Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0047" n="34"/> unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit<lb/> ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische<lb/> Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns eben so be¬<lb/> fremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung der<lb/> Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen<lb/> Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung<lb/> hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu<lb/> dem Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die<lb/> dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Ri¬<lb/> chard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde<lb/> wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise,<lb/> glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch im An¬<lb/> gesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste<lb/> Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und<lb/> die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und<lb/> Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, wel¬<lb/> ches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische<lb/> Trost, — mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns<lb/> jede wahre Tragödie entlässt — dass das Leben im Grunde<lb/> der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzer¬<lb/> störbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in<lb/> leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Natur¬<lb/> wesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar<lb/> leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der<lb/> Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.</p><lb/> <p>Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum<lb/> zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene,<lb/> der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Ver¬<lb/> nichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so<lb/> wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Ge¬<lb/> fahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des<lb/> Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die<lb/> Kunst rettet ihn sich — das Leben.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [34/0047]
unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit
ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische
Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns eben so be¬
fremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung der
Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen
Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung
hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu
dem Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die
dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Ri¬
chard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde
wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise,
glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch im An¬
gesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste
Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und
die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und
Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, wel¬
ches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische
Trost, — mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns
jede wahre Tragödie entlässt — dass das Leben im Grunde
der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzer¬
störbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in
leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Natur¬
wesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar
leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der
Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.
Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum
zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene,
der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Ver¬
nichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so
wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Ge¬
fahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des
Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die
Kunst rettet ihn sich — das Leben.
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