Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.Von d. Grunds. d. Erziehungsunterr. im Allgem. unsrer Cultur fast haben untergehen lassen -- dieKenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch ungetrenntem Gemüth und ungetheiltem Streben her- vorgegangen, durch Harmonie des Gefühls und des Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner- reichte Muster für uns sind, uns zu erheben und zu begeistern, sondern auch leuchtende Sterne, in dem Kampfe der Zeit unserm Herzen Beruhigung und Hoff- nung auf die Zukunft der Versöhnung einzuflößen, und dem Geist in der Verwirrung des Streites das rechte Ziel unverrückt vor Augen zu halten? Dürfen wir uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel- cher der Leitstern der Vorzeit verschwunden ist, kein Ziel mehr kennt? Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem. unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen — dieKenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her- vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner- reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff- nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel- cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein Ziel mehr kennt? Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p><pb facs="#f0247" n="235"/><fw place="top" type="header">Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.</fw><lb/> unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen — die<lb/> Kenntniß der <hi rendition="#g">Urbilder</hi> der Vorzeit, die, aus noch<lb/> ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her-<lb/> vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des<lb/> Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre<lb/> Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre<lb/> Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner-<lb/> reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu<lb/> begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem<lb/> Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff-<lb/> nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und<lb/> dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte<lb/> Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir<lb/> uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel-<lb/> cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein<lb/> Ziel mehr kennt?</p><lb/> <p>Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit<lb/> kann in Abſicht auf Bildung des Geſchmackes der Mu-<lb/> ſter des Alterthums weniger entbehren, als gerade<lb/> die unſrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng-<lb/> laͤnder, die Franzoſen haben ihre Claſſiker und halten<lb/> darauf. Die Teutſchen aber? Ihre Claſſiker haben<lb/> ſie wohl unſtreitig ſo gut, wie jene: aber halten ſie<lb/> denn auch darauf? Hat nicht ein unſeeliger Schwin-<lb/> delgeiſt unſre Nation in ihrer Leſewuth ergriffen? Wird<lb/> nicht der aͤrmlichſte Roman, das frivolſte Schauſpiel<lb/> mit eben der Gier als ein Meiſterwerk von Goͤthe oder<lb/> Schiller verſchlungen, mit eben dem Leichtſinn das<lb/> letztere wie die erſtern vergeſſen? Welche Plattheit<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [235/0247]
Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen — die
Kenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch
ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her-
vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des
Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre
Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre
Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner-
reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu
begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem
Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff-
nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und
dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte
Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir
uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel-
cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein
Ziel mehr kennt?
Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit
kann in Abſicht auf Bildung des Geſchmackes der Mu-
ſter des Alterthums weniger entbehren, als gerade
die unſrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng-
laͤnder, die Franzoſen haben ihre Claſſiker und halten
darauf. Die Teutſchen aber? Ihre Claſſiker haben
ſie wohl unſtreitig ſo gut, wie jene: aber halten ſie
denn auch darauf? Hat nicht ein unſeeliger Schwin-
delgeiſt unſre Nation in ihrer Leſewuth ergriffen? Wird
nicht der aͤrmlichſte Roman, das frivolſte Schauſpiel
mit eben der Gier als ein Meiſterwerk von Goͤthe oder
Schiller verſchlungen, mit eben dem Leichtſinn das
letztere wie die erſtern vergeſſen? Welche Plattheit
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