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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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und unendlichen Erbarmung Gottes, gewiß seyn,
daß Gott dem, der sich bessern will, seine vorigen
Vergehungen nicht zuzurechnen bereit ist? Nur der
kleinste Theil ist fähig, lange Reihen von Wahr-
heiten zu fassen und aus ihnen wieder andre herzu-
leiten. Aber jeder Mensch hat Fähigkeiten genug,
um aus sinnlichen in die Augen fallenden Handlun-
gen und Begebenheiten zu schließen, wie jemand
gegen ihn gesinnt sey. Und welcher sinnlichere,
eben dadurch faßlichere Beweis von Gottes großer
und allgemeiner Menschenliebe läßt sich denken, als
daß der, der so deutlich erklärt ist für den Geliebte-
sten Gottes, seinen eignen, in dem Sinn einge-
bornen Sohn; den Gott ausgerüstet hat mit Kräf-
ten, deren kein Lehrer und Prophet sich je rühmen
durfte, der das heiligste und schuldloseste Leben
führte: -- daß dieser -- ob ihm wohl nichts ohne
den Willen des Vaters begegnen konnte, und ob
wohl dieser alles, was ihm in der Welt begegnen
würde, vorhersehn mußte, -- dennoch nur durch
solche Leiden und solchen Tod sein ganzes Werk aus-
führen und vollenden kann! Wenn es bis zum Au-
genschein einleuchtend ist, daß sich alle Zwecke dieses
Werks in dem Wohl der Menschen auflösen; wenn
alle seine Arbeit und Mühe, wenn jeder Schritt,

den

und unendlichen Erbarmung Gottes, gewiß ſeyn,
daß Gott dem, der ſich beſſern will, ſeine vorigen
Vergehungen nicht zuzurechnen bereit iſt? Nur der
kleinſte Theil iſt fähig, lange Reihen von Wahr-
heiten zu faſſen und aus ihnen wieder andre herzu-
leiten. Aber jeder Menſch hat Fähigkeiten genug,
um aus ſinnlichen in die Augen fallenden Handlun-
gen und Begebenheiten zu ſchließen, wie jemand
gegen ihn geſinnt ſey. Und welcher ſinnlichere,
eben dadurch faßlichere Beweis von Gottes großer
und allgemeiner Menſchenliebe läßt ſich denken, als
daß der, der ſo deutlich erklärt iſt für den Geliebte-
ſten Gottes, ſeinen eignen, in dem Sinn einge-
bornen Sohn; den Gott ausgerüſtet hat mit Kräf-
ten, deren kein Lehrer und Prophet ſich je rühmen
durfte, der das heiligſte und ſchuldloſeſte Leben
führte: — daß dieſer — ob ihm wohl nichts ohne
den Willen des Vaters begegnen konnte, und ob
wohl dieſer alles, was ihm in der Welt begegnen
würde, vorherſehn mußte, — dennoch nur durch
ſolche Leiden und ſolchen Tod ſein ganzes Werk aus-
führen und vollenden kann! Wenn es bis zum Au-
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[142[154]/0158] und unendlichen Erbarmung Gottes, gewiß ſeyn, daß Gott dem, der ſich beſſern will, ſeine vorigen Vergehungen nicht zuzurechnen bereit iſt? Nur der kleinſte Theil iſt fähig, lange Reihen von Wahr- heiten zu faſſen und aus ihnen wieder andre herzu- leiten. Aber jeder Menſch hat Fähigkeiten genug, um aus ſinnlichen in die Augen fallenden Handlun- gen und Begebenheiten zu ſchließen, wie jemand gegen ihn geſinnt ſey. Und welcher ſinnlichere, eben dadurch faßlichere Beweis von Gottes großer und allgemeiner Menſchenliebe läßt ſich denken, als daß der, der ſo deutlich erklärt iſt für den Geliebte- ſten Gottes, ſeinen eignen, in dem Sinn einge- bornen Sohn; den Gott ausgerüſtet hat mit Kräf- ten, deren kein Lehrer und Prophet ſich je rühmen durfte, der das heiligſte und ſchuldloſeſte Leben führte: — daß dieſer — ob ihm wohl nichts ohne den Willen des Vaters begegnen konnte, und ob wohl dieſer alles, was ihm in der Welt begegnen würde, vorherſehn mußte, — dennoch nur durch ſolche Leiden und ſolchen Tod ſein ganzes Werk aus- führen und vollenden kann! Wenn es bis zum Au- genſchein einleuchtend iſt, daß ſich alle Zwecke dieſes Werks in dem Wohl der Menſchen auflöſen; wenn alle ſeine Arbeit und Mühe, wenn jeder Schritt, den

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 142[154]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/158>, abgerufen am 27.09.2024.