Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884."Über dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thier¬ "Im Grunde steht Alles stille" --, das ist eine "Im Grund steht Alles still" --: dagegen aber Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? "Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!" -- 9. Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und Einst glaubte man an Wahrsager und Stern¬ „Über dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thier¬ „Im Grunde steht Alles stille“ —, das ist eine „Im Grund steht Alles still“ —: dagegen aber Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? „Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!“ — 9. Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und Einst glaubte man an Wahrsager und Stern¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0082" n="72"/> „<hi rendition="#g">Über</hi> dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe<lb/> der Dinge, die Brücken, Begriffe, alles „Gut“ und<lb/> „Böse“: das ist Alles <hi rendition="#g">fest</hi>!“ —</p><lb/> <p>Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thier¬<lb/> bändiger: dann lernen auch die Witzigsten Misstrauen;<lb/> und, wahrlich, nicht nur die Tölpel sprechen dann:<lb/> „Sollte nicht Alles — <hi rendition="#g">stille stehn</hi>?“</p><lb/> <p>„Im Grunde steht Alles stille“ —, das ist eine<lb/> rechte Winter-Lehre, ein gut Ding für unfruchtbare<lb/> Zeit, ein guter Trost für Winterschläfer und Ofenhocker.</p><lb/> <p>„Im Grund steht Alles still“ —: <hi rendition="#g">dagegen</hi> aber<lb/> predigt der Thauwind!</p><lb/> <p>Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender<lb/> Stier ist, — ein wüthender Stier, ein Zerstörer, der<lb/> mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis aber — —<lb/><hi rendition="#g">bricht Stege</hi>!</p><lb/> <p>Oh meine Brüder, ist <hi rendition="#g">jetzt</hi> nicht Alles <hi rendition="#g">im Flusse</hi>?<lb/> Sind nicht alle Geländer und Stege in's Wasser ge¬<lb/> fallen? Wer <hi rendition="#g">hielte</hi> sich noch an „Gut“ und „Böse“?</p><lb/> <p>„Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!“ —<lb/> Also predigt mir, oh meine Brüder, durch alle Gassen!</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> <div n="2"> <head>9.<lb/></head> <p>Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und<lb/> Böse. Um Wahrsager und Sterndeuter drehte sich<lb/> bisher das Rad dieses Wahns.</p><lb/> <p>Einst <hi rendition="#g">glaubte</hi> man an Wahrsager und Stern¬<lb/> deuter: und <hi rendition="#g">darum</hi> glaubte man „Alles ist Schicksal:<lb/> du sollst, denn du musst!“<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0082]
„Über dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe
der Dinge, die Brücken, Begriffe, alles „Gut“ und
„Böse“: das ist Alles fest!“ —
Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thier¬
bändiger: dann lernen auch die Witzigsten Misstrauen;
und, wahrlich, nicht nur die Tölpel sprechen dann:
„Sollte nicht Alles — stille stehn?“
„Im Grunde steht Alles stille“ —, das ist eine
rechte Winter-Lehre, ein gut Ding für unfruchtbare
Zeit, ein guter Trost für Winterschläfer und Ofenhocker.
„Im Grund steht Alles still“ —: dagegen aber
predigt der Thauwind!
Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender
Stier ist, — ein wüthender Stier, ein Zerstörer, der
mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis aber — —
bricht Stege!
Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse?
Sind nicht alle Geländer und Stege in's Wasser ge¬
fallen? Wer hielte sich noch an „Gut“ und „Böse“?
„Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!“ —
Also predigt mir, oh meine Brüder, durch alle Gassen!
9.
Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und
Böse. Um Wahrsager und Sterndeuter drehte sich
bisher das Rad dieses Wahns.
Einst glaubte man an Wahrsager und Stern¬
deuter: und darum glaubte man „Alles ist Schicksal:
du sollst, denn du musst!“
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