Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

letzte Ehre erwiesen ward, als daß sie unbegraben hinge-
worfen sey: und wie ist jenes mit der Erzählung von ihrer
frevelhaften Mißhandlung zu vereinigen? Wer sich im
Bürgerkrieg in der Wuth gegen einen gefallnen Feind so
schrecklich vergißt der wird seine Leiche nicht feyerlich be-
statten: er dürfte es nicht einmal thun weil er Gefahr ge-
gen sich erregen würde: am wenigsten der Gemahl einer
so entarteten Tochter.

Vieles aber scheint sich vereint zu haben um ein gräß-
liches Licht über die ganze Geschichte des letzten Tarqui-
nius und der seinigen zu verbreiten. Die Patricier hatten
Tarquinius Verbrechen getheilt, sein Undank erregte ihren
Haß und ward sein Verderben: sie mußten streben, ihre
Theilnahme an einem so ungeheuren und übelbelohnten
Verbrechen zu verschleyern und seine Schuld zu erschwe-
ren. Auch das Volk, wenn gleich dankbar gegen die kö-
nigliche Herrschaft, verwünschte das Andenken eines har-
ten Herrn der es zertreten hatte. Die ganze Geschichte
aber bildete sich idealisch gräßlich aus, weil sie von Dich-
tern besungen ward, deren Lied uns statt Historie gilt 65).

Ich wiederhole es, von Lucumo Ankunft zu Rom bis
zur Schlacht am Regillus ist das Werk eines epischen

65) S. oben S. 178. Ich füge zu den dort gegebenen histori-
schen Beweisen vom ehemaligen Daseyn alter geschichtlicher
Lieder noch eine merkwürdige Stelle aus dem Auszug des Fe-
stus s. v. Camenae: Camenae musae quod canunt antiquo-
rum laudes.
Horazens annosa volumina vatum möchte ich
auch lieber von uralten Gedichten altitalischer Art, aus der
Zeit, da die Dichter vates hießen, als von Prophetenbü-
chern erklären.

letzte Ehre erwieſen ward, als daß ſie unbegraben hinge-
worfen ſey: und wie iſt jenes mit der Erzaͤhlung von ihrer
frevelhaften Mißhandlung zu vereinigen? Wer ſich im
Buͤrgerkrieg in der Wuth gegen einen gefallnen Feind ſo
ſchrecklich vergißt der wird ſeine Leiche nicht feyerlich be-
ſtatten: er duͤrfte es nicht einmal thun weil er Gefahr ge-
gen ſich erregen wuͤrde: am wenigſten der Gemahl einer
ſo entarteten Tochter.

Vieles aber ſcheint ſich vereint zu haben um ein graͤß-
liches Licht uͤber die ganze Geſchichte des letzten Tarqui-
nius und der ſeinigen zu verbreiten. Die Patricier hatten
Tarquinius Verbrechen getheilt, ſein Undank erregte ihren
Haß und ward ſein Verderben: ſie mußten ſtreben, ihre
Theilnahme an einem ſo ungeheuren und uͤbelbelohnten
Verbrechen zu verſchleyern und ſeine Schuld zu erſchwe-
ren. Auch das Volk, wenn gleich dankbar gegen die koͤ-
nigliche Herrſchaft, verwuͤnſchte das Andenken eines har-
ten Herrn der es zertreten hatte. Die ganze Geſchichte
aber bildete ſich idealiſch graͤßlich aus, weil ſie von Dich-
tern beſungen ward, deren Lied uns ſtatt Hiſtorie gilt 65).

Ich wiederhole es, von Lucumo Ankunft zu Rom bis
zur Schlacht am Regillus iſt das Werk eines epiſchen

65) S. oben S. 178. Ich fuͤge zu den dort gegebenen hiſtori-
ſchen Beweiſen vom ehemaligen Daſeyn alter geſchichtlicher
Lieder noch eine merkwuͤrdige Stelle aus dem Auszug des Fe-
ſtus s. v. Camenæ: Camenæ musæ quod canunt antiquo-
rum laudes.
Horazens annosa volumina vatum moͤchte ich
auch lieber von uralten Gedichten altitaliſcher Art, aus der
Zeit, da die Dichter vates hießen, als von Prophetenbuͤ-
chern erklaͤren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0316" n="294"/>
letzte Ehre erwie&#x017F;en ward, als daß &#x017F;ie unbegraben hinge-<lb/>
worfen &#x017F;ey: und wie i&#x017F;t jenes mit der Erza&#x0364;hlung von ihrer<lb/>
frevelhaften Mißhandlung zu vereinigen? Wer &#x017F;ich im<lb/>
Bu&#x0364;rgerkrieg in der Wuth gegen einen gefallnen Feind &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chrecklich vergißt der wird &#x017F;eine Leiche nicht feyerlich be-<lb/>
&#x017F;tatten: er du&#x0364;rfte es nicht einmal thun weil er Gefahr ge-<lb/>
gen &#x017F;ich erregen wu&#x0364;rde: am wenig&#x017F;ten der Gemahl einer<lb/>
&#x017F;o entarteten Tochter.</p><lb/>
          <p>Vieles aber &#x017F;cheint &#x017F;ich vereint zu haben um ein gra&#x0364;ß-<lb/>
liches Licht u&#x0364;ber die ganze Ge&#x017F;chichte des letzten Tarqui-<lb/>
nius und der &#x017F;einigen zu verbreiten. Die Patricier hatten<lb/>
Tarquinius Verbrechen getheilt, &#x017F;ein Undank erregte ihren<lb/>
Haß und ward &#x017F;ein Verderben: &#x017F;ie mußten &#x017F;treben, ihre<lb/>
Theilnahme an einem &#x017F;o ungeheuren und u&#x0364;belbelohnten<lb/>
Verbrechen zu ver&#x017F;chleyern und &#x017F;eine Schuld zu er&#x017F;chwe-<lb/>
ren. Auch das Volk, wenn gleich dankbar gegen die ko&#x0364;-<lb/>
nigliche Herr&#x017F;chaft, verwu&#x0364;n&#x017F;chte das Andenken eines har-<lb/>
ten Herrn der es zertreten hatte. Die ganze Ge&#x017F;chichte<lb/>
aber bildete &#x017F;ich ideali&#x017F;ch gra&#x0364;ßlich aus, weil &#x017F;ie von Dich-<lb/>
tern be&#x017F;ungen ward, deren Lied uns &#x017F;tatt Hi&#x017F;torie gilt <note place="foot" n="65)">S. oben S. 178. Ich fu&#x0364;ge zu den dort gegebenen hi&#x017F;tori-<lb/>
&#x017F;chen Bewei&#x017F;en vom ehemaligen Da&#x017F;eyn alter ge&#x017F;chichtlicher<lb/>
Lieder noch eine merkwu&#x0364;rdige Stelle aus dem Auszug des Fe-<lb/>
&#x017F;tus <hi rendition="#aq">s. v. Camenæ: Camenæ musæ quod canunt antiquo-<lb/>
rum laudes.</hi> Horazens <hi rendition="#aq">annosa volumina vatum</hi> mo&#x0364;chte ich<lb/>
auch lieber von uralten Gedichten altitali&#x017F;cher Art, aus der<lb/>
Zeit, da die Dichter <hi rendition="#aq">vates</hi> hießen, als von Prophetenbu&#x0364;-<lb/>
chern erkla&#x0364;ren.</note>.</p><lb/>
          <p>Ich wiederhole es, von Lucumo Ankunft zu Rom bis<lb/>
zur Schlacht am Regillus i&#x017F;t das Werk eines epi&#x017F;chen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0316] letzte Ehre erwieſen ward, als daß ſie unbegraben hinge- worfen ſey: und wie iſt jenes mit der Erzaͤhlung von ihrer frevelhaften Mißhandlung zu vereinigen? Wer ſich im Buͤrgerkrieg in der Wuth gegen einen gefallnen Feind ſo ſchrecklich vergißt der wird ſeine Leiche nicht feyerlich be- ſtatten: er duͤrfte es nicht einmal thun weil er Gefahr ge- gen ſich erregen wuͤrde: am wenigſten der Gemahl einer ſo entarteten Tochter. Vieles aber ſcheint ſich vereint zu haben um ein graͤß- liches Licht uͤber die ganze Geſchichte des letzten Tarqui- nius und der ſeinigen zu verbreiten. Die Patricier hatten Tarquinius Verbrechen getheilt, ſein Undank erregte ihren Haß und ward ſein Verderben: ſie mußten ſtreben, ihre Theilnahme an einem ſo ungeheuren und uͤbelbelohnten Verbrechen zu verſchleyern und ſeine Schuld zu erſchwe- ren. Auch das Volk, wenn gleich dankbar gegen die koͤ- nigliche Herrſchaft, verwuͤnſchte das Andenken eines har- ten Herrn der es zertreten hatte. Die ganze Geſchichte aber bildete ſich idealiſch graͤßlich aus, weil ſie von Dich- tern beſungen ward, deren Lied uns ſtatt Hiſtorie gilt 65). Ich wiederhole es, von Lucumo Ankunft zu Rom bis zur Schlacht am Regillus iſt das Werk eines epiſchen 65) S. oben S. 178. Ich fuͤge zu den dort gegebenen hiſtori- ſchen Beweiſen vom ehemaligen Daſeyn alter geſchichtlicher Lieder noch eine merkwuͤrdige Stelle aus dem Auszug des Fe- ſtus s. v. Camenæ: Camenæ musæ quod canunt antiquo- rum laudes. Horazens annosa volumina vatum moͤchte ich auch lieber von uralten Gedichten altitaliſcher Art, aus der Zeit, da die Dichter vates hießen, als von Prophetenbuͤ- chern erklaͤren.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/316
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/316>, abgerufen am 22.11.2024.