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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken,
ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des
Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so
innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung
des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künst¬
lerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schil¬
derung zu definieren als die Vermischung des epischen und
des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich be¬
ständige Mischung, die bei so gänzlich disparaten Dingen
nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaik¬
artige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der
Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war
aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs:
vielmehr
glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch
jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik
gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines
Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie er¬
klären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung
der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte
sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung
der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume über¬
lassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Mensch¬
heit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik
jene unübertroffne Reinheit. Macht und Unschuld gehabt
haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so
rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das inner¬
lichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung,
der Oper: ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine
Kunst, aber ein Bedürfniss unästhetischer Art: die Sehnsucht
zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des
künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als
die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper
als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch

bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken,
ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des
Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so
innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung
des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künst¬
lerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schil¬
derung zu definieren als die Vermischung des epischen und
des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich be¬
ständige Mischung, die bei so gänzlich disparaten Dingen
nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaik¬
artige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der
Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war
aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs:
vielmehr
glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch
jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik
gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines
Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie er¬
klären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung
der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte
sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung
der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume über¬
lassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Mensch¬
heit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik
jene unübertroffne Reinheit. Macht und Unschuld gehabt
haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so
rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das inner¬
lichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung,
der Oper: ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine
Kunst, aber ein Bedürfniss unästhetischer Art: die Sehnsucht
zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des
künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als
die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper
als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch

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[106/0119] bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künst¬ lerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schil¬ derung zu definieren als die Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich be¬ ständige Mischung, die bei so gänzlich disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaik¬ artige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie er¬ klären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume über¬ lassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Mensch¬ heit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroffne Reinheit. Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das inner¬ lichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unästhetischer Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/119>, abgerufen am 28.11.2024.