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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Dritter Abschnitt.
Einlerern der einzelnen Gegenstände abzugeben, welches
nicht einmal zu einer allgemeinen Uebersicht verhelfe,
wenn nicht die Verstandesübung hinzukomme, welche
erst Ordnung und Einheit in die Masse der mit dem
Gedächtniß gefaßten einzelnen Kenntnisse bringe. Au-
ßerdem sey es eine selbst sprichwörtlich gewordne Erfah-
rung (beati memoria exspectant iudicium), daß
vorherrschende Gedächtnißfertigkeit der Urtheils-
kraft
, die doch die edlere und wichtigere intellectuel-
le Kraft des Menschen sey, Abbruch thue." Allein
was das Erstere betrifft, so ist es eine ganz irrige
Meinung, daß allgemeine Uebersichten die Kenntniß
des Einzelnen entbehrlich machen; vielmehr, wenn die
allgemeinen Begriffe, Grundsätze, Classificationen, mit
welchen man das Einzelne zu beherrschen sich einbildet,
(die übrigens doch selbst auch im Gedachtniß festgehal-
ten seyn wollen, und insofern Gedächtnißfertigkeit vor-
aussetzen!) nicht bloße hohle und todte Formeln seyn
sollen, so müssen sie mit der lebendigen Anschauung
des Einzelnen verbunden seyn, die nur durch ein ge-
übtes Gedächtniß möglich ist. Was aber die zweite
Einwendung betrifft, so beruht sie auf einem bloßen
Vorurtheil. Will man als eine psychologische Beob-
achtung geltend machen, daß man Individuen findet,
bei denen sich mit einem außerordentlichen Grade von
Gedächtnißkraft ein fast gänzlicher Mangel an Urtheils-
kraft verbinde, so hat man um so mehr unrecht, dies
als ein psychologisches Gesetz auszusprechen, da zum
mindesten eben so viele Beispiele von Menschen aufge-
stellt werden können, bei denen mit dem eminentesten

Dritter Abſchnitt.
Einlerern der einzelnen Gegenſtaͤnde abzugeben, welches
nicht einmal zu einer allgemeinen Ueberſicht verhelfe,
wenn nicht die Verſtandesuͤbung hinzukomme, welche
erſt Ordnung und Einheit in die Maſſe der mit dem
Gedaͤchtniß gefaßten einzelnen Kenntniſſe bringe. Au-
ßerdem ſey es eine ſelbſt ſprichwoͤrtlich gewordne Erfah-
rung (beati memoria exspectant iudicium), daß
vorherrſchende Gedaͤchtnißfertigkeit der Urtheils-
kraft
, die doch die edlere und wichtigere intellectuel-
le Kraft des Menſchen ſey, Abbruch thue.“ Allein
was das Erſtere betrifft, ſo iſt es eine ganz irrige
Meinung, daß allgemeine Ueberſichten die Kenntniß
des Einzelnen entbehrlich machen; vielmehr, wenn die
allgemeinen Begriffe, Grundſaͤtze, Claſſificationen, mit
welchen man das Einzelne zu beherrſchen ſich einbildet,
(die uͤbrigens doch ſelbſt auch im Gedachtniß feſtgehal-
ten ſeyn wollen, und inſofern Gedaͤchtnißfertigkeit vor-
ausſetzen!) nicht bloße hohle und todte Formeln ſeyn
ſollen, ſo muͤſſen ſie mit der lebendigen Anſchauung
des Einzelnen verbunden ſeyn, die nur durch ein ge-
uͤbtes Gedaͤchtniß moͤglich iſt. Was aber die zweite
Einwendung betrifft, ſo beruht ſie auf einem bloßen
Vorurtheil. Will man als eine pſychologiſche Beob-
achtung geltend machen, daß man Individuen findet,
bei denen ſich mit einem außerordentlichen Grade von
Gedaͤchtnißkraft ein faſt gaͤnzlicher Mangel an Urtheils-
kraft verbinde, ſo hat man um ſo mehr unrecht, dies
als ein pſychologiſches Geſetz auszuſprechen, da zum
mindeſten eben ſo viele Beiſpiele von Menſchen aufge-
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[294/0306] Dritter Abſchnitt. Einlerern der einzelnen Gegenſtaͤnde abzugeben, welches nicht einmal zu einer allgemeinen Ueberſicht verhelfe, wenn nicht die Verſtandesuͤbung hinzukomme, welche erſt Ordnung und Einheit in die Maſſe der mit dem Gedaͤchtniß gefaßten einzelnen Kenntniſſe bringe. Au- ßerdem ſey es eine ſelbſt ſprichwoͤrtlich gewordne Erfah- rung (beati memoria exspectant iudicium), daß vorherrſchende Gedaͤchtnißfertigkeit der Urtheils- kraft, die doch die edlere und wichtigere intellectuel- le Kraft des Menſchen ſey, Abbruch thue.“ Allein was das Erſtere betrifft, ſo iſt es eine ganz irrige Meinung, daß allgemeine Ueberſichten die Kenntniß des Einzelnen entbehrlich machen; vielmehr, wenn die allgemeinen Begriffe, Grundſaͤtze, Claſſificationen, mit welchen man das Einzelne zu beherrſchen ſich einbildet, (die uͤbrigens doch ſelbſt auch im Gedachtniß feſtgehal- ten ſeyn wollen, und inſofern Gedaͤchtnißfertigkeit vor- ausſetzen!) nicht bloße hohle und todte Formeln ſeyn ſollen, ſo muͤſſen ſie mit der lebendigen Anſchauung des Einzelnen verbunden ſeyn, die nur durch ein ge- uͤbtes Gedaͤchtniß moͤglich iſt. Was aber die zweite Einwendung betrifft, ſo beruht ſie auf einem bloßen Vorurtheil. Will man als eine pſychologiſche Beob- achtung geltend machen, daß man Individuen findet, bei denen ſich mit einem außerordentlichen Grade von Gedaͤchtnißkraft ein faſt gaͤnzlicher Mangel an Urtheils- kraft verbinde, ſo hat man um ſo mehr unrecht, dies als ein pſychologiſches Geſetz auszuſprechen, da zum mindeſten eben ſo viele Beiſpiele von Menſchen aufge- ſtellt werden koͤnnen, bei denen mit dem eminenteſten

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/306>, abgerufen am 22.11.2024.