Verfälscht ist ebenfalls, ohne allen Zweifel, Livius Darstellung, Rom habe gewissenhaft das Bündniß der Kampaner abgelehnt: als aber ihre Abgesandten ihr Va- terland der Republik zum Eigenthum übergeben hätten, als Gewissenssache, den Schutz der Unterthanen, als eine höhere Verpflichtung, dem samnitischen Bündniß vorge- zogen. Kapua stand zu Rom nicht in diesem Verhält- niß der Unterthänigkeit; es hätte nach Livius eigener Ansicht schon damals, so gut als zwey Jahre später, ein gleiches Bündniß mit den Latinern schließen kön- nen, welche dem wahrlich stark genug scheinen mußten sie zu schützen, der uns erzählt wie ihr mit den Kam- panern vereinigtes Heer die Samniter zu muthloser Ver- zweiflung und zu den demüthigsten Bitten gegen Rom trieb. An eigentlichen Unterthanen würden denn auch die Römer Abfall ganz anders geahndet haben als Ka- puas Strafe nach dem latinischen Kriege fiel.
Auf diese Enthüllung der inneren Unwahrheit der livianischen Erzählung, neben ihrer Wiederholung, müßte sich meine Geschichte auch jetzt, wie schon so oft, be- schränken, wenn wir nicht hier die Wahrheit der Grund- punkte denen bey Livius falsche untergeschoben sind, wüßten, oder uns doch nicht über sie täuschen könnten; und wenn nicht die ziemlich ausführlich erhaltene Kunde der einzelnen Begebenheiten eine Herstellung ihrer ge- flissentlich zerstörten Umrisse begünstigte. Ich wage diese: überzeugt daß sie der Wahrheit weit näher stehen wird als die Erzählung welche sich für historisch ausgiebt: aber auch wohlwissend daß sich zwar das Erdichtete
Verfaͤlſcht iſt ebenfalls, ohne allen Zweifel, Livius Darſtellung, Rom habe gewiſſenhaft das Buͤndniß der Kampaner abgelehnt: als aber ihre Abgeſandten ihr Va- terland der Republik zum Eigenthum uͤbergeben haͤtten, als Gewiſſensſache, den Schutz der Unterthanen, als eine hoͤhere Verpflichtung, dem ſamnitiſchen Buͤndniß vorge- zogen. Kapua ſtand zu Rom nicht in dieſem Verhaͤlt- niß der Unterthaͤnigkeit; es haͤtte nach Livius eigener Anſicht ſchon damals, ſo gut als zwey Jahre ſpaͤter, ein gleiches Buͤndniß mit den Latinern ſchließen koͤn- nen, welche dem wahrlich ſtark genug ſcheinen mußten ſie zu ſchuͤtzen, der uns erzaͤhlt wie ihr mit den Kam- panern vereinigtes Heer die Samniter zu muthloſer Ver- zweiflung und zu den demuͤthigſten Bitten gegen Rom trieb. An eigentlichen Unterthanen wuͤrden denn auch die Roͤmer Abfall ganz anders geahndet haben als Ka- puas Strafe nach dem latiniſchen Kriege fiel.
Auf dieſe Enthuͤllung der inneren Unwahrheit der livianiſchen Erzaͤhlung, neben ihrer Wiederholung, muͤßte ſich meine Geſchichte auch jetzt, wie ſchon ſo oft, be- ſchraͤnken, wenn wir nicht hier die Wahrheit der Grund- punkte denen bey Livius falſche untergeſchoben ſind, wuͤßten, oder uns doch nicht uͤber ſie taͤuſchen koͤnnten; und wenn nicht die ziemlich ausfuͤhrlich erhaltene Kunde der einzelnen Begebenheiten eine Herſtellung ihrer ge- fliſſentlich zerſtoͤrten Umriſſe beguͤnſtigte. Ich wage dieſe: uͤberzeugt daß ſie der Wahrheit weit naͤher ſtehen wird als die Erzaͤhlung welche ſich fuͤr hiſtoriſch ausgiebt: aber auch wohlwiſſend daß ſich zwar das Erdichtete
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Verfaͤlſcht iſt ebenfalls, ohne allen Zweifel, Livius
Darſtellung, Rom habe gewiſſenhaft das Buͤndniß der
Kampaner abgelehnt: als aber ihre Abgeſandten ihr Va-
terland der Republik zum Eigenthum uͤbergeben haͤtten,
als Gewiſſensſache, den Schutz der Unterthanen, als eine
hoͤhere Verpflichtung, dem ſamnitiſchen Buͤndniß vorge-
zogen. Kapua ſtand zu Rom nicht in dieſem Verhaͤlt-
niß der Unterthaͤnigkeit; es haͤtte nach Livius eigener
Anſicht ſchon damals, ſo gut als zwey Jahre ſpaͤter,
ein gleiches Buͤndniß mit den Latinern ſchließen koͤn-
nen, welche dem wahrlich ſtark genug ſcheinen mußten
ſie zu ſchuͤtzen, der uns erzaͤhlt wie ihr mit den Kam-
panern vereinigtes Heer die Samniter zu muthloſer Ver-
zweiflung und zu den demuͤthigſten Bitten gegen Rom
trieb. An eigentlichen Unterthanen wuͤrden denn auch
die Roͤmer Abfall ganz anders geahndet haben als Ka-
puas Strafe nach dem latiniſchen Kriege fiel.
Auf dieſe Enthuͤllung der inneren Unwahrheit der
livianiſchen Erzaͤhlung, neben ihrer Wiederholung, muͤßte
ſich meine Geſchichte auch jetzt, wie ſchon ſo oft, be-
ſchraͤnken, wenn wir nicht hier die Wahrheit der Grund-
punkte denen bey Livius falſche untergeſchoben ſind,
wuͤßten, oder uns doch nicht uͤber ſie taͤuſchen koͤnnten;
und wenn nicht die ziemlich ausfuͤhrlich erhaltene Kunde
der einzelnen Begebenheiten eine Herſtellung ihrer ge-
fliſſentlich zerſtoͤrten Umriſſe beguͤnſtigte. Ich wage dieſe:
uͤberzeugt daß ſie der Wahrheit weit naͤher ſtehen wird
als die Erzaͤhlung welche ſich fuͤr hiſtoriſch ausgiebt:
aber auch wohlwiſſend daß ſich zwar das Erdichtete
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/510>, abgerufen am 22.11.2024.
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