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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich,
als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein ver¬
mag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde
des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich
leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische
Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künst¬
lerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor
des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst;
an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften
sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen.

8.

Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren
Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und
Natürliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen
unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Wald¬
menschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne
Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden
weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Er¬
kenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch uner¬
brochen sind -- das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm
deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegen¬
theil: es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner
höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer,
den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse,
in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheits¬
verkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild
der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche
gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der
Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches: so musste er
besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen
Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schäfer

Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich,
als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein ver¬
mag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde
des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich
leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische
Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künst¬
lerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor
des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst;
an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften
sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen.

8.

Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren
Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und
Natürliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen
unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Wald¬
menschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne
Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden
weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Er¬
kenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch uner¬
brochen sind — das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm
deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegen¬
theil: es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner
höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer,
den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse,
in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheits¬
verkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild
der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche
gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der
Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches: so musste er
besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen
Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schäfer

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[36/0049] Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein ver¬ mag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künst¬ lerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst; an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen. 8. Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Wald¬ menschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Er¬ kenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch uner¬ brochen sind — das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegen¬ theil: es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheits¬ verkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches: so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schäfer

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/49>, abgerufen am 17.11.2024.