Künstler der erste "subjective" entgegengestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom "Ich" und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Ob¬ jectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der "Lyriker" als Künstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer "ich" sagt und die ganze chro¬ matische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der "objectiven" Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung ("Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee"). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit
Künstler der erste »subjective« entgegengestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom »Ich« und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Ob¬ jectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der »Lyriker« als Künstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer »ich« sagt und die ganze chro¬ matische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphiſche Orakel, der Herd der »objectiven« Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor ſich und in ſich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung (»Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee«). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit
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Künstler der erste »subjective« entgegengestellt sei. Uns ist
mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven
Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art
und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des
Subjectiven, Erlösung vom »Ich« und Stillschweigen jedes
individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Ob¬
jectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die
geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können.
Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie
der »Lyriker« als Künstler möglich ist: er, der, nach der
Erfahrung aller Zeiten, immer »ich« sagt und die ganze chro¬
matische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen
vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns,
neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes,
durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der
erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche
Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm,
dem Dichter, gerade auch das delphiſche Orakel, der Herd
der »objectiven« Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen
erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch
eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende
psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich
als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens
nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität
der Gedanken, vor ſich und in ſich gehabt zu haben, sondern
vielmehr eine musikalische Stimmung (»Die Empfindung ist
bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand;
dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische
Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir
erst die poetische Idee«). Nehmen wir jetzt das wichtigste
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/33>, abgerufen am 27.07.2024.
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