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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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nicht nach erwiesenen, kaum nach angehörten Be-
schuldigungen; nicht nach Aussagen geprüfter Zeu-
gen, oder nach seinen -- sondern nach betäubendem
Geschrey eines wilden Pöbels; nach Rücksichten auf
Fürstengunst oder Mißfallen; nach Unmuth über die
Zudringlichkeit des unbiegsamen Volks, das man nur
durch Befriedigung ihres Willens los wird! So, so
unverantwortlich wird über die höchste Tugend und
Unschuld gerichtet!

So sollte man den gefährlichsten Störer der
Ruhe der Gesellschaft, ehe man ihn seiner Ver-
brechen überführt hätte, nicht mißhandeln, wie Je-
sus durch die Geißeln der Unbarmherzigen, gemiß-
handelt wird; -- nicht weil ihn sein Richter für
schuldig erkennt, nicht weil er ihm wenigstens diesen
Grad von Züchtigung verdient zu haben scheint, son-
dern -- damit das Volk doch ein befriedigendes
Schauspiel habe, um das andre seines Todes ruhiger
zu entbehren. -- O wohin ist der Mensch gekommen,
sich so in seinen Urtheilen vergessen, so mit seinem
Mitgeschöpf umgehen, so kaum fühlen zu können,
was es heißt, der Unschuld Schmerzen machen, und
ein Peiniger des Gerechten werden.

Sehet, welch ein Mensch! -- muß selbst ein
kalter, wollüstiger und eben darum grausamerer

Römer
I 2

nicht nach erwieſenen, kaum nach angehörten Be-
ſchuldigungen; nicht nach Ausſagen geprüfter Zeu-
gen, oder nach ſeinen — ſondern nach betäubendem
Geſchrey eines wilden Pöbels; nach Rückſichten auf
Fürſtengunſt oder Mißfallen; nach Unmuth über die
Zudringlichkeit des unbiegſamen Volks, das man nur
durch Befriedigung ihres Willens los wird! So, ſo
unverantwortlich wird über die höchſte Tugend und
Unſchuld gerichtet!

So ſollte man den gefährlichſten Störer der
Ruhe der Geſellſchaft, ehe man ihn ſeiner Ver-
brechen überführt hätte, nicht mißhandeln, wie Je-
ſus durch die Geißeln der Unbarmherzigen, gemiß-
handelt wird; — nicht weil ihn ſein Richter für
ſchuldig erkennt, nicht weil er ihm wenigſtens dieſen
Grad von Züchtigung verdient zu haben ſcheint, ſon-
dern — damit das Volk doch ein befriedigendes
Schauſpiel habe, um das andre ſeines Todes ruhiger
zu entbehren. — O wohin iſt der Menſch gekommen,
ſich ſo in ſeinen Urtheilen vergeſſen, ſo mit ſeinem
Mitgeſchöpf umgehen, ſo kaum fühlen zu können,
was es heißt, der Unſchuld Schmerzen machen, und
ein Peiniger des Gerechten werden.

Sehet, welch ein Menſch! — muß ſelbſt ein
kalter, wollüſtiger und eben darum grauſamerer

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I 2
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[131[143]/0147] nicht nach erwieſenen, kaum nach angehörten Be- ſchuldigungen; nicht nach Ausſagen geprüfter Zeu- gen, oder nach ſeinen — ſondern nach betäubendem Geſchrey eines wilden Pöbels; nach Rückſichten auf Fürſtengunſt oder Mißfallen; nach Unmuth über die Zudringlichkeit des unbiegſamen Volks, das man nur durch Befriedigung ihres Willens los wird! So, ſo unverantwortlich wird über die höchſte Tugend und Unſchuld gerichtet! So ſollte man den gefährlichſten Störer der Ruhe der Geſellſchaft, ehe man ihn ſeiner Ver- brechen überführt hätte, nicht mißhandeln, wie Je- ſus durch die Geißeln der Unbarmherzigen, gemiß- handelt wird; — nicht weil ihn ſein Richter für ſchuldig erkennt, nicht weil er ihm wenigſtens dieſen Grad von Züchtigung verdient zu haben ſcheint, ſon- dern — damit das Volk doch ein befriedigendes Schauſpiel habe, um das andre ſeines Todes ruhiger zu entbehren. — O wohin iſt der Menſch gekommen, ſich ſo in ſeinen Urtheilen vergeſſen, ſo mit ſeinem Mitgeſchöpf umgehen, ſo kaum fühlen zu können, was es heißt, der Unſchuld Schmerzen machen, und ein Peiniger des Gerechten werden. Sehet, welch ein Menſch! — muß ſelbſt ein kalter, wollüſtiger und eben darum grauſamerer Römer I 2

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 131[143]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/147>, abgerufen am 27.09.2024.