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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors
ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich ver¬
wandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich
in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen
wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung
des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der
mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler
ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht; hier ist
bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine
fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen endemisch
auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert.
Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen
Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lor¬
beerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo
ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie
sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: der dithyram¬
bische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre
bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig ver¬
gessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesell¬
schaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle
andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steige¬
rung des apollinischen Einzelsängers: während im Dithyramb
eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht,
die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen.

Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller drama¬
tischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der diony¬
sische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut
er den Gott
d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue
Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustan¬
des. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.

Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tra¬
gödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer
von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.

sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors
ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich ver¬
wandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich
in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen
wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung
des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der
mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler
ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht; hier ist
bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine
fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen endemisch
auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert.
Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen
Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lor¬
beerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo
ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie
sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: der dithyram¬
bische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre
bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig ver¬
gessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesell¬
schaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle
andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steige¬
rung des apollinischen Einzelsängers: während im Dithyramb
eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht,
die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen.

Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller drama¬
tischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der diony¬
sische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut
er den Gott
d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue
Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustan¬
des. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.

Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tra¬
gödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer
von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.

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[40/0053] sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich ver¬ wandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen endemisch auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lor¬ beerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: der dithyram¬ bische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig ver¬ gessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesell¬ schaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steige¬ rung des apollinischen Einzelsängers: während im Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen. Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller drama¬ tischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der diony¬ sische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustan¬ des. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig. Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tra¬ gödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/53>, abgerufen am 22.11.2024.