schen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Diebes alle ihre Effectstücke und Manieren.
Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des psychologischen Raffine¬ ments in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Cha¬ rakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige Porträtwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künst¬ lerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter: während noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen; in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, ver¬ schmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Er¬ innerungsmusik d. h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 7
schen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Diebes alle ihre Effectstücke und Manieren.
Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des psychologischen Raffine¬ ments in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Cha¬ rakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige Porträtwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künst¬ lerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter: während noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen; in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, ver¬ schmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Er¬ innerungsmusik d. h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 7
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schen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Diebes
alle ihre Effectstücke und Manieren.
Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses
undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in
Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen
der Charakterdarstellung und des psychologischen Raffine¬
ments in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Cha¬
rakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern
lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge
und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien
individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr
den Mythus, sondern die mächtige Porträtwahrheit und die
Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch hier gewahren
wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die
Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir
athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher
die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künst¬
lerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung
auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter:
während noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer
raffinirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt
Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge,
die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen; in der
neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit
einem Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, ver¬
schmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin
ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik? Was jetzt noch
von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Er¬
innerungsmusik d. h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe
und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere
kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon
bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/110>, abgerufen am 16.02.2025.
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