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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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alle Gestalten, zuerst bekömmt, und von dieser Seite
sind es doch recht eigentlich die Mütter, von denen
das menschliche Geschlecht das meiste zu erwarten
und zu fordern hat, und die eben so viel Gutes
thun als verwahrlosen können, je nachdem sie selbst
wollen. Es war doch auch wohl nicht ohne Zweck,
daß die Mutter Jesu diese sanste, tugendhafte, from-
me Seele war; so tugendhaft, daß selbst bey dem
Schein eines begangnen Fehlers Joseph sie zu be-
schimpfen nicht wagen wollte, so schwer er sich be-
leidigt halten konnte. Es war doch auch wohl nicht
ohne Würkung, daß Jesus mit seiner ersten Nah-
rung von ihr die göttlich hohen Lehren der Religion
einsog, von ihrer bewährten Tugend geleitet ward,
von ihr die ersten Winke seiner großen Bestimmung
vernahm, die ihre Seele so treu aufgefaßt und be-
wahrt hatte, durch sie das Haus seines Vaters ken-
nen lernte, und sich an die Vertraulichkeit mit dem,
von dem ihre ganze Seele voll war, so zeitig ge-
wöhnte. Ich denke, eben dadurch ward sie es so
werth, ihn getragen, ihn an ihrer Brust gesäugt zu
haben.

Und hier, meine Freunde, wünscht ich mir nur
Beredtsamkeit, um den Müttern unsrer Zeit in die
Seele reden zu können, und meinen Worten mächtige

Kraft,

alle Geſtalten, zuerſt bekömmt, und von dieſer Seite
ſind es doch recht eigentlich die Mütter, von denen
das menſchliche Geſchlecht das meiſte zu erwarten
und zu fordern hat, und die eben ſo viel Gutes
thun als verwahrloſen können, je nachdem ſie ſelbſt
wollen. Es war doch auch wohl nicht ohne Zweck,
daß die Mutter Jeſu dieſe ſanſte, tugendhafte, from-
me Seele war; ſo tugendhaft, daß ſelbſt bey dem
Schein eines begangnen Fehlers Joſeph ſie zu be-
ſchimpfen nicht wagen wollte, ſo ſchwer er ſich be-
leidigt halten konnte. Es war doch auch wohl nicht
ohne Würkung, daß Jeſus mit ſeiner erſten Nah-
rung von ihr die göttlich hohen Lehren der Religion
einſog, von ihrer bewährten Tugend geleitet ward,
von ihr die erſten Winke ſeiner großen Beſtimmung
vernahm, die ihre Seele ſo treu aufgefaßt und be-
wahrt hatte, durch ſie das Haus ſeines Vaters ken-
nen lernte, und ſich an die Vertraulichkeit mit dem,
von dem ihre ganze Seele voll war, ſo zeitig ge-
wöhnte. Ich denke, eben dadurch ward ſie es ſo
werth, ihn getragen, ihn an ihrer Bruſt geſäugt zu
haben.

Und hier, meine Freunde, wünſcht ich mir nur
Beredtſamkeit, um den Müttern unſrer Zeit in die
Seele reden zu können, und meinen Worten mächtige

Kraft,
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[108[120]/0124] alle Geſtalten, zuerſt bekömmt, und von dieſer Seite ſind es doch recht eigentlich die Mütter, von denen das menſchliche Geſchlecht das meiſte zu erwarten und zu fordern hat, und die eben ſo viel Gutes thun als verwahrloſen können, je nachdem ſie ſelbſt wollen. Es war doch auch wohl nicht ohne Zweck, daß die Mutter Jeſu dieſe ſanſte, tugendhafte, from- me Seele war; ſo tugendhaft, daß ſelbſt bey dem Schein eines begangnen Fehlers Joſeph ſie zu be- ſchimpfen nicht wagen wollte, ſo ſchwer er ſich be- leidigt halten konnte. Es war doch auch wohl nicht ohne Würkung, daß Jeſus mit ſeiner erſten Nah- rung von ihr die göttlich hohen Lehren der Religion einſog, von ihrer bewährten Tugend geleitet ward, von ihr die erſten Winke ſeiner großen Beſtimmung vernahm, die ihre Seele ſo treu aufgefaßt und be- wahrt hatte, durch ſie das Haus ſeines Vaters ken- nen lernte, und ſich an die Vertraulichkeit mit dem, von dem ihre ganze Seele voll war, ſo zeitig ge- wöhnte. Ich denke, eben dadurch ward ſie es ſo werth, ihn getragen, ihn an ihrer Bruſt geſäugt zu haben. Und hier, meine Freunde, wünſcht ich mir nur Beredtſamkeit, um den Müttern unſrer Zeit in die Seele reden zu können, und meinen Worten mächtige Kraft,

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 108[120]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/124>, abgerufen am 24.11.2024.