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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche
die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affecte
der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe
der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht
Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe,
nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne
je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen; manche
von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht
einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe
ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik,
in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den
Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Ver¬
bindung stehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage,
ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten
Act von "Tristan und Isolde" ohne alle Beihülfe von Wort
und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu perci¬
piren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Aus¬
spannen aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der
wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Welt¬
willens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein
als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach
von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er
sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, in der
elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den
Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem "weiten
Raum der Weltennacht" zu vernehmen, ohne bei diesem
Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam
zuzuflüchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes
percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexi¬
stenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden konnte,
ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern -- woher nehmen wir
die Lösung solches sonderbaren Widerspruches?

diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche
die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affecte
der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe
der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht
Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe,
nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne
je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen; manche
von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht
einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe
ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik,
in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den
Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Ver¬
bindung stehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage,
ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten
Act von »Tristan und Isolde« ohne alle Beihülfe von Wort
und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu perci¬
piren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Aus¬
spannen aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der
wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Welt¬
willens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein
als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach
von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er
sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, in der
elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den
Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem »weiten
Raum der Weltennacht« zu vernehmen, ohne bei diesem
Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam
zuzuflüchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes
percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexi¬
stenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden konnte,
ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern — woher nehmen wir
die Lösung solches sonderbaren Widerspruches?

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[121/0134] diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Ver¬ bindung stehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten Act von »Tristan und Isolde« ohne alle Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu perci¬ piren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Aus¬ spannen aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Welt¬ willens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, in der elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem »weiten Raum der Weltennacht« zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexi¬ stenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden konnte, ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern — woher nehmen wir die Lösung solches sonderbaren Widerspruches?

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/134>, abgerufen am 22.11.2024.