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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden
durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass
wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken
wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem
Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf
die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter
des Helden ab -- der im Grunde nichts mehr ist als das auf
eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung
durch und durch -- dringen wir vielmehr in den Mythus
ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben
wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss
zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem
kräftigen Versuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns ge¬
blendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleich¬
sam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene
Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das
Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes
in's Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende
Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten
Blickes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernst¬
haften und bedeutenden Begriff der "griechischen Heiterkeit"
richtig zu fassen; während wir allerdings den falsch ver¬
standenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten
Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen.

Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der un¬
glückselige Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch
verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz
seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein
ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich
ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist.
Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter
sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche
Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch

So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden
durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass
wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken
wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem
Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf
die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter
des Helden ab — der im Grunde nichts mehr ist als das auf
eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung
durch und durch — dringen wir vielmehr in den Mythus
ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben
wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss
zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem
kräftigen Versuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns ge¬
blendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleich¬
sam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene
Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das
Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes
in's Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende
Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten
Blickes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernst¬
haften und bedeutenden Begriff der »griechischen Heiterkeit«
richtig zu fassen; während wir allerdings den falsch ver¬
standenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten
Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen.

Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der un¬
glückselige Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch
verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz
seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein
ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich
ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist.
Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter
sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche
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[44/0057] So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter des Helden ab — der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung durch und durch — dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns ge¬ blendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleich¬ sam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernst¬ haften und bedeutenden Begriff der »griechischen Heiterkeit« richtig zu fassen; während wir allerdings den falsch ver¬ standenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen. Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der un¬ glückselige Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/57>, abgerufen am 23.11.2024.