Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Genehmigung der Rogationen an, und die Mehrheit,
williger mit Schande als mit Freundlichkeit nachzugeben,
stimmte nach seinem Vorschlage. In der Erzählung die-
ser Vorfälle wird die förmliche Fassung des Beschlusses in
der Volksgemeinde übergangen, wohl aber, von Diony-
sius, die Annahme des Senatusconsults durch die Centu-
rien, als Gesetz, angedeutet 45).

In allen Freystaaten welche sich nicht ganz demokra-
tisch regieren, so daß die Laune und das gleich wandel-
bare Interesse des Augenblicks Regenten ernennt die kein
andres als dieses flüchtig wechselnde System kennen und
befolgen, vererben sich bey angesehenen Geschlechtern der
Vorfahren Grundsätze auf den späten Enkel als ein heili-
ges Vermächtniß. Den Abtrünnigen straft die öffentliche
Meinung, selbst der geheime Tadel der Parthey welche
ihn gewinnt, und es ist dieses Band wodurch Verfassun-
gen Dauer erhalten welche sonst einer ewigen Wandelbar-
keit hingegeben zu seyn scheinen. Denn der Nationalgeist,
wiewohl er, als bewußtlos, die mächtigste und reinste Ge-
währ der Fortdauer ursprünglicher Eigenthümlichkeit ist,
ändert sich unvermerkt und oft bis zur völligsten Revolu-
tion der Gesinnungen: in einer ernsten Nation kann auf
ihrer ganzen Oberfläche Leichtsinn ausbrechen. Daher
waren den Stiftern der Demokratieen im Alterthum die
Verbindungen der Geschlechter und Familien, die Be-
schränkung des Bürgerrechts auf Eingebohrne, verhaßt:
sie untergruben und zerstörten sie offen und geflissentlich.

45) Dionysius IX. c. 49. epikurothentos tou~ probouleumatos
-- o demos epepsephise ton nomon.

Genehmigung der Rogationen an, und die Mehrheit,
williger mit Schande als mit Freundlichkeit nachzugeben,
ſtimmte nach ſeinem Vorſchlage. In der Erzaͤhlung die-
ſer Vorfaͤlle wird die foͤrmliche Faſſung des Beſchluſſes in
der Volksgemeinde uͤbergangen, wohl aber, von Diony-
ſius, die Annahme des Senatusconſults durch die Centu-
rien, als Geſetz, angedeutet 45).

In allen Freyſtaaten welche ſich nicht ganz demokra-
tiſch regieren, ſo daß die Laune und das gleich wandel-
bare Intereſſe des Augenblicks Regenten ernennt die kein
andres als dieſes fluͤchtig wechſelnde Syſtem kennen und
befolgen, vererben ſich bey angeſehenen Geſchlechtern der
Vorfahren Grundſaͤtze auf den ſpaͤten Enkel als ein heili-
ges Vermaͤchtniß. Den Abtruͤnnigen ſtraft die oͤffentliche
Meinung, ſelbſt der geheime Tadel der Parthey welche
ihn gewinnt, und es iſt dieſes Band wodurch Verfaſſun-
gen Dauer erhalten welche ſonſt einer ewigen Wandelbar-
keit hingegeben zu ſeyn ſcheinen. Denn der Nationalgeiſt,
wiewohl er, als bewußtlos, die maͤchtigſte und reinſte Ge-
waͤhr der Fortdauer urſpruͤnglicher Eigenthuͤmlichkeit iſt,
aͤndert ſich unvermerkt und oft bis zur voͤlligſten Revolu-
tion der Geſinnungen: in einer ernſten Nation kann auf
ihrer ganzen Oberflaͤche Leichtſinn ausbrechen. Daher
waren den Stiftern der Demokratieen im Alterthum die
Verbindungen der Geſchlechter und Familien, die Be-
ſchraͤnkung des Buͤrgerrechts auf Eingebohrne, verhaßt:
ſie untergruben und zerſtoͤrten ſie offen und gefliſſentlich.

45) Dionyſius IX. c. 49. ἐπικυρωϑέντος τȣ῀ προβȣλεύματος
— ὁ δῆμος ἐπεψήφισε τὸν νόμον.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0058" n="42"/>
Genehmigung der Rogationen an, und die Mehrheit,<lb/>
williger mit Schande als mit Freundlichkeit nachzugeben,<lb/>
&#x017F;timmte nach &#x017F;einem Vor&#x017F;chlage. In der Erza&#x0364;hlung die-<lb/>
&#x017F;er Vorfa&#x0364;lle wird die fo&#x0364;rmliche Fa&#x017F;&#x017F;ung des Be&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es in<lb/>
der Volksgemeinde u&#x0364;bergangen, wohl aber, von Diony-<lb/>
&#x017F;ius, die Annahme des Senatuscon&#x017F;ults durch die Centu-<lb/>
rien, als Ge&#x017F;etz, angedeutet <note place="foot" n="45)">Diony&#x017F;ius <hi rendition="#aq">IX. c.</hi> 49. &#x1F10;&#x03C0;&#x03B9;&#x03BA;&#x03C5;&#x03C1;&#x03C9;&#x03D1;&#x03AD;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C4;&#x0223;&#x1FC0; &#x03C0;&#x03C1;&#x03BF;&#x03B2;&#x0223;&#x03BB;&#x03B5;&#x03CD;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2;<lb/>
&#x2014; &#x1F41; &#x03B4;&#x1FC6;&#x03BC;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F10;&#x03C0;&#x03B5;&#x03C8;&#x03AE;&#x03C6;&#x03B9;&#x03C3;&#x03B5; &#x03C4;&#x1F78;&#x03BD; &#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03BF;&#x03BD;.</note>.</p><lb/>
        <p>In allen Frey&#x017F;taaten welche &#x017F;ich nicht ganz demokra-<lb/>
ti&#x017F;ch regieren, &#x017F;o daß die Laune und das gleich wandel-<lb/>
bare Intere&#x017F;&#x017F;e des Augenblicks Regenten ernennt die kein<lb/>
andres als die&#x017F;es flu&#x0364;chtig wech&#x017F;elnde Sy&#x017F;tem kennen und<lb/>
befolgen, vererben &#x017F;ich bey ange&#x017F;ehenen Ge&#x017F;chlechtern der<lb/>
Vorfahren Grund&#x017F;a&#x0364;tze auf den &#x017F;pa&#x0364;ten Enkel als ein heili-<lb/>
ges Verma&#x0364;chtniß. Den Abtru&#x0364;nnigen &#x017F;traft die o&#x0364;ffentliche<lb/>
Meinung, &#x017F;elb&#x017F;t der geheime Tadel der Parthey welche<lb/>
ihn gewinnt, und es i&#x017F;t die&#x017F;es Band wodurch Verfa&#x017F;&#x017F;un-<lb/>
gen Dauer erhalten welche &#x017F;on&#x017F;t einer ewigen Wandelbar-<lb/>
keit hingegeben zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen. Denn der Nationalgei&#x017F;t,<lb/>
wiewohl er, als bewußtlos, die ma&#x0364;chtig&#x017F;te und rein&#x017F;te Ge-<lb/>
wa&#x0364;hr der Fortdauer ur&#x017F;pru&#x0364;nglicher Eigenthu&#x0364;mlichkeit i&#x017F;t,<lb/>
a&#x0364;ndert &#x017F;ich unvermerkt und oft bis zur vo&#x0364;llig&#x017F;ten Revolu-<lb/>
tion der Ge&#x017F;innungen: in einer ern&#x017F;ten Nation kann auf<lb/>
ihrer ganzen Oberfla&#x0364;che Leicht&#x017F;inn ausbrechen. Daher<lb/>
waren den Stiftern der Demokratieen im Alterthum die<lb/>
Verbindungen der Ge&#x017F;chlechter und Familien, die Be-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkung des Bu&#x0364;rgerrechts auf Eingebohrne, verhaßt:<lb/>
&#x017F;ie untergruben und zer&#x017F;to&#x0364;rten &#x017F;ie offen und gefli&#x017F;&#x017F;entlich.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0058] Genehmigung der Rogationen an, und die Mehrheit, williger mit Schande als mit Freundlichkeit nachzugeben, ſtimmte nach ſeinem Vorſchlage. In der Erzaͤhlung die- ſer Vorfaͤlle wird die foͤrmliche Faſſung des Beſchluſſes in der Volksgemeinde uͤbergangen, wohl aber, von Diony- ſius, die Annahme des Senatusconſults durch die Centu- rien, als Geſetz, angedeutet 45). In allen Freyſtaaten welche ſich nicht ganz demokra- tiſch regieren, ſo daß die Laune und das gleich wandel- bare Intereſſe des Augenblicks Regenten ernennt die kein andres als dieſes fluͤchtig wechſelnde Syſtem kennen und befolgen, vererben ſich bey angeſehenen Geſchlechtern der Vorfahren Grundſaͤtze auf den ſpaͤten Enkel als ein heili- ges Vermaͤchtniß. Den Abtruͤnnigen ſtraft die oͤffentliche Meinung, ſelbſt der geheime Tadel der Parthey welche ihn gewinnt, und es iſt dieſes Band wodurch Verfaſſun- gen Dauer erhalten welche ſonſt einer ewigen Wandelbar- keit hingegeben zu ſeyn ſcheinen. Denn der Nationalgeiſt, wiewohl er, als bewußtlos, die maͤchtigſte und reinſte Ge- waͤhr der Fortdauer urſpruͤnglicher Eigenthuͤmlichkeit iſt, aͤndert ſich unvermerkt und oft bis zur voͤlligſten Revolu- tion der Geſinnungen: in einer ernſten Nation kann auf ihrer ganzen Oberflaͤche Leichtſinn ausbrechen. Daher waren den Stiftern der Demokratieen im Alterthum die Verbindungen der Geſchlechter und Familien, die Be- ſchraͤnkung des Buͤrgerrechts auf Eingebohrne, verhaßt: ſie untergruben und zerſtoͤrten ſie offen und gefliſſentlich. 45) Dionyſius IX. c. 49. ἐπικυρωϑέντος τȣ῀ προβȣλεύματος — ὁ δῆμος ἐπεψήφισε τὸν νόμον.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/58
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/58>, abgerufen am 25.11.2024.