Nach solchen Leiden wäre ein schneller Tod die größeste Wohlthat gewesen; aber auch dies ward ihm nicht. Er erlag wohl unter der Last seines Kreuzes, doch dauerte es noch Stunden, ehe das feste Band, das Seele und Körper bindet, zerriß, und sein Geist ausruhen konnte in den Händen seines himmlischen Vaters. Noch waren der Wunden nicht genug; sie mußten auch seine Hände und Füße ihm durch- boren, weil er die Kranken geheilt, und in die Hüt- ten des Elends gegangen war. Noch war der Ent- kräftung nicht genug; er mußte auch ausgespannt werden am Kreuz, damit er, der im Leben nicht ge- habt hatte, wohin er sein Haupt legte, ja auch sterbend keine Ruhestätte fände. Noch war des Spot- tes und Hohns nicht genug; er mußte auch noch se- hen, wie der vorübergehende Einheimische und Fremd- ling das Haupt schüttelte, und mit einer kalten An- merkung ruhig nach Jerusalem zurückgieng. (Ich denke, auch unter sogenannten Christen hätte man- cher vermeynte Weise die Schultern gezogen, und es der Aufklärung gemäß gefunden, einen Schwärmer, der sich um andrer Ruhe und Tugend bekümmre, und die Menschen frömmer und besser machen wolle, ein solches Ende nehmen zu lassen.) Noch litt er von dem Haß der Feinde nicht genug; auch die Liebe
weinen-
I 3
Nach ſolchen Leiden wäre ein ſchneller Tod die größeſte Wohlthat geweſen; aber auch dies ward ihm nicht. Er erlag wohl unter der Laſt ſeines Kreuzes, doch dauerte es noch Stunden, ehe das feſte Band, das Seele und Körper bindet, zerriß, und ſein Geiſt ausruhen konnte in den Händen ſeines himmliſchen Vaters. Noch waren der Wunden nicht genug; ſie mußten auch ſeine Hände und Füße ihm durch- boren, weil er die Kranken geheilt, und in die Hüt- ten des Elends gegangen war. Noch war der Ent- kräftung nicht genug; er mußte auch ausgeſpannt werden am Kreuz, damit er, der im Leben nicht ge- habt hatte, wohin er ſein Haupt legte, ja auch ſterbend keine Ruheſtätte fände. Noch war des Spot- tes und Hohns nicht genug; er mußte auch noch ſe- hen, wie der vorübergehende Einheimiſche und Fremd- ling das Haupt ſchüttelte, und mit einer kalten An- merkung ruhig nach Jeruſalem zurückgieng. (Ich denke, auch unter ſogenannten Chriſten hätte man- cher vermeynte Weiſe die Schultern gezogen, und es der Aufklärung gemäß gefunden, einen Schwärmer, der ſich um andrer Ruhe und Tugend bekümmre, und die Menſchen frömmer und beſſer machen wolle, ein ſolches Ende nehmen zu laſſen.) Noch litt er von dem Haß der Feinde nicht genug; auch die Liebe
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[133[145]/0149]
Nach ſolchen Leiden wäre ein ſchneller Tod die
größeſte Wohlthat geweſen; aber auch dies ward ihm
nicht. Er erlag wohl unter der Laſt ſeines Kreuzes,
doch dauerte es noch Stunden, ehe das feſte Band,
das Seele und Körper bindet, zerriß, und ſein Geiſt
ausruhen konnte in den Händen ſeines himmliſchen
Vaters. Noch waren der Wunden nicht genug;
ſie mußten auch ſeine Hände und Füße ihm durch-
boren, weil er die Kranken geheilt, und in die Hüt-
ten des Elends gegangen war. Noch war der Ent-
kräftung nicht genug; er mußte auch ausgeſpannt
werden am Kreuz, damit er, der im Leben nicht ge-
habt hatte, wohin er ſein Haupt legte, ja auch
ſterbend keine Ruheſtätte fände. Noch war des Spot-
tes und Hohns nicht genug; er mußte auch noch ſe-
hen, wie der vorübergehende Einheimiſche und Fremd-
ling das Haupt ſchüttelte, und mit einer kalten An-
merkung ruhig nach Jeruſalem zurückgieng. (Ich
denke, auch unter ſogenannten Chriſten hätte man-
cher vermeynte Weiſe die Schultern gezogen, und es
der Aufklärung gemäß gefunden, einen Schwärmer,
der ſich um andrer Ruhe und Tugend bekümmre,
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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 133[145]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/149>, abgerufen am 16.02.2025.
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