Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch 9. Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tra¬ ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch 9. Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tra¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0056" n="43"/> ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch<lb/> erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah,<lb/> mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwill¬<lb/> kürlich übertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde<lb/> Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Re¬<lb/> alität gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies<lb/> ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des<lb/> Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, ver¬<lb/> ständlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher,<lb/> in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert.<lb/> Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durch¬<lb/> greifenden Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit,<lb/> Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des<lb/> Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der<lb/> Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucks aus ein¬<lb/> ander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Di¬<lb/> onysus objectivirt, sind nicht mehr »ein ewiges Meer, ein<lb/> wechselnd Weben, ein glühend Leben«, wie es die Musik<lb/> des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum<lb/> Bilde verdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysus¬<lb/> diener die Nähe des Gottes spürt: jetzt spricht, von der<lb/> Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Ge¬<lb/> staltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte,<lb/> sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.</p><lb/> </div> <div n="1"> <head>9.<lb/></head> <p>Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tra¬<lb/> gödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach,<lb/> durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein<lb/> Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart,<lb/> weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich<lb/> in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [43/0056]
ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch
erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah,
mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwill¬
kürlich übertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde
Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Re¬
alität gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies
ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des
Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, ver¬
ständlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher,
in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert.
Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durch¬
greifenden Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit,
Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des
Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der
Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucks aus ein¬
ander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Di¬
onysus objectivirt, sind nicht mehr »ein ewiges Meer, ein
wechselnd Weben, ein glühend Leben«, wie es die Musik
des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum
Bilde verdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysus¬
diener die Nähe des Gottes spürt: jetzt spricht, von der
Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Ge¬
staltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte,
sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.
9.
Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tra¬
gödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach,
durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein
Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart,
weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich
in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |