derungen annahm, und diese fernen Bilder verwechselten sich oder wichen dem der spätesten Zeit. Die älteren An- nalen, geschrieben ehe der Nation und der Verfassung Grundzüge verblichen waren, als von dem schon abgestor- benen doch die äußere Gestalt oder eine sehr bestimmte Er- innerung noch bestand: und auch unter den jüngeren die Bücher solcher Verfasser, die, wie Licinius Macer, alte Urkunden benutzt hatten, und, als Staatsmänner, das alte Staatsrecht historisch kannten: diese hatte er freylich vor Augen, und hat aus ihnen an nicht wenigen Stellen durch überraschende Bestimmtheit ausgezeichnete Anga- ben entlehnt die so unverkennbar das Gepräge der Zuver- lässigkeit tragen als sie folgenreich sind. Wo aber Livius, sey es daß er forteilend abkürze, oder daß er rhetorisch ausbilde, sich von dem Buchstaben der Aelteren entfernt, da irrt er ohne einen Pfad zu erkennen, durch Nahmen und Worte verführt. So redet er in diesem Zeitraum von Ackergesetzen die von den Tribunen mit Ungestüm und Gewaltsamkeit promulgirt seyn sollen.
Mit weit größerem Fleiß und mühseligerer Sorg- falt, so wie mit ungleich weniger Geist als Livius hat Dio- nysius geschrieben. Ist es an ihm sehr zu tadeln daß er auf den Glauben der weitschweifigeren Annalen den Bege- benheiten einen trügerischen Anschein von historischer Be- stimmtheit giebt, und durch Ausführlichkeit täuscht, so faßt er dagegen die ihm zugänglichen Nachrichten viel sorgfältiger auf, und widerspricht sich nicht, wie es Li- vius so oft thut, vergessend welche Darstellung er früher gewählt hatte. Ihm verdanken wir die ganz bestimmte
Zweiter Theil. B
derungen annahm, und dieſe fernen Bilder verwechſelten ſich oder wichen dem der ſpaͤteſten Zeit. Die aͤlteren An- nalen, geſchrieben ehe der Nation und der Verfaſſung Grundzuͤge verblichen waren, als von dem ſchon abgeſtor- benen doch die aͤußere Geſtalt oder eine ſehr beſtimmte Er- innerung noch beſtand: und auch unter den juͤngeren die Buͤcher ſolcher Verfaſſer, die, wie Licinius Macer, alte Urkunden benutzt hatten, und, als Staatsmaͤnner, das alte Staatsrecht hiſtoriſch kannten: dieſe hatte er freylich vor Augen, und hat aus ihnen an nicht wenigen Stellen durch uͤberraſchende Beſtimmtheit ausgezeichnete Anga- ben entlehnt die ſo unverkennbar das Gepraͤge der Zuver- laͤſſigkeit tragen als ſie folgenreich ſind. Wo aber Livius, ſey es daß er forteilend abkuͤrze, oder daß er rhetoriſch ausbilde, ſich von dem Buchſtaben der Aelteren entfernt, da irrt er ohne einen Pfad zu erkennen, durch Nahmen und Worte verfuͤhrt. So redet er in dieſem Zeitraum von Ackergeſetzen die von den Tribunen mit Ungeſtuͤm und Gewaltſamkeit promulgirt ſeyn ſollen.
Mit weit groͤßerem Fleiß und muͤhſeligerer Sorg- falt, ſo wie mit ungleich weniger Geiſt als Livius hat Dio- nyſius geſchrieben. Iſt es an ihm ſehr zu tadeln daß er auf den Glauben der weitſchweifigeren Annalen den Bege- benheiten einen truͤgeriſchen Anſchein von hiſtoriſcher Be- ſtimmtheit giebt, und durch Ausfuͤhrlichkeit taͤuſcht, ſo faßt er dagegen die ihm zugaͤnglichen Nachrichten viel ſorgfaͤltiger auf, und widerſpricht ſich nicht, wie es Li- vius ſo oft thut, vergeſſend welche Darſtellung er fruͤher gewaͤhlt hatte. Ihm verdanken wir die ganz beſtimmte
Zweiter Theil. B
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[17/0033]
derungen annahm, und dieſe fernen Bilder verwechſelten
ſich oder wichen dem der ſpaͤteſten Zeit. Die aͤlteren An-
nalen, geſchrieben ehe der Nation und der Verfaſſung
Grundzuͤge verblichen waren, als von dem ſchon abgeſtor-
benen doch die aͤußere Geſtalt oder eine ſehr beſtimmte Er-
innerung noch beſtand: und auch unter den juͤngeren die
Buͤcher ſolcher Verfaſſer, die, wie Licinius Macer, alte
Urkunden benutzt hatten, und, als Staatsmaͤnner, das
alte Staatsrecht hiſtoriſch kannten: dieſe hatte er freylich
vor Augen, und hat aus ihnen an nicht wenigen Stellen
durch uͤberraſchende Beſtimmtheit ausgezeichnete Anga-
ben entlehnt die ſo unverkennbar das Gepraͤge der Zuver-
laͤſſigkeit tragen als ſie folgenreich ſind. Wo aber Livius,
ſey es daß er forteilend abkuͤrze, oder daß er rhetoriſch
ausbilde, ſich von dem Buchſtaben der Aelteren entfernt,
da irrt er ohne einen Pfad zu erkennen, durch Nahmen
und Worte verfuͤhrt. So redet er in dieſem Zeitraum
von Ackergeſetzen die von den Tribunen mit Ungeſtuͤm und
Gewaltſamkeit promulgirt ſeyn ſollen.
Mit weit groͤßerem Fleiß und muͤhſeligerer Sorg-
falt, ſo wie mit ungleich weniger Geiſt als Livius hat Dio-
nyſius geſchrieben. Iſt es an ihm ſehr zu tadeln daß er
auf den Glauben der weitſchweifigeren Annalen den Bege-
benheiten einen truͤgeriſchen Anſchein von hiſtoriſcher Be-
ſtimmtheit giebt, und durch Ausfuͤhrlichkeit taͤuſcht, ſo
faßt er dagegen die ihm zugaͤnglichen Nachrichten viel
ſorgfaͤltiger auf, und widerſpricht ſich nicht, wie es Li-
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/33>, abgerufen am 30.01.2025.
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