Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Regeln, mehr als vierfach die der im Census geschätz-
ten ausgemacht haben. Es ist Dionysius verzeihlicher,
die Bevölkerung Roms, mit Inbegriff der Sklaven und
Fremden, nur auf viermal die Zahl des Census ge-
schätzt zu haben, als Montesquieu daß er sich hierüber
von dem Rhetor irre leiten ließ. Mit jenen entsteht
eine Zahl, deren Ernährung auf Roms eng begränztem
Boden ganz unbegreiflich bleiben muß: und der es wohl
erlaubt ist unsern Glauben zu versagen. Livius selbst
scheint den alten Censusangaben mißtraut zu haben, da
er sowohl die früheren welche sich bey Dionysius finden,
als alle spätere vor dem Jahr 459 übergeht. Und schon
die beyden aus dem Umfang dieses Zeitraums, welche
er, wohl mehr zufällig als absichtlich, wider jene Re-
gel aufgenommen hat, sind durch ihre eigne Beschaffen-
heit verwerflich. Denn das darf man schlechthin un-
möglich nennen, daß während sechs Jahren, in denen
viel Blut floß und eine fürchterliche Pest wüthete, un-
mittelbar nach dieser, die Bevölkerung sich um ein Acht-
theil vermehrt haben sollte.

Wahrscheinlich sind diese alle das Werk leichtsinni-
ges Betrugs später Annalisten, und dahin möchte man
versucht seyn auch den Census vor der gallischen Ein-
nahme zu rechnen, wenn nicht die seit Errichtung der
Censur verfaßten Register in den censorischen Familien
als heilige Erbstücke aufbewahrt geworden wären 4).
Ist nun diese Angabe wirklich ächt, so kann man sie sich
nur durch die Hypothese begreiflich machen daß der Cen-

4) Dionysius I. c. 74.

Regeln, mehr als vierfach die der im Cenſus geſchaͤtz-
ten ausgemacht haben. Es iſt Dionyſius verzeihlicher,
die Bevoͤlkerung Roms, mit Inbegriff der Sklaven und
Fremden, nur auf viermal die Zahl des Cenſus ge-
ſchaͤtzt zu haben, als Montesquieu daß er ſich hieruͤber
von dem Rhetor irre leiten ließ. Mit jenen entſteht
eine Zahl, deren Ernaͤhrung auf Roms eng begraͤnztem
Boden ganz unbegreiflich bleiben muß: und der es wohl
erlaubt iſt unſern Glauben zu verſagen. Livius ſelbſt
ſcheint den alten Cenſusangaben mißtraut zu haben, da
er ſowohl die fruͤheren welche ſich bey Dionyſius finden,
als alle ſpaͤtere vor dem Jahr 459 uͤbergeht. Und ſchon
die beyden aus dem Umfang dieſes Zeitraums, welche
er, wohl mehr zufaͤllig als abſichtlich, wider jene Re-
gel aufgenommen hat, ſind durch ihre eigne Beſchaffen-
heit verwerflich. Denn das darf man ſchlechthin un-
moͤglich nennen, daß waͤhrend ſechs Jahren, in denen
viel Blut floß und eine fuͤrchterliche Peſt wuͤthete, un-
mittelbar nach dieſer, die Bevoͤlkerung ſich um ein Acht-
theil vermehrt haben ſollte.

Wahrſcheinlich ſind dieſe alle das Werk leichtſinni-
ges Betrugs ſpaͤter Annaliſten, und dahin moͤchte man
verſucht ſeyn auch den Cenſus vor der galliſchen Ein-
nahme zu rechnen, wenn nicht die ſeit Errichtung der
Cenſur verfaßten Regiſter in den cenſoriſchen Familien
als heilige Erbſtuͤcke aufbewahrt geworden waͤren 4).
Iſt nun dieſe Angabe wirklich aͤcht, ſo kann man ſie ſich
nur durch die Hypotheſe begreiflich machen daß der Cen-

4) Dionyſius I. c. 74.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0117" n="101"/>
Regeln, mehr als vierfach die der im Cen&#x017F;us ge&#x017F;cha&#x0364;tz-<lb/>
ten ausgemacht haben. Es i&#x017F;t Diony&#x017F;ius verzeihlicher,<lb/>
die Bevo&#x0364;lkerung Roms, mit Inbegriff der Sklaven und<lb/>
Fremden, nur auf viermal die Zahl des Cen&#x017F;us ge-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;tzt zu haben, als Montesquieu daß er &#x017F;ich hieru&#x0364;ber<lb/>
von dem Rhetor irre leiten ließ. Mit jenen ent&#x017F;teht<lb/>
eine Zahl, deren Erna&#x0364;hrung auf Roms eng begra&#x0364;nztem<lb/>
Boden ganz unbegreiflich bleiben muß: und der es wohl<lb/>
erlaubt i&#x017F;t un&#x017F;ern Glauben zu ver&#x017F;agen. Livius &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;cheint den alten Cen&#x017F;usangaben mißtraut zu haben, da<lb/>
er &#x017F;owohl die fru&#x0364;heren welche &#x017F;ich bey Diony&#x017F;ius finden,<lb/>
als alle &#x017F;pa&#x0364;tere vor dem Jahr 459 u&#x0364;bergeht. Und &#x017F;chon<lb/>
die beyden aus dem Umfang die&#x017F;es Zeitraums, welche<lb/>
er, wohl mehr zufa&#x0364;llig als ab&#x017F;ichtlich, wider jene Re-<lb/>
gel aufgenommen hat, &#x017F;ind durch ihre eigne Be&#x017F;chaffen-<lb/>
heit verwerflich. Denn das darf man &#x017F;chlechthin un-<lb/>
mo&#x0364;glich nennen, daß wa&#x0364;hrend &#x017F;echs Jahren, in denen<lb/>
viel Blut floß und eine fu&#x0364;rchterliche Pe&#x017F;t wu&#x0364;thete, un-<lb/>
mittelbar nach die&#x017F;er, die Bevo&#x0364;lkerung &#x017F;ich um ein Acht-<lb/>
theil vermehrt haben &#x017F;ollte.</p><lb/>
        <p>Wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;ind die&#x017F;e alle das Werk leicht&#x017F;inni-<lb/>
ges Betrugs &#x017F;pa&#x0364;ter Annali&#x017F;ten, und dahin mo&#x0364;chte man<lb/>
ver&#x017F;ucht &#x017F;eyn auch den Cen&#x017F;us vor der galli&#x017F;chen Ein-<lb/>
nahme zu rechnen, wenn nicht die &#x017F;eit Errichtung der<lb/>
Cen&#x017F;ur verfaßten Regi&#x017F;ter in den cen&#x017F;ori&#x017F;chen Familien<lb/>
als heilige Erb&#x017F;tu&#x0364;cke aufbewahrt geworden wa&#x0364;ren <note place="foot" n="4)">Diony&#x017F;ius <hi rendition="#aq">I. c.</hi> 74.</note>.<lb/>
I&#x017F;t nun die&#x017F;e Angabe wirklich a&#x0364;cht, &#x017F;o kann man &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
nur durch die Hypothe&#x017F;e begreiflich machen daß der Cen-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0117] Regeln, mehr als vierfach die der im Cenſus geſchaͤtz- ten ausgemacht haben. Es iſt Dionyſius verzeihlicher, die Bevoͤlkerung Roms, mit Inbegriff der Sklaven und Fremden, nur auf viermal die Zahl des Cenſus ge- ſchaͤtzt zu haben, als Montesquieu daß er ſich hieruͤber von dem Rhetor irre leiten ließ. Mit jenen entſteht eine Zahl, deren Ernaͤhrung auf Roms eng begraͤnztem Boden ganz unbegreiflich bleiben muß: und der es wohl erlaubt iſt unſern Glauben zu verſagen. Livius ſelbſt ſcheint den alten Cenſusangaben mißtraut zu haben, da er ſowohl die fruͤheren welche ſich bey Dionyſius finden, als alle ſpaͤtere vor dem Jahr 459 uͤbergeht. Und ſchon die beyden aus dem Umfang dieſes Zeitraums, welche er, wohl mehr zufaͤllig als abſichtlich, wider jene Re- gel aufgenommen hat, ſind durch ihre eigne Beſchaffen- heit verwerflich. Denn das darf man ſchlechthin un- moͤglich nennen, daß waͤhrend ſechs Jahren, in denen viel Blut floß und eine fuͤrchterliche Peſt wuͤthete, un- mittelbar nach dieſer, die Bevoͤlkerung ſich um ein Acht- theil vermehrt haben ſollte. Wahrſcheinlich ſind dieſe alle das Werk leichtſinni- ges Betrugs ſpaͤter Annaliſten, und dahin moͤchte man verſucht ſeyn auch den Cenſus vor der galliſchen Ein- nahme zu rechnen, wenn nicht die ſeit Errichtung der Cenſur verfaßten Regiſter in den cenſoriſchen Familien als heilige Erbſtuͤcke aufbewahrt geworden waͤren 4). Iſt nun dieſe Angabe wirklich aͤcht, ſo kann man ſie ſich nur durch die Hypotheſe begreiflich machen daß der Cen- 4) Dionyſius I. c. 74.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/117
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/117>, abgerufen am 24.11.2024.