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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Von diesen beiden Zuschauern ist der eine -- Euripides
selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm
könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines
kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv
künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fort¬
während befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller
Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte
Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den
Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkel¬
gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wieder¬
zuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in
die tieferen Geheimnisse der äschyleischen Tragödie Einge¬
weihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas In¬
commensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine ge¬
wisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthsel¬
hafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste
Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der
in's Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe
Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal über der
Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die
Lösung der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Be¬
handlung der Mythen! Wie ungleichmässig die Vertheilung
von Glück und Unglück! Selbst in der Sprache der älteren
Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft;
besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse,
zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit
der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater,
und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen
Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als
die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so
musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand
so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität
eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Ein¬

Von diesen beiden Zuschauern ist der eine — Euripides
selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm
könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines
kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv
künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fort¬
während befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller
Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte
Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den
Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkel¬
gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wieder¬
zuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in
die tieferen Geheimnisse der äschyleischen Tragödie Einge¬
weihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas In¬
commensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine ge¬
wisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthsel¬
hafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste
Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der
in's Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe
Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal über der
Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die
Lösung der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Be¬
handlung der Mythen! Wie ungleichmässig die Vertheilung
von Glück und Unglück! Selbst in der Sprache der älteren
Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft;
besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse,
zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit
der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater,
und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen
Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als
die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so
musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand
so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität
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[61/0074] Von diesen beiden Zuschauern ist der eine — Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fort¬ während befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkel¬ gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wieder¬ zuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der äschyleischen Tragödie Einge¬ weihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas In¬ commensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine ge¬ wisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthsel¬ hafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der in's Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Be¬ handlung der Mythen! Wie ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück! Selbst in der Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse, zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Ein¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/74>, abgerufen am 24.11.2024.