Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch- lyrische Gegenwart, das eigentliche "Drama".
So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechi¬ schen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-pro¬ ductives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: "im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung". Und wenn Anaxagoras mit seinem "Nous" unter den Philo¬ sophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen er¬ schien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den ande¬ ren Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde be¬ griffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausge¬ schlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die "trunkenen" Dichter als der erste "Nüchterne" verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unter¬ nahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegen¬ stück des "unverständigen" Dichters der Welt zu zeigen; sein ästhetischer Grundsatz "alles muss bewusst sein, um
Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch- lyrische Gegenwart, das eigentliche »Drama«.
So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechi¬ schen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-pro¬ ductives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: »im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung«. Und wenn Anaxagoras mit seinem »Nous« unter den Philo¬ sophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen er¬ schien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den ande¬ ren Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde be¬ griffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausge¬ schlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die »trunkenen« Dichter als der erste »Nüchterne« verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unter¬ nahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegen¬ stück des »unverständigen« Dichters der Welt zu zeigen; sein ästhetischer Grundsatz »alles muss bewusst sein, um
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0081"n="68"/>
Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der<lb/>
epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch-<lb/>
lyrische Gegenwart, das eigentliche »Drama«.</p><lb/><p>So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall<lb/>
seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm<lb/>
eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechi¬<lb/>
schen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-pro¬<lb/>
ductives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den<lb/>
Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig<lb/>
machen, deren erste Worte lauten: »im Anfang war alles<lb/>
beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung«.<lb/>
Und wenn Anaxagoras mit seinem »Nous« unter den Philo¬<lb/>
sophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen er¬<lb/>
schien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den ande¬<lb/>
ren Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde be¬<lb/>
griffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des<lb/>
Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausge¬<lb/>
schlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei<lb/>
beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die<lb/>
»trunkenen« Dichter als der erste »Nüchterne« verurtheilen.<lb/>
Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das<lb/>
Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des<lb/>
Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass<lb/>
Aeschylus, <hirendition="#i">weil</hi> er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe.<lb/>
Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen<lb/>
des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist,<lb/>
zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des<lb/>
Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter<lb/>
nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden<lb/>
sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unter¬<lb/>
nahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegen¬<lb/>
stück des »unverständigen« Dichters der Welt zu zeigen;<lb/>
sein ästhetischer Grundsatz »alles muss bewusst sein, um<lb/></p></div></body></text></TEI>
[68/0081]
Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der
epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch-
lyrische Gegenwart, das eigentliche »Drama«.
So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall
seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm
eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechi¬
schen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-pro¬
ductives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den
Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig
machen, deren erste Worte lauten: »im Anfang war alles
beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung«.
Und wenn Anaxagoras mit seinem »Nous« unter den Philo¬
sophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen er¬
schien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den ande¬
ren Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde be¬
griffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des
Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausge¬
schlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei
beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die
»trunkenen« Dichter als der erste »Nüchterne« verurtheilen.
Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das
Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des
Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass
Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe.
Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen
des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist,
zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des
Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter
nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden
sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unter¬
nahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegen¬
stück des »unverständigen« Dichters der Welt zu zeigen;
sein ästhetischer Grundsatz »alles muss bewusst sein, um
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/81>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.