Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

Erfahrung gemacht, und wer muß sie nicht selbst
in traurigen, und unserm Gefühl nach langsam
fließenden Stunden machen, daß nichts so schnell
und unbemerkt, und unter der Hand verschwindet,
als unser Leben. Wie entfernt stellt sich vielleicht
jeder von uns gewisse Zeitpunkte seines Lebens vor;
wie gern hätte mancher gewissen Jahren Flügel
gegeben! Und nun das, was ihm eine halbe
Ewigkeit entfernt schien, da ist -- wo ist die ver-
gangene Zeit? Wie kurz hat es gedauert, und was
gäbe er vielleicht darum, wenn es möglich wäre,
diese weggewünschten Stunden und Jahre noch
einmal zu leben! Aber dies lernen viele niemals!
Die gegenwärtige, und die Zeit, die zwischen ihren
Wünschen und ihrer Erfüllung liegt, ist ihnen
immer lästig, immer zu lang; man muß sie daher,
meynt man, durch Zerstreuungen zu verkürzen
suchen, und ist sie vorbey, so klagt man über ihre
Flucht. -- Nicht weiser werden die meisten durch
die Erfahrung, daß es die größeste Thorheit sey,
mit Zuversicht auf das Künftige zu rechnen. Kein
Tag geht hin, wo wir an die Unsicherheit einer
solchen Rechnung nicht erinnert werden könnten;
wo uns nicht bald der Verlust eines Freundes oder
Bekannten, bald die Krankheiten und Schwächen,

die
Erste Abth. D

Erfahrung gemacht, und wer muß ſie nicht ſelbſt
in traurigen, und unſerm Gefühl nach langſam
fließenden Stunden machen, daß nichts ſo ſchnell
und unbemerkt, und unter der Hand verſchwindet,
als unſer Leben. Wie entfernt ſtellt ſich vielleicht
jeder von uns gewiſſe Zeitpunkte ſeines Lebens vor;
wie gern hätte mancher gewiſſen Jahren Flügel
gegeben! Und nun das, was ihm eine halbe
Ewigkeit entfernt ſchien, da iſt — wo iſt die ver-
gangene Zeit? Wie kurz hat es gedauert, und was
gäbe er vielleicht darum, wenn es möglich wäre,
dieſe weggewünſchten Stunden und Jahre noch
einmal zu leben! Aber dies lernen viele niemals!
Die gegenwärtige, und die Zeit, die zwiſchen ihren
Wünſchen und ihrer Erfüllung liegt, iſt ihnen
immer läſtig, immer zu lang; man muß ſie daher,
meynt man, durch Zerſtreuungen zu verkürzen
ſuchen, und iſt ſie vorbey, ſo klagt man über ihre
Flucht. — Nicht weiſer werden die meiſten durch
die Erfahrung, daß es die größeſte Thorheit ſey,
mit Zuverſicht auf das Künftige zu rechnen. Kein
Tag geht hin, wo wir an die Unſicherheit einer
ſolchen Rechnung nicht erinnert werden könnten;
wo uns nicht bald der Verluſt eines Freundes oder
Bekannten, bald die Krankheiten und Schwächen,

die
Erſte Abth. D
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0065" n="49[61]"/>
Erfahrung gemacht, und wer muß &#x017F;ie nicht &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
in traurigen, und un&#x017F;erm Gefühl nach lang&#x017F;am<lb/>
fließenden Stunden machen, daß nichts &#x017F;o &#x017F;chnell<lb/>
und unbemerkt, und unter der Hand ver&#x017F;chwindet,<lb/>
als un&#x017F;er Leben. Wie entfernt &#x017F;tellt &#x017F;ich vielleicht<lb/>
jeder von uns gewi&#x017F;&#x017F;e Zeitpunkte &#x017F;eines Lebens vor;<lb/>
wie gern hätte mancher gewi&#x017F;&#x017F;en Jahren Flügel<lb/>
gegeben! Und nun das, was ihm eine halbe<lb/>
Ewigkeit entfernt &#x017F;chien, da i&#x017F;t &#x2014; wo i&#x017F;t die ver-<lb/>
gangene Zeit? Wie kurz hat es gedauert, und was<lb/>
gäbe er vielleicht darum, wenn es möglich wäre,<lb/>
die&#x017F;e weggewün&#x017F;chten Stunden und Jahre noch<lb/>
einmal zu leben! Aber dies lernen viele niemals!<lb/>
Die gegenwärtige, und die Zeit, die zwi&#x017F;chen ihren<lb/>
Wün&#x017F;chen und ihrer Erfüllung liegt, i&#x017F;t ihnen<lb/>
immer lä&#x017F;tig, immer zu lang; man muß &#x017F;ie daher,<lb/>
meynt man, durch Zer&#x017F;treuungen zu verkürzen<lb/>
&#x017F;uchen, und i&#x017F;t &#x017F;ie vorbey, &#x017F;o klagt man über ihre<lb/>
Flucht. &#x2014; Nicht wei&#x017F;er werden die mei&#x017F;ten durch<lb/><hi rendition="#fr">die</hi> Erfahrung, daß es die größe&#x017F;te Thorheit &#x017F;ey,<lb/>
mit Zuver&#x017F;icht auf das Künftige zu rechnen. Kein<lb/>
Tag geht hin, wo wir an die Un&#x017F;icherheit einer<lb/>
&#x017F;olchen Rechnung nicht erinnert werden könnten;<lb/>
wo uns nicht bald der Verlu&#x017F;t eines Freundes oder<lb/>
Bekannten, bald die Krankheiten und Schwächen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Er&#x017F;te Abth. D</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49[61]/0065] Erfahrung gemacht, und wer muß ſie nicht ſelbſt in traurigen, und unſerm Gefühl nach langſam fließenden Stunden machen, daß nichts ſo ſchnell und unbemerkt, und unter der Hand verſchwindet, als unſer Leben. Wie entfernt ſtellt ſich vielleicht jeder von uns gewiſſe Zeitpunkte ſeines Lebens vor; wie gern hätte mancher gewiſſen Jahren Flügel gegeben! Und nun das, was ihm eine halbe Ewigkeit entfernt ſchien, da iſt — wo iſt die ver- gangene Zeit? Wie kurz hat es gedauert, und was gäbe er vielleicht darum, wenn es möglich wäre, dieſe weggewünſchten Stunden und Jahre noch einmal zu leben! Aber dies lernen viele niemals! Die gegenwärtige, und die Zeit, die zwiſchen ihren Wünſchen und ihrer Erfüllung liegt, iſt ihnen immer läſtig, immer zu lang; man muß ſie daher, meynt man, durch Zerſtreuungen zu verkürzen ſuchen, und iſt ſie vorbey, ſo klagt man über ihre Flucht. — Nicht weiſer werden die meiſten durch die Erfahrung, daß es die größeſte Thorheit ſey, mit Zuverſicht auf das Künftige zu rechnen. Kein Tag geht hin, wo wir an die Unſicherheit einer ſolchen Rechnung nicht erinnert werden könnten; wo uns nicht bald der Verluſt eines Freundes oder Bekannten, bald die Krankheiten und Schwächen, die Erſte Abth. D

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/65
Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 49[61]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/65>, abgerufen am 24.11.2024.