Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet.
In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragi¬
schen Mythus -- und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das
Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste aber ist für uns
alle -- die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Ge¬
nius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer
Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort -- wie ihr auch, zum
Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet.

25.

Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise
Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von
einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche,
das jenseits des Apollinischen liegt; beide verklären eine
Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das
schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit
dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauber¬
künsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel
die Existenz selbst der "schlechtesten Welt". Hier zeigt sich
das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die
ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze
Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein
neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt
der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns
eine Menschwerdung der Dissonanz denken -- und was ist
sonst der Mensch? -- so würde diese Dissonanz, um leben
zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen
Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die
wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle
jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen,
die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth
machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.

glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet.
In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragi¬
schen Mythus — und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das
Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste aber ist für uns
alle — die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Ge¬
nius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer
Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort — wie ihr auch, zum
Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet.

25.

Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise
Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von
einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche,
das jenseits des Apollinischen liegt; beide verklären eine
Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das
schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit
dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauber¬
künsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel
die Existenz selbst der »schlechtesten Welt«. Hier zeigt sich
das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die
ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze
Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein
neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt
der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns
eine Menschwerdung der Dissonanz denken — und was ist
sonst der Mensch? — so würde diese Dissonanz, um leben
zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen
Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die
wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle
jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen,
die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth
machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0155" n="142"/>
glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet.<lb/>
In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragi¬<lb/>
schen Mythus &#x2014; und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das<lb/>
Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste aber ist für uns<lb/>
alle &#x2014; die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Ge¬<lb/>
nius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer<lb/>
Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort &#x2014; wie ihr auch, zum<lb/>
Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet.</p><lb/>
      </div>
      <div n="1">
        <head>25.<lb/></head>
        <p>Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise<lb/>
Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von<lb/>
einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche,<lb/>
das jenseits des Apollinischen liegt; beide verklären eine<lb/>
Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das<lb/>
schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit<lb/>
dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauber¬<lb/>
künsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel<lb/>
die Existenz selbst der »schlechtesten Welt«. Hier zeigt sich<lb/>
das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die<lb/>
ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze<lb/>
Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein<lb/>
neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt<lb/>
der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns<lb/>
eine Menschwerdung der Dissonanz denken &#x2014; und was ist<lb/>
sonst der Mensch? &#x2014; so würde diese Dissonanz, um leben<lb/>
zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen<lb/>
Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die<lb/>
wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle<lb/>
jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen,<lb/>
die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth<lb/>
machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0155] glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragi¬ schen Mythus — und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste aber ist für uns alle — die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Ge¬ nius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort — wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet. 25. Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollinischen liegt; beide verklären eine Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauber¬ künsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel die Existenz selbst der »schlechtesten Welt«. Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken — und was ist sonst der Mensch? — so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/155
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/155>, abgerufen am 18.12.2024.