarſtern benützen, ob-
wohl er nicht genau in der Richtung der Erd- und Himmelsaxe liegt, wenn man
nur die beiden Verticalwinkel mißt, welche dem höchſten und dem tiefſten Stand jenes
Sterns entſprechen, und aus dieſen beiden Winkelwerthen das arithmetiſche Mittel
nimmt.) Die Polhöhe des Punktes B iſt gleich bedeutend mit ſeiner aſtronomiſchen
Breite oder dem Winkel γ, den die Schwere-Richtung mit der vorhin genannten gro-
ßen Axe der Meridianellipſe macht. Sind nun die beiden Winkel β und γ einander
gleich, ſo fallen die Normale und die Schwere-Richtung in B in eine einzige Gerade
zuſammen, und dieß deutet an daß an dieſer Stelle auch die ideale und die mathe-
matiſche Erdoberfläche ſich decken, oder mindeſtens einander parallel ſind; fallen je-
doch die Winkel β und γ ungleich aus, ſo bilden die Normale und die Schwere-
Richtung in B einen Winkel (β—γ) mit einander, welcher dem Unterſchiede der geo-
dätiſchen und aſtronomiſchen Breite gleich iſt, und die Lothabweichung oder Loth-
ablenkung des Punktes B im Meridian heißt.

Eine Lothablenkung im Parallel wird in ähnlicher Weiſe conſtatirt. Es ſei
für irgendeinen Punkt A die geographiſche Breite und Länge feſtgeſtellt, und von
ihm aus bis C ein Dreiecksnetz gemeſſen, ſo geſtattet dieſes den Bogen des Paral-
lels von A bis zu der durch C gelegten Meridianebene, alſo den Winkel der Me-
ridianebene von A und C zu berechnen. Dieſer Winkel, den wir δ nennen wollen,
iſt die geodätiſch beſtimmte Länge von C in Bezug auf A. Beobachtet man nun
in A und C genau die Zeiten in welchen ein beſtimmter Stern durch die Meridiane
dieſer Orte geht, ſo gibt die fünfzehnfache Zeitdifferenz den Winkel der beiden Me-
ridianebenen von A und B ebenfalls an, und dieſer Winkel, welcher ε heißen ſoll,
iſt die aſtronomiſch beſtimmte Länge von C in Bezug auf A. Sind die Winkel von δ
und ε einander gleich, ſo findet eine Lothabweichung im Parallel nicht ſtatt; im
anderen Fall iſt ſie der Differenz δ—ε gleich, welche poſitiv oder negativ ſein kann,
und dadurch die Lage der Schwere-Richtung gegen die durch C gelegte Meridianebene
der idealen ellipſoidiſchen Erdoberfläche anzeigt. Eine ſolche Lothabweichung gibt
uns nun zu verſtehen daß in demſelben Punkte C die Mittagslinie mit dem Meri-
dian des Umdrehungsellipſoids nicht in eine Ebene fällt, und es iſt daher die Loth-
abweichung eines Punktes im Parallel als der Winkel aufzufaſſen den die Mittags-
und die Meridianebene jenes Punktes mit einander bilden.

Die Lothabweichung kann auch außer dem Parallel und dem Meridian ſtatt-
finden. Es wird dieſer Fall ſogar am häufigſten vorkommen. Derſelbe läßt ſich
aber immer auf die beiden oben betrachteten Fälle zurückführen. Man wird näm-
lich die Abweichungen im Meridian und im Parallel beſtimmen, und hieraus die
Ablenkung des Loths von der Normale des Ellipſoids in einem der vier Näume
berechnen welche von den Meridian- und Parallelkreis-Ebenen gebildet werden.

Die Erforſchung der Abweichung der Lothlinie von der zum Umdrehungs-
ellipſoid normalen Richtung iſt nach den vorausgegangenen Erörterungen gleich-
bedeutend mit der Unterſuchung über die Congruenz der idealen und der wirklich en
mathematiſchen Erdoberfläche, und deßhalb tritt ſie auch bei den Gradmeſſungen
der gegenwärtigen Periode als weſentliches Element in den Vordergrund.

Fragt man nach dem Grunde dieſer Lothablenkungen, ſo kann es nur eine
unregelmäßige Vertheilung der Erdmaſſen ſein welche ſie hervorruft. Denn da
nach dem Newton’ſchen Gravitationsgeſetz ein Körper den anderen im Verhältniß
ſeiner Maſſe und im umgekehrten quadratiſchen Verhältniß ihrer gegenſeitigen
Entfernung anzieht, ſo wird bei regelmäßiger und ſymmetriſcher Vertheilung der
Erdſchichten um einen Punkt herum kein Grund vorhanden ſein warum an die-
ſem Punkt ein freihängender Körper nicht die Nichtung der Normale zur Erdober-
fläche, die als Fläche eines Umdrehungsellipſoids gilt, annehmen ſollte; wenn
dagegen auf einer Seite dieſes Punktes große Gebirgsmaſſen ſich erheben, wäh-
rend an allen übrigen Stellen dieſelbe regelmäßige und ſymmetriſche Maſſenver-
theilung wie vorhin ſtattfindet, ſo muß nothwendig das Bleiloth gegen das
Gebirge hin gezogen werden, und es kann folglich auch an dieſer Stelle die Er-
ſtreckung der mathematiſchen Oberfläche des Erdkörpers, welche durch den ſenkrecht
zur Lothlinie ſtehenden Spiegel eines ruhigen Waſſers ſichtbar gemacht werden
kann, nicht mit der des Umdrehungsellipſoids, die in dieſem Falle durch kein phy-
ſikaliſches Mittel darſtellbar iſt, zuſammenfallen.

Dieſe Flächen werden gegeneinander ebenſo geneigt ſein wie das Bleiloth
und die Normale des Ellipſoids an der betreffenden Stelle es ſind. Nun kommen
freilich auch Lothabweichungen in ganz ebenen Gegenden vor, wie z. B. bei Mos-
kau; dieſe Erſcheinungen deuten dann auf eine unregelmäßige Vertheilung der
Maſſen unter der ſichtbaren Oberfläche der Erde hin. Und wenn man, wie am Hi-
mâlaja, geringere Lothabweichungen beobachtet als die Ausdehnung der Gebirgs-
maſſen vermuthen läßt, ſo wird wohl die Annahme berechtigt ſein daß ſich in die-
ſen Gebirgen bedeutende Höhlen befinden müſſen.

Hr. Staatsrath v. Struve hat in ſeinem Bericht über die ruſſiſchen Grad-
meſſungsarbeiten die Mitglieder der dritten allgemeinen Conferenz auf mehrere
wichtige Ergebniſſe einer geodätiſchen Abhandlung des kaiſerl. ruſſiſchen Oberſten
Stebnitzki „über die Ablenkung der Lothlinie durch den Kaukaſus“ aufmerkſam
gemacht, welche ſicherlich den Anſtoß zu weiteren Unterſuchungen dieſer Art geben
werden. Ganz Kaukaſien wurde nämlich durch die kaiſ. ruſſiſche Vermeſſungs-
kammer genau triangulirt, und es iſt dieſe Triangulation auch auf die Nordſeite
des Kaukaſus ausgedehnt und mit dem ruſſiſchen Hauptdreiecksnetze verbunden
worden. Auf dem Flächenraum dieſer kaukaſiſchen Vermeſſung befindet ſich eine
Reihe aſtronomiſcher Punkte welche in das trigonometriſche Netz einbezogen ſind.

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[34/0010] kann man bei dem deutſchen Leſer im allgemeinen, trotz dem ausgebreiteten Studium der engliſchen Sprache unter uns, keine ſolche Vertrautheit mit derſelben erwarten wie zur Beurtheilung von Poeſie nothwendig iſt. Es dürfte überhaupt ein Irrthum ſein, ſchlöſſe man aus der allerdings genauen Vekanntſchaft der Deutſchen mit Shakeſpeare und Byron auf eine gleiche Vertrautheit mit der Urſprache; vielmehr wiſſen wir aus Erfahrung daß gar mancher der für einen großen Shakeſpeare-Kenner gilt, kaum eine elementare Kenntniß der engliſchen Sprache beſitzt, geſchweige denn Shakeſpeare im Original zu leſen vermag. Dank unſeren meiſterhaften Ueberſetzungen und muſterhaften Ueberſetzern, auch der Tennyſon’ſchen Dichtungen, iſt es möglich mit Deutſchen über engliſche Dichter wie über ihre vaterländiſchen zu reden, und nur in dieſem Bewußtſein konnten wir uns überhaupt veranlaßt finden dieſen Artikel zu ſchreiben. Nur mißverſtehe man deſſen Tendenz nicht. Wir läugnen keineswegs die vielen Schönheiten, den echt poetiſchen Gehalt vieler Schöpfungen Tennyſons; wir geben zu daß ſie reich ſind an gelungenen Bildern, daß er neben vielem wie bloße Proſa oder gar bänkelſängerartig ſich Leſenden auch Meiſter im Versbau iſt; was wir behaupten, iſt nur daß ihm das Urſprüngliche abgehe und daher der natürliche Er- guß eines poetiſchen Gemüths nur ſelten bei ihm anzutreffen ſei. Das Gegentheil iſt bei Byron der Fall. Form und Inhalt decken ſich ſo vollkommen bei ihm, daß man jene kaum berückſichtigt; man nimmt ſie als ſelbſtverſtändlich hin, und in der Bewunderung des Inhalts vergißt man das Gewand in welches er gekleidet iſt. Was der Erzbiſchof Whately von der Beredſamkeit geſagt, das gilt natürlich auch von der Dichtung. Er unterſchied nämlich zweierlei Arten der erſteren, deren eine die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt lenkt, und uns mit Bewunderung des Redners erfüllt; während die andere uns dermaßen packt, daß wir uns ihrer hinreißenden Macht gar nicht bewußt werden, von dem Inhalt ergriffen über dieſen nach- denken und — falls es eine Predigt war der wir zugehört haben — in uns gehen und unſeren Wandel unterſuchen. Zur beſſeren Veranſchaulichung dieſer Einthei- lung vergleicht er die eine Art Beredſamkeit mit dem Monde, die andere mit der Sonne. Beim Anblick des erſteren ſagen wir: wie ſchön oder hell ſcheint der Mond, und in deſſen Betrachtung ſehen wir die Gegenſtände nicht, die er doch nur düſter beleuchtet; beim Sonnenlicht denken wir der Sonne nicht, denn unſer Blick wird von den Gegenſtänden auf welche ihr ſtrahlendes Licht fällt angezogen, und wir verweilen nur bei der Betrachtung dieſer. Die Anwendung dieſes Gleichniſſes auf das eben behandelte Thema überlaſſen wir dem Leſer. Die dritte allgemeine Conferenz und der gegenwärtige Stand der europäiſchen Gradmeſſung. II. (Schluß.) * Aus dieſen mühevollen und koſtſpieligen, die Regierungen welche die Mittel bewilligten nicht minder als die dabei betheiligten Gelehrten und Techniker ehren- den, Arbeiten haben Beſſel und Airy die Geſtalt und Größe der Erdoberfläche mit allen Hülfsmitteln der mathematiſchen Analyſis berechnet, und den Schluß ge- zogen daß die ideale Erdoberfläche oder der über die ganze Erde ausgebreitet ge- dachte Meeresſpiegel kein regelmäßiges Umdrehungsellipſoid, ſondern eine Fläche iſt welche von dieſem Ellipſoid durch Erhöhungen und Vertiefungen etwa ſo ab- weicht wie der ſchwach bewegte von dem ruhigen Waſſerſpiegel eines Sees. Dieſe Abweichungen ſind indeſſen nur unbedeutend, und es kann immer noch ein Umdre- hungsellipſoid von 1718⅚ Meilen äquatorialem und 1713⅓ Meilen polarem Durchmeſſer, mithin von 5½ Meilen Axenunterſchied oder [FORMEL] Ab- plattung als die Grundform der Erde angeſehen werden. Mit dieſem Ergebniß geodätiſcher Unterſuchungen beginnt eine neue Epoche der Gradmeſſungen, vor welcher wir ſtehen. Es handelt ſich jetzt darum: die Ab- weichungen der wirklichen idealen Erdgeſtalt von der eines Umdrehungsellipſoids, wie es Beſſel und Airy feſtgeſetzt haben, zu erforſchen, oder mit andern Worten: für die wirkliche mathematiſche Form der Erdoberfläche einen beſtimmteren Aus- druck zu finden als das von Beſſel zuerſt gebrauchte Bild der bewegten Oberfläche eines Sees im Gegenſatze zu deſſen ruhigſtehendem Waſſerſpiegel. Die im Gange befindliche europäiſche Gradmeſſung in Verbindung mit außereuropäiſchen gleich- artigen Unternehmungen, welche ihr nachfolgen werden oder ſchon vorausgegangen ſind, wird dieſe neue Aufgabe löſen, und es dürfte ſich wohl der Mühe lohnen zu zeigen in welcher Art das vorgeſteckte Ziel erreicht werden ſoll. In erſter Linie kommen auch hier Breiten- und Längengradmeſſungen, in möglichſt großer Anzahl und mit aller Schärfe der Beobachtung und Rechnung ausgeführt, zur Anwendung. Durch ſie werden die Krümmungsverhältniſſe der betreffenden Meridiane und Parallelkreiſe unterſucht. Da es jedoch nicht genügt die Krümmung der Erdoberfläche nur nach dieſen ganz beſtimmten Richtungen zu kennen, da vielmehr der Charakter einer noch undefinirten und möglicherweiſe kaum definirbaren Oberfläche ſich nur aus den Krümmungsverhältniſſen möglichſt vieler Schnitte derſelben beurtheilen läßt, ſo iſt es durchaus nothwendig über dieſe Fläche ein möglichſt ausdehnbares und dichtes Netz von ſphäroidiſchen Dreiecken zu legen, deren Endpunkte ihrer geographiſchen Länge und Breite nach ſowohl aſtronomiſch als geodätiſch beſtimmt ſind, und deren Seiten in Beziehung auf Krümmung, Azi- muth und Länge aus den vorausgegangenen geodätiſchen und aſtronomiſchen Be- ſtimmungen berechnet werden können. Dieſes Netz in Europa zur Ausführung zu bringen, ſtrebt die europäiſche Gradmeſſung vor allem an, indem ſie nicht bloß die auf ihrem Arbeitsfelde beſtehenden Sternwarten (gegen 40), ſondern auch noch eine große Zahl anderer aſtronomiſcher Punkte durch Dreiecksnetze mit einander verbindet. Hierdurch erhält man für die geographiſche Breite und Länge eines jeden dieſer Punkte je zwei von einander unabhängige Werthe, aus deren Ueber- einſtimmung und Verſchiedenheit man auf eine regel- oder unregelmäßige Geſtalt der mathematiſchen Erdoberfläche ſchließen kann. Dieſe Folgerung bedarf vielleicht noch einer beſonderen Erläuterung, und dieſe wird mit der Beſchreibung der geo- dätiſchen und aſtronomiſchen Methoden zur Beſtimmung der Breiten und Längen eines Ortes gegeben ſein. Bekanntlich kann man aus jedem Dreiecksnetze die Länge des elliptiſchen Meridianbogens berechnen, welcher den Abſtand der Parallelkreiſe zweier Netz- punkte A und B von einander mißt. Mit der geographiſchen Breite von A, welche als gegeben angeſehen wird, läßt ſich die Breite von B aus den Eigenſchaften der die ideale Erdoberfläche erzeugenden Ellipſe berechnen, da deren Axen, die Länge des Bogens zwiſchen den Parallelen A und B und die Lage des Anfangspunktes dieſes Bogens bekannt ſind. Die Rechnung liefert nämlich die Richtung der Nor- male in B (der Geraden, welche dort auf dem elliptiſchen Bogen ſenkrecht ſteht, ohne durch den Mittelpunkt der Ellipſe zu gehen), und zwar wird dieſe Richtung durch den Winkel ausgedrückt welchen die Normale in B mit der großen Axe der Ellipſe oder dem Aequator-Durchmeſſer bildet. Dieſer Winkel, er heiße β, iſt nun die geodätiſche Breite des Punktes B. Die aſtronomiſche Bre ite desſelben Punktes erhält man durch directe Meſſung ſeiner Polhöhe, oder desjenigen verticalen Win- kels welchen die Viſirlinie nach dem Himmelspole mit der Horizontalebene des Punktes B einſchließt. (Man kann zu dieſer Meſſung den Polarſtern benützen, ob- wohl er nicht genau in der Richtung der Erd- und Himmelsaxe liegt, wenn man nur die beiden Verticalwinkel mißt, welche dem höchſten und dem tiefſten Stand jenes Sterns entſprechen, und aus dieſen beiden Winkelwerthen das arithmetiſche Mittel nimmt.) Die Polhöhe des Punktes B iſt gleich bedeutend mit ſeiner aſtronomiſchen Breite oder dem Winkel γ, den die Schwere-Richtung mit der vorhin genannten gro- ßen Axe der Meridianellipſe macht. Sind nun die beiden Winkel β und γ einander gleich, ſo fallen die Normale und die Schwere-Richtung in B in eine einzige Gerade zuſammen, und dieß deutet an daß an dieſer Stelle auch die ideale und die mathe- matiſche Erdoberfläche ſich decken, oder mindeſtens einander parallel ſind; fallen je- doch die Winkel β und γ ungleich aus, ſo bilden die Normale und die Schwere- Richtung in B einen Winkel (β—γ) mit einander, welcher dem Unterſchiede der geo- dätiſchen und aſtronomiſchen Breite gleich iſt, und die Lothabweichung oder Loth- ablenkung des Punktes B im Meridian heißt. Eine Lothablenkung im Parallel wird in ähnlicher Weiſe conſtatirt. Es ſei für irgendeinen Punkt A die geographiſche Breite und Länge feſtgeſtellt, und von ihm aus bis C ein Dreiecksnetz gemeſſen, ſo geſtattet dieſes den Bogen des Paral- lels von A bis zu der durch C gelegten Meridianebene, alſo den Winkel der Me- ridianebene von A und C zu berechnen. Dieſer Winkel, den wir δ nennen wollen, iſt die geodätiſch beſtimmte Länge von C in Bezug auf A. Beobachtet man nun in A und C genau die Zeiten in welchen ein beſtimmter Stern durch die Meridiane dieſer Orte geht, ſo gibt die fünfzehnfache Zeitdifferenz den Winkel der beiden Me- ridianebenen von A und B ebenfalls an, und dieſer Winkel, welcher ε heißen ſoll, iſt die aſtronomiſch beſtimmte Länge von C in Bezug auf A. Sind die Winkel von δ und ε einander gleich, ſo findet eine Lothabweichung im Parallel nicht ſtatt; im anderen Fall iſt ſie der Differenz δ—ε gleich, welche poſitiv oder negativ ſein kann, und dadurch die Lage der Schwere-Richtung gegen die durch C gelegte Meridianebene der idealen ellipſoidiſchen Erdoberfläche anzeigt. Eine ſolche Lothabweichung gibt uns nun zu verſtehen daß in demſelben Punkte C die Mittagslinie mit dem Meri- dian des Umdrehungsellipſoids nicht in eine Ebene fällt, und es iſt daher die Loth- abweichung eines Punktes im Parallel als der Winkel aufzufaſſen den die Mittags- und die Meridianebene jenes Punktes mit einander bilden. Die Lothabweichung kann auch außer dem Parallel und dem Meridian ſtatt- finden. Es wird dieſer Fall ſogar am häufigſten vorkommen. Derſelbe läßt ſich aber immer auf die beiden oben betrachteten Fälle zurückführen. Man wird näm- lich die Abweichungen im Meridian und im Parallel beſtimmen, und hieraus die Ablenkung des Loths von der Normale des Ellipſoids in einem der vier Näume berechnen welche von den Meridian- und Parallelkreis-Ebenen gebildet werden. Die Erforſchung der Abweichung der Lothlinie von der zum Umdrehungs- ellipſoid normalen Richtung iſt nach den vorausgegangenen Erörterungen gleich- bedeutend mit der Unterſuchung über die Congruenz der idealen und der wirklich en mathematiſchen Erdoberfläche, und deßhalb tritt ſie auch bei den Gradmeſſungen der gegenwärtigen Periode als weſentliches Element in den Vordergrund. Fragt man nach dem Grunde dieſer Lothablenkungen, ſo kann es nur eine unregelmäßige Vertheilung der Erdmaſſen ſein welche ſie hervorruft. Denn da nach dem Newton’ſchen Gravitationsgeſetz ein Körper den anderen im Verhältniß ſeiner Maſſe und im umgekehrten quadratiſchen Verhältniß ihrer gegenſeitigen Entfernung anzieht, ſo wird bei regelmäßiger und ſymmetriſcher Vertheilung der Erdſchichten um einen Punkt herum kein Grund vorhanden ſein warum an die- ſem Punkt ein freihängender Körper nicht die Nichtung der Normale zur Erdober- fläche, die als Fläche eines Umdrehungsellipſoids gilt, annehmen ſollte; wenn dagegen auf einer Seite dieſes Punktes große Gebirgsmaſſen ſich erheben, wäh- rend an allen übrigen Stellen dieſelbe regelmäßige und ſymmetriſche Maſſenver- theilung wie vorhin ſtattfindet, ſo muß nothwendig das Bleiloth gegen das Gebirge hin gezogen werden, und es kann folglich auch an dieſer Stelle die Er- ſtreckung der mathematiſchen Oberfläche des Erdkörpers, welche durch den ſenkrecht zur Lothlinie ſtehenden Spiegel eines ruhigen Waſſers ſichtbar gemacht werden kann, nicht mit der des Umdrehungsellipſoids, die in dieſem Falle durch kein phy- ſikaliſches Mittel darſtellbar iſt, zuſammenfallen. Dieſe Flächen werden gegeneinander ebenſo geneigt ſein wie das Bleiloth und die Normale des Ellipſoids an der betreffenden Stelle es ſind. Nun kommen freilich auch Lothabweichungen in ganz ebenen Gegenden vor, wie z. B. bei Mos- kau; dieſe Erſcheinungen deuten dann auf eine unregelmäßige Vertheilung der Maſſen unter der ſichtbaren Oberfläche der Erde hin. Und wenn man, wie am Hi- mâlaja, geringere Lothabweichungen beobachtet als die Ausdehnung der Gebirgs- maſſen vermuthen läßt, ſo wird wohl die Annahme berechtigt ſein daß ſich in die- ſen Gebirgen bedeutende Höhlen befinden müſſen. Hr. Staatsrath v. Struve hat in ſeinem Bericht über die ruſſiſchen Grad- meſſungsarbeiten die Mitglieder der dritten allgemeinen Conferenz auf mehrere wichtige Ergebniſſe einer geodätiſchen Abhandlung des kaiſerl. ruſſiſchen Oberſten Stebnitzki „über die Ablenkung der Lothlinie durch den Kaukaſus“ aufmerkſam gemacht, welche ſicherlich den Anſtoß zu weiteren Unterſuchungen dieſer Art geben werden. Ganz Kaukaſien wurde nämlich durch die kaiſ. ruſſiſche Vermeſſungs- kammer genau triangulirt, und es iſt dieſe Triangulation auch auf die Nordſeite des Kaukaſus ausgedehnt und mit dem ruſſiſchen Hauptdreiecksnetze verbunden worden. Auf dem Flächenraum dieſer kaukaſiſchen Vermeſſung befindet ſich eine Reihe aſtronomiſcher Punkte welche in das trigonometriſche Netz einbezogen ſind.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 3, 3. Januar 1872, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine03_1872/10>, abgerufen am 24.11.2024.