Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende
Menschengeschlecht heimsuchen -- müssen: ein herber Ge¬
danke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt,
seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht,
in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung,
die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vor¬
nehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels
angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung aus¬
zeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen Sünde als
der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der
ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden
ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und
zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch ver¬
wirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge -- das
der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln --, der
Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein
Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen
und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im
Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre
Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange
des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den
Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Welt¬
wesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den
Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und lei¬
det. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den
Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der
Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen
wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:

"Wir nehmen das nicht so genau:
Mit tausend Schritten macht's die Frau;
Doch wie sie auch sich eilen kann,
Mit einem Sprunge macht's der Mann".

Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht --
nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 4

mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende
Menschengeschlecht heimsuchen — müssen: ein herber Ge¬
danke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt,
seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht,
in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung,
die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vor¬
nehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels
angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung aus¬
zeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen Sünde als
der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der
ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden
ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und
zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch ver¬
wirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge — das
der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln —, der
Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein
Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen
und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im
Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre
Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange
des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den
Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Welt¬
wesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den
Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und lei¬
det. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den
Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der
Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen
wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:

»Wir nehmen das nicht so genau:
Mit tausend Schritten macht's die Frau;
Doch wie sie auch sich eilen kann,
Mit einem Sprunge macht's der Mann«.

Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht —
nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0062" n="49"/>
mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende<lb/>
Menschengeschlecht heimsuchen &#x2014; müssen: ein herber Ge¬<lb/>
danke, der durch die <hi rendition="#i">Würde</hi>, die er dem Frevel ertheilt,<lb/>
seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht,<lb/>
in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung,<lb/>
die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vor¬<lb/>
nehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels<lb/>
angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung aus¬<lb/>
zeichnet, ist die erhabene Ansicht von der <hi rendition="#i">activen Sünde</hi> als<lb/>
der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der<lb/>
ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden<lb/>
ist, als die <hi rendition="#i">Rechtfertigung</hi> des menschlichen Uebels, und<lb/>
zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch ver¬<lb/>
wirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge &#x2014; das<lb/>
der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln &#x2014;, der<lb/>
Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein<lb/>
Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen<lb/>
und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im<lb/>
Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre<lb/>
Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange<lb/>
des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den<lb/>
Bann der Individuation hinauszuschreiten und das <hi rendition="#i">eine</hi> Welt¬<lb/>
wesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den<lb/>
Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und lei¬<lb/>
det. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den<lb/>
Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der<lb/>
Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen<lb/>
wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>»Wir nehmen das nicht so genau:</l><lb/>
          <l>Mit tausend Schritten macht's die Frau;</l><lb/>
          <l>Doch wie sie auch sich eilen kann,</l><lb/>
          <l>Mit einem Sprunge macht's der Mann«.</l><lb/>
        </lg>
        <p>Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht &#x2014;<lb/>
nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Nietzsche</hi>, Geburt der Tragödie. 4<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0062] mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen — müssen: ein herber Ge¬ danke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vor¬ nehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung aus¬ zeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch ver¬ wirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge — das der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln —, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Welt¬ wesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und lei¬ det. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor: »Wir nehmen das nicht so genau: Mit tausend Schritten macht's die Frau; Doch wie sie auch sich eilen kann, Mit einem Sprunge macht's der Mann«. Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht — nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene Nietzsche, Geburt der Tragödie. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/62
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/62>, abgerufen am 22.11.2024.