Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Volk über Krüppel. Und warum sollte Zarathustra
nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von
Zarathustra lernt?

Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter
Menschen bin, dass ich sehe: "Diesem fehlt ein Auge
und Jenem ein Ohr und einem Dritten das Bein, und
Andre giebt es, die verloren die Zunge oder die Nase
oder den Kopf."

Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei
so Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden
und von Einigem nicht einmal schweigen möchte:
nämlich Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser
dass sie Eins zuviel haben -- Menschen, welche
Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein
grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas
Grosses, -- umgekehrte Krüppel heisse ich Solche.

Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum
ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich
meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und
sagte endlich: "das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross
wie ein Mensch!" Ich sah noch besser hin: und
wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas,
das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig
war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf
einem kleinen dünnen Stiele, -- der Stiel aber war
ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm,
konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen
erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am
Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse
Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser
Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke

Volk über Krüppel. Und warum sollte Zarathustra
nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von
Zarathustra lernt?

Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter
Menschen bin, dass ich sehe: „Diesem fehlt ein Auge
und Jenem ein Ohr und einem Dritten das Bein, und
Andre giebt es, die verloren die Zunge oder die Nase
oder den Kopf.“

Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei
so Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden
und von Einigem nicht einmal schweigen möchte:
nämlich Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser
dass sie Eins zuviel haben — Menschen, welche
Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein
grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas
Grosses, — umgekehrte Krüppel heisse ich Solche.

Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum
ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich
meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und
sagte endlich: „das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross
wie ein Mensch!“ Ich sah noch besser hin: und
wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas,
das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig
war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf
einem kleinen dünnen Stiele, — der Stiel aber war
ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm,
konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen
erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am
Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse
Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser
Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0096" n="86"/>
Volk über Krüppel. Und warum sollte Zarathustra<lb/>
nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von<lb/>
Zarathustra lernt?</p><lb/>
        <p>Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter<lb/>
Menschen bin, dass ich sehe: &#x201E;Diesem fehlt ein Auge<lb/>
und Jenem ein Ohr und einem Dritten das Bein, und<lb/>
Andre giebt es, die verloren die Zunge oder die Nase<lb/>
oder den Kopf.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei<lb/>
so Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden<lb/>
und von Einigem nicht einmal schweigen möchte:<lb/>
nämlich Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser<lb/>
dass sie Eins zuviel haben &#x2014; Menschen, welche<lb/>
Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein<lb/>
grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas<lb/>
Grosses, &#x2014; umgekehrte Krüppel heisse ich Solche.</p><lb/>
        <p>Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum<lb/>
ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich<lb/>
meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und<lb/>
sagte endlich: &#x201E;das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross<lb/>
wie ein Mensch!&#x201C; Ich sah noch besser hin: und<lb/>
wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas,<lb/>
das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig<lb/>
war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf<lb/>
einem kleinen dünnen Stiele, &#x2014; der Stiel aber war<lb/>
ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm,<lb/>
konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen<lb/>
erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am<lb/>
Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse<lb/>
Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser<lb/>
Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0096] Volk über Krüppel. Und warum sollte Zarathustra nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von Zarathustra lernt? Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter Menschen bin, dass ich sehe: „Diesem fehlt ein Auge und Jenem ein Ohr und einem Dritten das Bein, und Andre giebt es, die verloren die Zunge oder die Nase oder den Kopf.“ Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei so Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden und von Einigem nicht einmal schweigen möchte: nämlich Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben — Menschen, welche Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas Grosses, — umgekehrte Krüppel heisse ich Solche. Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich: „das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!“ Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele, — der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/96
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/96>, abgerufen am 24.11.2024.