Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauber¬ sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauber¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0025" n="12"/> sein, nicht zu <hi rendition="#i">sein</hi>, <hi rendition="#i">nichts</hi> zu sein. Das Zweitbeste aber ist<lb/> für dich — bald zu sterben«.</p><lb/> <p>Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische<lb/> Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolter¬<lb/> ten Märtyrers zu seinen Peinigungen.</p><lb/> <p>Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauber¬<lb/> berg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und<lb/> empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins:<lb/> um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die<lb/> glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes un¬<lb/> geheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur,<lb/> jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira,<lb/> jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes<lb/> Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch<lb/> der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, jene Gor¬<lb/> gonen und Medusen, kurz jene ganze Philosophie des Wald¬<lb/> gottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die<lb/> schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind — wurde<lb/> von den Griechen durch jene künstlerische <hi rendition="#i">Mittelwelt</hi> der<lb/> Olympier überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick<lb/> entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese<lb/> Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang<lb/> wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprüng¬<lb/> lichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen<lb/> apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die<lb/> olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde:<lb/> wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie<lb/> anders hätte jenes unendlich sensible, zum <hi rendition="#i">Leiden</hi> so einzig<lb/> befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht<lb/> dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen<lb/> Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst<lb/> in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergän¬<lb/> zung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [12/0025]
sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist
für dich — bald zu sterben«.
Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische
Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolter¬
ten Märtyrers zu seinen Peinigungen.
Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauber¬
berg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und
empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins:
um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die
glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes un¬
geheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur,
jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira,
jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes
Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch
der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, jene Gor¬
gonen und Medusen, kurz jene ganze Philosophie des Wald¬
gottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die
schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind — wurde
von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der
Olympier überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick
entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese
Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang
wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprüng¬
lichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen
apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die
olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde:
wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie
anders hätte jenes unendlich sensible, zum Leiden so einzig
befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht
dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen
Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst
in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergän¬
zung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische
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