Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

doch? Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er
wartet wohl auf den ersten Blitz?

Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Jüng¬
ling mit heftigen Gebärden: "Ja, Zarathustra, du
sprichst die Wahrheit. Nach meinem Untergange ver¬
langte ich, als ich in die Höhe wollte, und du bist
der Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich
noch, seitdem du uns erschienen bist? Der Neid auf
dich ist's, der mich zerstört hat!" -- So sprach der
Jüngling und weinte bitterlich. Zarathustra aber legte
seinen Arm um ihn und führte ihn mit sich fort.

Und als sie eine Weile mit einander gegangen
waren, hob Zarathustra also an zu sprechen:

Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte
es sagen, sagt mir dein Auge alle deine Gefahr.

Noch bist du nicht frei, du suchst noch nach
Freiheit. Übernächtig machte dich dein Suchen und
überwach.

In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet
deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten
nach Freiheit.

Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie
bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle
Gefängnisse zu lösen trachtet.

Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit
ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangnen die Seele,
aber auch arglistig und schlecht.

Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes.
Viel Gefängniss und Moder ist noch in ihm zurück:
rein muss noch sein Auge werden.

doch? Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er
wartet wohl auf den ersten Blitz?

Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Jüng¬
ling mit heftigen Gebärden: „Ja, Zarathustra, du
sprichst die Wahrheit. Nach meinem Untergange ver¬
langte ich, als ich in die Höhe wollte, und du bist
der Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich
noch, seitdem du uns erschienen bist? Der Neid auf
dich ist's, der mich zerstört hat!“ — So sprach der
Jüngling und weinte bitterlich. Zarathustra aber legte
seinen Arm um ihn und führte ihn mit sich fort.

Und als sie eine Weile mit einander gegangen
waren, hob Zarathustra also an zu sprechen:

Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte
es sagen, sagt mir dein Auge alle deine Gefahr.

Noch bist du nicht frei, du suchst noch nach
Freiheit. Übernächtig machte dich dein Suchen und
überwach.

In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet
deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten
nach Freiheit.

Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie
bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle
Gefängnisse zu lösen trachtet.

Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit
ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangnen die Seele,
aber auch arglistig und schlecht.

Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes.
Viel Gefängniss und Moder ist noch in ihm zurück:
rein muss noch sein Auge werden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="57"/>
doch? Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er<lb/>
wartet wohl auf den ersten Blitz?</p><lb/>
          <p>Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Jüng¬<lb/>
ling mit heftigen Gebärden: &#x201E;Ja, Zarathustra, du<lb/>
sprichst die Wahrheit. Nach meinem Untergange ver¬<lb/>
langte ich, als ich in die Höhe wollte, und du bist<lb/>
der Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich<lb/>
noch, seitdem du uns erschienen bist? Der <hi rendition="#g">Neid</hi> auf<lb/>
dich ist's, der mich zerstört hat!&#x201C; &#x2014; So sprach der<lb/>
Jüngling und weinte bitterlich. Zarathustra aber legte<lb/>
seinen Arm um ihn und führte ihn mit sich fort.</p><lb/>
          <p>Und als sie eine Weile mit einander gegangen<lb/>
waren, hob Zarathustra also an zu sprechen:</p><lb/>
          <p>Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte<lb/>
es sagen, sagt mir dein Auge alle deine Gefahr.</p><lb/>
          <p>Noch bist du nicht frei, du <hi rendition="#g">suchst</hi> noch nach<lb/>
Freiheit. Übernächtig machte dich dein Suchen und<lb/>
überwach.</p><lb/>
          <p>In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet<lb/>
deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten<lb/>
nach Freiheit.</p><lb/>
          <p>Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie<lb/>
bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle<lb/>
Gefängnisse zu lösen trachtet.</p><lb/>
          <p>Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit<lb/>
ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangnen die Seele,<lb/>
aber auch arglistig und schlecht.</p><lb/>
          <p>Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes.<lb/>
Viel Gefängniss und Moder ist noch in ihm zurück:<lb/>
rein muss noch sein Auge werden.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0063] doch? Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er wartet wohl auf den ersten Blitz? Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Jüng¬ ling mit heftigen Gebärden: „Ja, Zarathustra, du sprichst die Wahrheit. Nach meinem Untergange ver¬ langte ich, als ich in die Höhe wollte, und du bist der Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich noch, seitdem du uns erschienen bist? Der Neid auf dich ist's, der mich zerstört hat!“ — So sprach der Jüngling und weinte bitterlich. Zarathustra aber legte seinen Arm um ihn und führte ihn mit sich fort. Und als sie eine Weile mit einander gegangen waren, hob Zarathustra also an zu sprechen: Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte es sagen, sagt mir dein Auge alle deine Gefahr. Noch bist du nicht frei, du suchst noch nach Freiheit. Übernächtig machte dich dein Suchen und überwach. In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten nach Freiheit. Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet. Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangnen die Seele, aber auch arglistig und schlecht. Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes. Viel Gefängniss und Moder ist noch in ihm zurück: rein muss noch sein Auge werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/63
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/63>, abgerufen am 05.12.2024.