Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

ginius, der mit dem Heer gegen die Aequer im Felde
stand. Wie wenig auch die Patricier den plebejischen
Geschlechtern selbst nur diesen Nahmen einräumen woll-
ten, so waren doch schon viele ihrer Familien durch
Tribunate und Kriegswürden ausgezeichnet; und die
Virginier müssen zu den angesehenen gehört haben, da
ein Tribun dieses Nahmens ihn merkwürdig gemacht
hatte, und die Mutter und der Verlobte der unglückli-
chen Virginia ausgezeichnete plebejische Nahmen trugen.
Verführung, unter den Römern bey der Strenge der
väterlichen Gewalt und den heiligen Sitten der Müt-
ter damals wohl fast unerhört, konnte den Decemvir
hier nicht zu seinem Zweck führen; aber ein Frevel mehr
machte ihm den Liebeshandel anziehender.

Schrift ward damals nicht im Kindesalter erlernt,
es war eine Kunst welche dem herangereifteren Alter
vorbehalten war. Auf dem Wege zur Schule, die sich,
wie noch im Morgenlande, unter den andern Buden
befand welche das Forum, wie einen Bazar, einschlos-
sen, ergriff ein Client des App. Claudius die schutzlose
Virginia und riß sie fort: vorgebend, sie sey von einer
Sklavin gebohren die sein eigen gewesen wäre, und der
Numitoria untergeschoben. Als das Volk sich bey dem
Jammergeschrey des Mädchens zusammendrängte, und
die Theilnahme sich stürmischer äußerte da man ihre
Schönheit sah, und den Nahmen ihres Verlobten hörte:
L. Icilius der dem Volk in seinem Tribunat lieb gewe-
sen war, und ihm den Besitz des Aventinischen Bergs
gewonnen hatte: erklärte der Räuber, er bedürfe keiner

ginius, der mit dem Heer gegen die Aequer im Felde
ſtand. Wie wenig auch die Patricier den plebejiſchen
Geſchlechtern ſelbſt nur dieſen Nahmen einraͤumen woll-
ten, ſo waren doch ſchon viele ihrer Familien durch
Tribunate und Kriegswuͤrden ausgezeichnet; und die
Virginier muͤſſen zu den angeſehenen gehoͤrt haben, da
ein Tribun dieſes Nahmens ihn merkwuͤrdig gemacht
hatte, und die Mutter und der Verlobte der ungluͤckli-
chen Virginia ausgezeichnete plebejiſche Nahmen trugen.
Verfuͤhrung, unter den Roͤmern bey der Strenge der
vaͤterlichen Gewalt und den heiligen Sitten der Muͤt-
ter damals wohl faſt unerhoͤrt, konnte den Decemvir
hier nicht zu ſeinem Zweck fuͤhren; aber ein Frevel mehr
machte ihm den Liebeshandel anziehender.

Schrift ward damals nicht im Kindesalter erlernt,
es war eine Kunſt welche dem herangereifteren Alter
vorbehalten war. Auf dem Wege zur Schule, die ſich,
wie noch im Morgenlande, unter den andern Buden
befand welche das Forum, wie einen Bazar, einſchloſ-
ſen, ergriff ein Client des App. Claudius die ſchutzloſe
Virginia und riß ſie fort: vorgebend, ſie ſey von einer
Sklavin gebohren die ſein eigen geweſen waͤre, und der
Numitoria untergeſchoben. Als das Volk ſich bey dem
Jammergeſchrey des Maͤdchens zuſammendraͤngte, und
die Theilnahme ſich ſtuͤrmiſcher aͤußerte da man ihre
Schoͤnheit ſah, und den Nahmen ihres Verlobten hoͤrte:
L. Icilius der dem Volk in ſeinem Tribunat lieb gewe-
ſen war, und ihm den Beſitz des Aventiniſchen Bergs
gewonnen hatte: erklaͤrte der Raͤuber, er beduͤrfe keiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0148" n="132"/>
ginius, der mit dem Heer gegen die Aequer im Felde<lb/>
&#x017F;tand. Wie wenig auch die Patricier den plebeji&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;chlechtern &#x017F;elb&#x017F;t nur die&#x017F;en Nahmen einra&#x0364;umen woll-<lb/>
ten, &#x017F;o waren doch &#x017F;chon viele ihrer Familien durch<lb/>
Tribunate und Kriegswu&#x0364;rden ausgezeichnet; und die<lb/>
Virginier mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en zu den ange&#x017F;ehenen geho&#x0364;rt haben, da<lb/>
ein Tribun die&#x017F;es Nahmens ihn merkwu&#x0364;rdig gemacht<lb/>
hatte, und die Mutter und der Verlobte der unglu&#x0364;ckli-<lb/>
chen Virginia ausgezeichnete plebeji&#x017F;che Nahmen trugen.<lb/>
Verfu&#x0364;hrung, unter den Ro&#x0364;mern bey der Strenge der<lb/>
va&#x0364;terlichen Gewalt und den heiligen Sitten der Mu&#x0364;t-<lb/>
ter damals wohl fa&#x017F;t unerho&#x0364;rt, konnte den Decemvir<lb/>
hier nicht zu &#x017F;einem Zweck fu&#x0364;hren; aber ein Frevel mehr<lb/>
machte ihm den Liebeshandel anziehender.</p><lb/>
        <p>Schrift ward damals nicht im Kindesalter erlernt,<lb/>
es war eine Kun&#x017F;t welche dem herangereifteren Alter<lb/>
vorbehalten war. Auf dem Wege zur Schule, die &#x017F;ich,<lb/>
wie noch im Morgenlande, unter den andern Buden<lb/>
befand welche das Forum, wie einen Bazar, ein&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, ergriff ein Client des App. Claudius die &#x017F;chutzlo&#x017F;e<lb/>
Virginia und riß &#x017F;ie fort: vorgebend, &#x017F;ie &#x017F;ey von einer<lb/>
Sklavin gebohren die &#x017F;ein eigen gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, und der<lb/>
Numitoria unterge&#x017F;choben. Als das Volk &#x017F;ich bey dem<lb/>
Jammerge&#x017F;chrey des Ma&#x0364;dchens zu&#x017F;ammendra&#x0364;ngte, und<lb/>
die Theilnahme &#x017F;ich &#x017F;tu&#x0364;rmi&#x017F;cher a&#x0364;ußerte da man ihre<lb/>
Scho&#x0364;nheit &#x017F;ah, und den Nahmen ihres Verlobten ho&#x0364;rte:<lb/>
L. Icilius der dem Volk in &#x017F;einem Tribunat lieb gewe-<lb/>
&#x017F;en war, und ihm den Be&#x017F;itz des Aventini&#x017F;chen Bergs<lb/>
gewonnen hatte: erkla&#x0364;rte der Ra&#x0364;uber, er bedu&#x0364;rfe keiner<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0148] ginius, der mit dem Heer gegen die Aequer im Felde ſtand. Wie wenig auch die Patricier den plebejiſchen Geſchlechtern ſelbſt nur dieſen Nahmen einraͤumen woll- ten, ſo waren doch ſchon viele ihrer Familien durch Tribunate und Kriegswuͤrden ausgezeichnet; und die Virginier muͤſſen zu den angeſehenen gehoͤrt haben, da ein Tribun dieſes Nahmens ihn merkwuͤrdig gemacht hatte, und die Mutter und der Verlobte der ungluͤckli- chen Virginia ausgezeichnete plebejiſche Nahmen trugen. Verfuͤhrung, unter den Roͤmern bey der Strenge der vaͤterlichen Gewalt und den heiligen Sitten der Muͤt- ter damals wohl faſt unerhoͤrt, konnte den Decemvir hier nicht zu ſeinem Zweck fuͤhren; aber ein Frevel mehr machte ihm den Liebeshandel anziehender. Schrift ward damals nicht im Kindesalter erlernt, es war eine Kunſt welche dem herangereifteren Alter vorbehalten war. Auf dem Wege zur Schule, die ſich, wie noch im Morgenlande, unter den andern Buden befand welche das Forum, wie einen Bazar, einſchloſ- ſen, ergriff ein Client des App. Claudius die ſchutzloſe Virginia und riß ſie fort: vorgebend, ſie ſey von einer Sklavin gebohren die ſein eigen geweſen waͤre, und der Numitoria untergeſchoben. Als das Volk ſich bey dem Jammergeſchrey des Maͤdchens zuſammendraͤngte, und die Theilnahme ſich ſtuͤrmiſcher aͤußerte da man ihre Schoͤnheit ſah, und den Nahmen ihres Verlobten hoͤrte: L. Icilius der dem Volk in ſeinem Tribunat lieb gewe- ſen war, und ihm den Beſitz des Aventiniſchen Bergs gewonnen hatte: erklaͤrte der Raͤuber, er beduͤrfe keiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/148
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/148>, abgerufen am 22.11.2024.