die großen einheimischen Geschichtschreiber, unter denen Sallust der erste war, Roms Thaten und seine Helden der Nacht entrissen. Es ist wohl keine gewagte Behauptung, daß die Römer durch Livius inne wurden welche Ge- schichte sie hatten. Verschönert durch den Wunsch, in den Zeiten der Vorfahren ein noch nicht lange ganz erstorbenes ehernes Alter zu schauen, umgab jetzt, im Reiz der lieblich- sten Rede, die Größe ihrer Thaten und Siege der herrlichste Schmuck republikanischer und bürgerlicher Tugenden: ein Ernst und eine Erhabenheit, welche die großen Männer Athens mit ihren unverhüllten menschlichen Fehlern und Schwächen eben so demüthigend übertraf, als die Besie- gung ganzer Welttheile und furchtbarer Völker die leiden- schaftlichen Kämpfe kleiner Republiken: der Perserkrieg galt den Römern bald für ein dreistes Mährchen 3). Das Mittelalter und das verjüngte Italien, denen die Anmuth griechischer Historiker verborgen war, bewunderten Roms Geschichte ausschließend; als ob das Schicksal jenen alten Helden Ersatz für die Gleichgültigkeit ihrer Nachkommen des Zeitalters geben wollte worin sie sich zu fremder Cul- tur gewandt hatten. Es ist eine ungelehrte, aber eine desto einfältigere und ungeschminktere Verehrung, mit der die alten Italiener des erwachenden Mittelalters die gro- ßen Nahmen Roms nennen: vielleicht waren sie ihnen um so näher, weil sie sich ohne Klügeln, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Sitten und der Zeiten, ihre gro- ßen Seelen in den Verhältnissen und fast in der Gestalt von Zeitgenossen und Landsleuten dachten, so wie sie in
3) Wer erinnert sich nicht Juvenals Hohn?
die großen einheimiſchen Geſchichtſchreiber, unter denen Salluſt der erſte war, Roms Thaten und ſeine Helden der Nacht entriſſen. Es iſt wohl keine gewagte Behauptung, daß die Roͤmer durch Livius inne wurden welche Ge- ſchichte ſie hatten. Verſchoͤnert durch den Wunſch, in den Zeiten der Vorfahren ein noch nicht lange ganz erſtorbenes ehernes Alter zu ſchauen, umgab jetzt, im Reiz der lieblich- ſten Rede, die Groͤße ihrer Thaten und Siege der herrlichſte Schmuck republikaniſcher und buͤrgerlicher Tugenden: ein Ernſt und eine Erhabenheit, welche die großen Maͤnner Athens mit ihren unverhuͤllten menſchlichen Fehlern und Schwaͤchen eben ſo demuͤthigend uͤbertraf, als die Beſie- gung ganzer Welttheile und furchtbarer Voͤlker die leiden- ſchaftlichen Kaͤmpfe kleiner Republiken: der Perſerkrieg galt den Roͤmern bald fuͤr ein dreiſtes Maͤhrchen 3). Das Mittelalter und das verjuͤngte Italien, denen die Anmuth griechiſcher Hiſtoriker verborgen war, bewunderten Roms Geſchichte ausſchließend; als ob das Schickſal jenen alten Helden Erſatz fuͤr die Gleichguͤltigkeit ihrer Nachkommen des Zeitalters geben wollte worin ſie ſich zu fremder Cul- tur gewandt hatten. Es iſt eine ungelehrte, aber eine deſto einfaͤltigere und ungeſchminktere Verehrung, mit der die alten Italiener des erwachenden Mittelalters die gro- ßen Nahmen Roms nennen: vielleicht waren ſie ihnen um ſo naͤher, weil ſie ſich ohne Kluͤgeln, ohne Ruͤckſicht auf die Verſchiedenheit der Sitten und der Zeiten, ihre gro- ßen Seelen in den Verhaͤltniſſen und faſt in der Geſtalt von Zeitgenoſſen und Landsleuten dachten, ſo wie ſie in
3) Wer erinnert ſich nicht Juvenals Hohn?
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die großen einheimiſchen Geſchichtſchreiber, unter denen
Salluſt der erſte war, Roms Thaten und ſeine Helden der
Nacht entriſſen. Es iſt wohl keine gewagte Behauptung,
daß die Roͤmer durch Livius inne wurden welche Ge-
ſchichte ſie hatten. Verſchoͤnert durch den Wunſch, in den
Zeiten der Vorfahren ein noch nicht lange ganz erſtorbenes
ehernes Alter zu ſchauen, umgab jetzt, im Reiz der lieblich-
ſten Rede, die Groͤße ihrer Thaten und Siege der herrlichſte
Schmuck republikaniſcher und buͤrgerlicher Tugenden: ein
Ernſt und eine Erhabenheit, welche die großen Maͤnner
Athens mit ihren unverhuͤllten menſchlichen Fehlern und
Schwaͤchen eben ſo demuͤthigend uͤbertraf, als die Beſie-
gung ganzer Welttheile und furchtbarer Voͤlker die leiden-
ſchaftlichen Kaͤmpfe kleiner Republiken: der Perſerkrieg
galt den Roͤmern bald fuͤr ein dreiſtes Maͤhrchen 3). Das
Mittelalter und das verjuͤngte Italien, denen die Anmuth
griechiſcher Hiſtoriker verborgen war, bewunderten Roms
Geſchichte ausſchließend; als ob das Schickſal jenen alten
Helden Erſatz fuͤr die Gleichguͤltigkeit ihrer Nachkommen
des Zeitalters geben wollte worin ſie ſich zu fremder Cul-
tur gewandt hatten. Es iſt eine ungelehrte, aber eine
deſto einfaͤltigere und ungeſchminktere Verehrung, mit der
die alten Italiener des erwachenden Mittelalters die gro-
ßen Nahmen Roms nennen: vielleicht waren ſie ihnen um
ſo naͤher, weil ſie ſich ohne Kluͤgeln, ohne Ruͤckſicht auf
die Verſchiedenheit der Sitten und der Zeiten, ihre gro-
ßen Seelen in den Verhaͤltniſſen und faſt in der Geſtalt
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3) Wer erinnert ſich nicht Juvenals Hohn?
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/28>, abgerufen am 24.11.2024.
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