hunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: näm¬ lich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des Dionysischen in den naturwahren Affect wahrzunehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, er¬ innert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen ver¬ theidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen; denn wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie noth¬ wendig zur Selbstvernichtung treiben muss -- bis zum Todes¬ sprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: "Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche": in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein noth¬ wendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscenden¬ tale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der "poetischen Gerechtigkeit" mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.
Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der
hunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: näm¬ lich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des Dionysischen in den naturwahren Affect wahrzunehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, er¬ innert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen ver¬ theidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen; denn wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie noth¬ wendig zur Selbstvernichtung treiben muss — bis zum Todes¬ sprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: »Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein noth¬ wendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscenden¬ tale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der »poetischen Gerechtigkeit« mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.
Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der
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hunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: näm¬
lich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die
sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst
und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den
Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat
sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides
etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des
Dionysischen in den naturwahren Affect wahrzunehmen hatten.
Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, er¬
innert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden,
der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen ver¬
theidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser
tragisches Mitleiden einzubüssen; denn wer vermöchte das
optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen,
das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in
kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische
Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre
dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie noth¬
wendig zur Selbstvernichtung treiben muss — bis zum Todes¬
sprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige
sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: »Tugend
ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der
Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen
des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt
muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss
zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein noth¬
wendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscenden¬
tale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und
frechen Princip der »poetischen Gerechtigkeit« mit seinem
üblichen deus ex machina erniedrigt.
Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen
Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/89>, abgerufen am 16.02.2025.
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