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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische
Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie
ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes
gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der
tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von
Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass
inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen
Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Pro¬
metheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt,
dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls
er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In
Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor
seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird
das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem
Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und
nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der ho¬
merischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit
an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge
dieser Göttin -- bis sie die mächtige Faust des dionysischen
Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die
dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des
Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese
theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den
geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer
unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies,
die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den My¬
thus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies
ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der
Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den
Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpre¬
tiren weiss; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der
Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist
das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb¬

Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische
Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie
ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes
gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der
tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von
Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass
inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen
Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Pro¬
metheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt,
dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls
er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In
Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor
seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird
das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem
Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und
nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der ho¬
merischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit
an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge
dieser Göttin — bis sie die mächtige Faust des dionysischen
Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die
dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des
Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese
theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den
geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer
unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies,
die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den My¬
thus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies
ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der
Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den
Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpre¬
tiren weiss; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der
Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist
das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb¬

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[53/0066] Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Pro¬ metheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der ho¬ merischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin — bis sie die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den My¬ thus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpre¬ tiren weiss; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/66>, abgerufen am 24.11.2024.