Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb
mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von
jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren,
welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht
genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste
und oberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller so¬
phistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei
es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als
einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den
Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen In¬
stincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu
nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des
Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfindung
heraus zu erweisen; in welchem Sinne namentlich daran zu
erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst
sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein
neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den
Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe
Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakel¬
spruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Men¬
schen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem
Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.

Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles ge¬
nannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue
das Rechte und zwar, weil er wisse, was das Rechte sei.
Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses Wissens
dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei
"Wissenden" ihrer Zeit auszeichnet.

Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte
Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates,
als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe,
nichts zu wissen; während er, auf seiner kritischen Wanderung
durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern,

Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb
mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von
jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren,
welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht
genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste
und oberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller so¬
phistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei
es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als
einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den
Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen In¬
stincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu
nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des
Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfindung
heraus zu erweisen; in welchem Sinne namentlich daran zu
erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst
sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein
neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den
Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe
Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakel¬
spruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Men¬
schen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem
Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.

Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles ge¬
nannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue
das Rechte und zwar, weil er wisse, was das Rechte sei.
Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses Wissens
dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei
»Wissenden« ihrer Zeit auszeichnet.

Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte
Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates,
als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe,
nichts zu wissen; während er, auf seiner kritischen Wanderung
durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0083" n="70"/>
Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb<lb/>
mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von<lb/>
jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren,<lb/>
welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht<lb/>
genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste<lb/>
und oberste <hi rendition="#i">Sophist</hi>, als der Spiegel und Inbegriff aller so¬<lb/>
phistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei<lb/>
es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als<lb/>
einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den<lb/>
Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen In¬<lb/>
stincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu<lb/>
nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des<lb/>
Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfindung<lb/>
heraus zu erweisen; in welchem Sinne namentlich daran zu<lb/>
erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst<lb/>
sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein<lb/>
neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den<lb/>
Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe<lb/>
Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakel¬<lb/>
spruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Men¬<lb/>
schen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem<lb/>
Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.</p><lb/>
        <p>Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles ge¬<lb/>
nannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue<lb/>
das Rechte und zwar, weil er <hi rendition="#i">wisse</hi>, was das Rechte sei.<lb/>
Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses <hi rendition="#i">Wissens</hi><lb/>
dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei<lb/>
»Wissenden« ihrer Zeit auszeichnet.</p><lb/>
        <p>Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte<lb/>
Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates,<lb/>
als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe,<lb/><hi rendition="#i">nichts zu wissen</hi>; während er, auf seiner kritischen Wanderung<lb/>
durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0083] Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste und oberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller so¬ phistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen In¬ stincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfindung heraus zu erweisen; in welchem Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakel¬ spruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Men¬ schen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre. Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles ge¬ nannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar, weil er wisse, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses Wissens dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei »Wissenden« ihrer Zeit auszeichnet. Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, auf seiner kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/83
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/83>, abgerufen am 22.11.2024.