hauptungen verleitet hat, soll die folgende Untersuchung wenigstens andeuten.
Unstreitig ist es eine Behauptung, die sich hören läßt: "daß die volle Bestimmtheit der Erkenntniß nur aus dem Allgemeinen kommen könne, daß alle Betrach- tung und Untersuchung des Einzelnen uns dessen Wesen nicht aufzuschließen vermöge, daß wir, um dieses zu erkennen, aufsteigen müssen zu der Idee, und daß selbst die Idee des Einzelnen, wenn sie mehr seyn soll als ein bloßer Einfall, nur aus der Grundidee des Ganzen zu erfassen sey; daß sonach halbe und schiefe Vorstel- lungen unbedenklich selbst die bestimmtesten Kenntnisse, wenn sie nur im Einzelnen aufgefaßt worden, genannt werden dürfen, sofern das Einzelne nur halb erkannt ist, wenn es nur als Einzelnes, und nur als Ge- genstand, und nicht in der Idee des Ganzen gedacht und erkannt wird; welche halbe Erkenntniß, sofern sie sich als ganze nimmt und giebt, auch eine schiefe ist."
In dem Sinne aber, der streng genommen jener Behauptung zu Grunde liegt, -- daß nur in der höch- sten metaphysischen Erkenntnißart die volle Wahrheit der Erkenntniß zu finden sey, -- wird sie am allerwe- nigsten von dem Philanthropinismus verstanden, der so weit entfernt ist, der Metaphysik eine Wahrheit ein- zuräumen, daß er vielmehr solche ausschließend in der materiellen Realität und ihrer Beobachtung sucht. Ihm hat die Behauptung vielmehr nur den Sinn: man
Dritter Abſchnitt.
hauptungen verleitet hat, ſoll die folgende Unterſuchung wenigſtens andeuten.
Unſtreitig iſt es eine Behauptung, die ſich hoͤren laͤßt: „daß die volle Beſtimmtheit der Erkenntniß nur aus dem Allgemeinen kommen koͤnne, daß alle Betrach- tung und Unterſuchung des Einzelnen uns deſſen Weſen nicht aufzuſchließen vermoͤge, daß wir, um dieſes zu erkennen, aufſteigen muͤſſen zu der Idee, und daß ſelbſt die Idee des Einzelnen, wenn ſie mehr ſeyn ſoll als ein bloßer Einfall, nur aus der Grundidee des Ganzen zu erfaſſen ſey; daß ſonach halbe und ſchiefe Vorſtel- lungen unbedenklich ſelbſt die beſtimmteſten Kenntniſſe, wenn ſie nur im Einzelnen aufgefaßt worden, genannt werden duͤrfen, ſofern das Einzelne nur halb erkannt iſt, wenn es nur als Einzelnes, und nur als Ge- genſtand, und nicht in der Idee des Ganzen gedacht und erkannt wird; welche halbe Erkenntniß, ſofern ſie ſich als ganze nimmt und giebt, auch eine ſchiefe iſt.“
In dem Sinne aber, der ſtreng genommen jener Behauptung zu Grunde liegt, — daß nur in der hoͤch- ſten metaphyſiſchen Erkenntnißart die volle Wahrheit der Erkenntniß zu finden ſey, — wird ſie am allerwe- nigſten von dem Philanthropiniſmus verſtanden, der ſo weit entfernt iſt, der Metaphyſik eine Wahrheit ein- zuraͤumen, daß er vielmehr ſolche ausſchließend in der materiellen Realitaͤt und ihrer Beobachtung ſucht. Ihm hat die Behauptung vielmehr nur den Sinn: man
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Dritter Abſchnitt.
hauptungen verleitet hat, ſoll die folgende Unterſuchung
wenigſtens andeuten.
Unſtreitig iſt es eine Behauptung, die ſich hoͤren
laͤßt: „daß die volle Beſtimmtheit der Erkenntniß nur
aus dem Allgemeinen kommen koͤnne, daß alle Betrach-
tung und Unterſuchung des Einzelnen uns deſſen Weſen
nicht aufzuſchließen vermoͤge, daß wir, um dieſes zu
erkennen, aufſteigen muͤſſen zu der Idee, und daß ſelbſt
die Idee des Einzelnen, wenn ſie mehr ſeyn ſoll als
ein bloßer Einfall, nur aus der Grundidee des Ganzen
zu erfaſſen ſey; daß ſonach halbe und ſchiefe Vorſtel-
lungen unbedenklich ſelbſt die beſtimmteſten Kenntniſſe,
wenn ſie nur im Einzelnen aufgefaßt worden, genannt
werden duͤrfen, ſofern das Einzelne nur halb erkannt
iſt, wenn es nur als Einzelnes, und nur als Ge-
genſtand, und nicht in der Idee des Ganzen gedacht
und erkannt wird; welche halbe Erkenntniß, ſofern
ſie ſich als ganze nimmt und giebt, auch eine
ſchiefe iſt.“
In dem Sinne aber, der ſtreng genommen jener
Behauptung zu Grunde liegt, — daß nur in der hoͤch-
ſten metaphyſiſchen Erkenntnißart die volle Wahrheit
der Erkenntniß zu finden ſey, — wird ſie am allerwe-
nigſten von dem Philanthropiniſmus verſtanden, der
ſo weit entfernt iſt, der Metaphyſik eine Wahrheit ein-
zuraͤumen, daß er vielmehr ſolche ausſchließend in der
materiellen Realitaͤt und ihrer Beobachtung ſucht. Ihm
hat die Behauptung vielmehr nur den Sinn: man
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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/274>, abgerufen am 16.02.2025.
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