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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Dritter Abschnitt.
brechen, die Bekanntschaft mit den bereits geschehenen
Fortschritten der Vernunft als entbehrlich zu erklären,
und mit diesem Undank gegen die herrlichsten Werke
der Menschheit und die glänzendsten Offenbarungen
der Vernunft in eine Unwissenheit zu verfallen, die zu
allen Zeiten als Barbarei mit Recht verrufen worden
ist, die in einem verworrenen und verwerflichen Stre-
ben, das längst Erfundne zu erfinden, das längst Voll-
endete von neuem zu erschaffen, die Kraft ohne Frucht
zu bringen verzehrt, und so den sichern Fortschritt der
Cultur aufhält, und ein unvermeidliches Rückschreiten
beginnt. Sicher gehört es zu den ersten Forderungen an
einen Staat, der für civilisirt gelten will, daß in seiner
Grundverfassung dafür gesorgt sey, die Bekanntschaft
mit der früheren Cultur
zu erhalten, und die
gelehrte Bildung, deren Bestreben vernünftiger-
weise nur auf jenen Zweck gerichtet seyn kann, auf
alle Art zu unterstützen und zu begünstigen; und wo
dies fehlt, wo dies Bestreben vielmehr geringschätzig
behandelt, ohne Aufmunterung bleibt, da bedarf es
nicht einmal einer positiven Unterdrückung, um in
Kurzem Barbarei und Vandalismus herbeizuführen.

Man halte mir nicht entgegen, daß nur lächerli-
cher Eigendünkel pedantischer Philologen sich einbilden
könne, das Heil einer Nation hange vom grie-
chisch und lateinisch Lernen
derselben ab, da
diese Präconen der alten Sprachen doch vielmehr gerade
an der von ihnen am meisten geprießenen Nation, den
Griechen selbst, den klarsten Beweis vom Gegentheil

Dritter Abſchnitt.
brechen, die Bekanntſchaft mit den bereits geſchehenen
Fortſchritten der Vernunft als entbehrlich zu erklaͤren,
und mit dieſem Undank gegen die herrlichſten Werke
der Menſchheit und die glaͤnzendſten Offenbarungen
der Vernunft in eine Unwiſſenheit zu verfallen, die zu
allen Zeiten als Barbarei mit Recht verrufen worden
iſt, die in einem verworrenen und verwerflichen Stre-
ben, das laͤngſt Erfundne zu erfinden, das laͤngſt Voll-
endete von neuem zu erſchaffen, die Kraft ohne Frucht
zu bringen verzehrt, und ſo den ſichern Fortſchritt der
Cultur aufhaͤlt, und ein unvermeidliches Ruͤckſchreiten
beginnt. Sicher gehoͤrt es zu den erſten Forderungen an
einen Staat, der fuͤr civiliſirt gelten will, daß in ſeiner
Grundverfaſſung dafuͤr geſorgt ſey, die Bekanntſchaft
mit der fruͤheren Cultur
zu erhalten, und die
gelehrte Bildung, deren Beſtreben vernuͤnftiger-
weiſe nur auf jenen Zweck gerichtet ſeyn kann, auf
alle Art zu unterſtuͤtzen und zu beguͤnſtigen; und wo
dies fehlt, wo dies Beſtreben vielmehr geringſchaͤtzig
behandelt, ohne Aufmunterung bleibt, da bedarf es
nicht einmal einer poſitiven Unterdruͤckung, um in
Kurzem Barbarei und Vandaliſmus herbeizufuͤhren.

Man halte mir nicht entgegen, daß nur laͤcherli-
cher Eigenduͤnkel pedantiſcher Philologen ſich einbilden
koͤnne, das Heil einer Nation hange vom grie-
chiſch und lateiniſch Lernen
derſelben ab, da
dieſe Praͤconen der alten Sprachen doch vielmehr gerade
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Griechen ſelbſt, den klarſten Beweis vom Gegentheil

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[218/0230] Dritter Abſchnitt. brechen, die Bekanntſchaft mit den bereits geſchehenen Fortſchritten der Vernunft als entbehrlich zu erklaͤren, und mit dieſem Undank gegen die herrlichſten Werke der Menſchheit und die glaͤnzendſten Offenbarungen der Vernunft in eine Unwiſſenheit zu verfallen, die zu allen Zeiten als Barbarei mit Recht verrufen worden iſt, die in einem verworrenen und verwerflichen Stre- ben, das laͤngſt Erfundne zu erfinden, das laͤngſt Voll- endete von neuem zu erſchaffen, die Kraft ohne Frucht zu bringen verzehrt, und ſo den ſichern Fortſchritt der Cultur aufhaͤlt, und ein unvermeidliches Ruͤckſchreiten beginnt. Sicher gehoͤrt es zu den erſten Forderungen an einen Staat, der fuͤr civiliſirt gelten will, daß in ſeiner Grundverfaſſung dafuͤr geſorgt ſey, die Bekanntſchaft mit der fruͤheren Cultur zu erhalten, und die gelehrte Bildung, deren Beſtreben vernuͤnftiger- weiſe nur auf jenen Zweck gerichtet ſeyn kann, auf alle Art zu unterſtuͤtzen und zu beguͤnſtigen; und wo dies fehlt, wo dies Beſtreben vielmehr geringſchaͤtzig behandelt, ohne Aufmunterung bleibt, da bedarf es nicht einmal einer poſitiven Unterdruͤckung, um in Kurzem Barbarei und Vandaliſmus herbeizufuͤhren. Man halte mir nicht entgegen, daß nur laͤcherli- cher Eigenduͤnkel pedantiſcher Philologen ſich einbilden koͤnne, das Heil einer Nation hange vom grie- chiſch und lateiniſch Lernen derſelben ab, da dieſe Praͤconen der alten Sprachen doch vielmehr gerade an der von ihnen am meiſten geprießenen Nation, den Griechen ſelbſt, den klarſten Beweis vom Gegentheil

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/230>, abgerufen am 28.11.2024.