Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Haus durch ein furchtbares Wunderzeichen erschreckt ward.
Eine Schlange wand sich aus einer hölzernen Säule des
königlichen Hauses und verbreitete Flucht und Entsetzen.
Ein ähnliches Ungeheuer war vor dem Untergang der
Mutterstadt Troja erschienen. Der König sandte zwey sei-
ner Söhne, Titus und Aruns, nach Delphi um das
Orakel zu befragen. Er sandte mit ihnen zur Begleitung
und zum Gespött ihren Vetter L. Junius, der wegen ver-
stellter Dummheit den Nahmen Brutus trug. Dieser
war der Sohn einer Schwester des Königs: ein Kind, als
er, um sich des Reichthums seines ältern Bruders zu be-
mächtigen, diesen, wie viele andre, auf falsche Beschuldi-
gungen tödten ließ: er rettete sein Leben als er herange-
wachsen war, durch die ausharrende List sich blödsinnig zu
stellen, und bereitete sich Rache durch die unerschütterliche
Geduld sich als Narr verspotten zu lassen. So weihte er
dem Gott was das Opfer eines Narren zu seyn schien,
einen Kornellenstab, der aber als das Bild seines Ge-
heimnisses, mit Gold gefüllt war. Die Königssöhne be-
fragten den Pythischen Gott auch für sich selbst. Der un-
ter euch wird zu Rom gebieten, sprach die Pythia aus,
der zuerst die Mutter küßt. Die Tarquinier entschieden
es unter sich durch das Loos: Brutus lief wie ein Thor
den Berg hinunter daß er niederfiel und seine Lippen auf
die Erde drückte, in deren Mittelpunkt als ihr ursprüngli-
ches Heiligthum Pytho lag.

Andre Wunderzeichen und Tränme ängstigten den
König: Adler hatten auf einer Palme genistet, nahe am
königlichen Hause: sie hatten Junge ausgebrütet: die al-

Haus durch ein furchtbares Wunderzeichen erſchreckt ward.
Eine Schlange wand ſich aus einer hoͤlzernen Saͤule des
koͤniglichen Hauſes und verbreitete Flucht und Entſetzen.
Ein aͤhnliches Ungeheuer war vor dem Untergang der
Mutterſtadt Troja erſchienen. Der Koͤnig ſandte zwey ſei-
ner Soͤhne, Titus und Aruns, nach Delphi um das
Orakel zu befragen. Er ſandte mit ihnen zur Begleitung
und zum Geſpoͤtt ihren Vetter L. Junius, der wegen ver-
ſtellter Dummheit den Nahmen Brutus trug. Dieſer
war der Sohn einer Schweſter des Koͤnigs: ein Kind, als
er, um ſich des Reichthums ſeines aͤltern Bruders zu be-
maͤchtigen, dieſen, wie viele andre, auf falſche Beſchuldi-
gungen toͤdten ließ: er rettete ſein Leben als er herange-
wachſen war, durch die ausharrende Liſt ſich bloͤdſinnig zu
ſtellen, und bereitete ſich Rache durch die unerſchuͤtterliche
Geduld ſich als Narr verſpotten zu laſſen. So weihte er
dem Gott was das Opfer eines Narren zu ſeyn ſchien,
einen Kornellenſtab, der aber als das Bild ſeines Ge-
heimniſſes, mit Gold gefuͤllt war. Die Koͤnigsſoͤhne be-
fragten den Pythiſchen Gott auch fuͤr ſich ſelbſt. Der un-
ter euch wird zu Rom gebieten, ſprach die Pythia aus,
der zuerſt die Mutter kuͤßt. Die Tarquinier entſchieden
es unter ſich durch das Loos: Brutus lief wie ein Thor
den Berg hinunter daß er niederfiel und ſeine Lippen auf
die Erde druͤckte, in deren Mittelpunkt als ihr urſpruͤngli-
ches Heiligthum Pytho lag.

Andre Wunderzeichen und Traͤnme aͤngſtigten den
Koͤnig: Adler hatten auf einer Palme geniſtet, nahe am
koͤniglichen Hauſe: ſie hatten Junge ausgebruͤtet: die al-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0336" n="314"/>
Haus durch ein furchtbares Wunderzeichen er&#x017F;chreckt ward.<lb/>
Eine Schlange wand &#x017F;ich aus einer ho&#x0364;lzernen Sa&#x0364;ule des<lb/>
ko&#x0364;niglichen Hau&#x017F;es und verbreitete Flucht und Ent&#x017F;etzen.<lb/>
Ein a&#x0364;hnliches Ungeheuer war vor dem Untergang der<lb/>
Mutter&#x017F;tadt Troja er&#x017F;chienen. Der Ko&#x0364;nig &#x017F;andte zwey &#x017F;ei-<lb/>
ner So&#x0364;hne, Titus und Aruns, nach Delphi um das<lb/>
Orakel zu befragen. Er &#x017F;andte mit ihnen zur Begleitung<lb/>
und zum Ge&#x017F;po&#x0364;tt ihren Vetter L. Junius, der wegen ver-<lb/>
&#x017F;tellter Dummheit den Nahmen Brutus trug. Die&#x017F;er<lb/>
war der Sohn einer Schwe&#x017F;ter des Ko&#x0364;nigs: ein Kind, als<lb/>
er, um &#x017F;ich des Reichthums &#x017F;eines a&#x0364;ltern Bruders zu be-<lb/>
ma&#x0364;chtigen, die&#x017F;en, wie viele andre, auf fal&#x017F;che Be&#x017F;chuldi-<lb/>
gungen to&#x0364;dten ließ: er rettete &#x017F;ein Leben als er herange-<lb/>
wach&#x017F;en war, durch die ausharrende Li&#x017F;t &#x017F;ich blo&#x0364;d&#x017F;innig zu<lb/>
&#x017F;tellen, und bereitete &#x017F;ich Rache durch die uner&#x017F;chu&#x0364;tterliche<lb/>
Geduld &#x017F;ich als Narr ver&#x017F;potten zu la&#x017F;&#x017F;en. So weihte er<lb/>
dem Gott was das Opfer eines Narren zu &#x017F;eyn &#x017F;chien,<lb/>
einen Kornellen&#x017F;tab, der aber als das Bild &#x017F;eines Ge-<lb/>
heimni&#x017F;&#x017F;es, mit Gold gefu&#x0364;llt war. Die Ko&#x0364;nigs&#x017F;o&#x0364;hne be-<lb/>
fragten den Pythi&#x017F;chen Gott auch fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. Der un-<lb/>
ter euch wird zu Rom gebieten, &#x017F;prach die Pythia aus,<lb/>
der zuer&#x017F;t die Mutter ku&#x0364;ßt. Die Tarquinier ent&#x017F;chieden<lb/>
es unter &#x017F;ich durch das Loos: Brutus lief wie ein Thor<lb/>
den Berg hinunter daß er niederfiel und &#x017F;eine Lippen auf<lb/>
die Erde dru&#x0364;ckte, in deren Mittelpunkt als ihr ur&#x017F;pru&#x0364;ngli-<lb/>
ches Heiligthum Pytho lag.</p><lb/>
          <p>Andre Wunderzeichen und Tra&#x0364;nme a&#x0364;ng&#x017F;tigten den<lb/>
Ko&#x0364;nig: Adler hatten auf einer Palme geni&#x017F;tet, nahe am<lb/>
ko&#x0364;niglichen Hau&#x017F;e: &#x017F;ie hatten Junge ausgebru&#x0364;tet: die al-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[314/0336] Haus durch ein furchtbares Wunderzeichen erſchreckt ward. Eine Schlange wand ſich aus einer hoͤlzernen Saͤule des koͤniglichen Hauſes und verbreitete Flucht und Entſetzen. Ein aͤhnliches Ungeheuer war vor dem Untergang der Mutterſtadt Troja erſchienen. Der Koͤnig ſandte zwey ſei- ner Soͤhne, Titus und Aruns, nach Delphi um das Orakel zu befragen. Er ſandte mit ihnen zur Begleitung und zum Geſpoͤtt ihren Vetter L. Junius, der wegen ver- ſtellter Dummheit den Nahmen Brutus trug. Dieſer war der Sohn einer Schweſter des Koͤnigs: ein Kind, als er, um ſich des Reichthums ſeines aͤltern Bruders zu be- maͤchtigen, dieſen, wie viele andre, auf falſche Beſchuldi- gungen toͤdten ließ: er rettete ſein Leben als er herange- wachſen war, durch die ausharrende Liſt ſich bloͤdſinnig zu ſtellen, und bereitete ſich Rache durch die unerſchuͤtterliche Geduld ſich als Narr verſpotten zu laſſen. So weihte er dem Gott was das Opfer eines Narren zu ſeyn ſchien, einen Kornellenſtab, der aber als das Bild ſeines Ge- heimniſſes, mit Gold gefuͤllt war. Die Koͤnigsſoͤhne be- fragten den Pythiſchen Gott auch fuͤr ſich ſelbſt. Der un- ter euch wird zu Rom gebieten, ſprach die Pythia aus, der zuerſt die Mutter kuͤßt. Die Tarquinier entſchieden es unter ſich durch das Loos: Brutus lief wie ein Thor den Berg hinunter daß er niederfiel und ſeine Lippen auf die Erde druͤckte, in deren Mittelpunkt als ihr urſpruͤngli- ches Heiligthum Pytho lag. Andre Wunderzeichen und Traͤnme aͤngſtigten den Koͤnig: Adler hatten auf einer Palme geniſtet, nahe am koͤniglichen Hauſe: ſie hatten Junge ausgebruͤtet: die al-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/336
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/336>, abgerufen am 25.11.2024.