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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die grie¬
chische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des
Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit
hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war.
Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass
niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tra¬
gische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren
der griechischen Bühne Prometheus Oedipus u. s. w. nur
Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass
hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der
eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische
"Idealität" jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht
wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch
und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, dass
die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne
nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfun¬
den zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung
und Werthabschätzung der "Idee" im Gegensatze zum "Idol",
zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um
uns aber der Terminologie Plato's zu bedienen, so wäre von
den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu
reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer
Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Hel¬
den und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt.
So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt
er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass
er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deut¬
lichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo,
der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich¬

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10.

Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die grie¬
chische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des
Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit
hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war.
Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass
niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tra¬
gische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren
der griechischen Bühne Prometheus Oedipus u. s. w. nur
Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass
hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der
eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische
»Idealität« jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht
wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch
und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, dass
die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne
nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfun¬
den zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung
und Werthabschätzung der »Idee« im Gegensatze zum »Idol«,
zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um
uns aber der Terminologie Plato's zu bedienen, so wäre von
den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu
reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer
Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Hel¬
den und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt.
So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt
er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass
er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deut¬
lichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo,
der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich¬

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[51/0064] 10. Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die grie¬ chische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tra¬ gische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische »Idealität« jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfun¬ den zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Werthabschätzung der »Idee« im Gegensatze zum »Idol«, zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Plato's zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Hel¬ den und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deut¬ lichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich¬ 4 *

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/64>, abgerufen am 17.11.2024.