Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

in der letzten Hälfte des sechsten Jahrhunderts unsrer Zeit-
rechnung: als die Stadt, mehr als einmal mit stürmender
Hand erobert, durch Hunger, durch Pest wegsterben sah
was das Schwerdt verschont hatte; als der Senat und die
noch übrigen alten Geschlechter von Totila ausgerottet
waren, so daß kaum nur der senatorische Nahme, und
ein Schattenbild von Municipalverfassung lebte; Rom un-
ter die Gewalt eines entfernt von ihr residirenden orienta-
lischen Statthalters herabgewürdigt, die alte Religion,
mit ihr alles ererbte Herkömmliche vernichtet war; als
eine neue andere Tugenden, ein anderes Glück ausschließ-
lich predigte, andere Sünden verdammte als die alten
Sitten; als die alten Wissenschaften und Künste, alle alte
Andenken und Denkmähler, ein Greuel, die verherrlich-
ten Vorfahren rettungslose Verdammte schienen; und in
Rom, auf ewig der Waffen beraubt, ein geistliches Reich
gegründet ward, welches nun nach zwölf Jahrhunderten
auch erloschen ist. Er würde auch vielleicht die sechs dem
rechtmäßigen Augurium des Remus entsprechenden Sä-
keln, durch die Dauer der gesetzlichen und freyen Verfas-
sung erklärt, und sie bis zu den Syllanischen oder bis zu
den Cäsarischen Zeiten gezählt haben: denn jede Deutung
einer Weissagung fordert freyen Raum, und diese hätte
sich auf beide Weisen rechtfertigen lassen.

Der Stiftungstag Roms ward am Tage des Fests
der Pales, dem 21sten April, gefeyert, an dem das
Landvolk, Roms älteste Bewohner, die Hirtengöttin
um Schutz und Gedeihen für ihre Heerden, um Verzei-
hung für absichtslose Verletzung geheiligter Stätten an-

in der letzten Haͤlfte des ſechſten Jahrhunderts unſrer Zeit-
rechnung: als die Stadt, mehr als einmal mit ſtuͤrmender
Hand erobert, durch Hunger, durch Peſt wegſterben ſah
was das Schwerdt verſchont hatte; als der Senat und die
noch uͤbrigen alten Geſchlechter von Totila ausgerottet
waren, ſo daß kaum nur der ſenatoriſche Nahme, und
ein Schattenbild von Municipalverfaſſung lebte; Rom un-
ter die Gewalt eines entfernt von ihr reſidirenden orienta-
liſchen Statthalters herabgewuͤrdigt, die alte Religion,
mit ihr alles ererbte Herkoͤmmliche vernichtet war; als
eine neue andere Tugenden, ein anderes Gluͤck ausſchließ-
lich predigte, andere Suͤnden verdammte als die alten
Sitten; als die alten Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, alle alte
Andenken und Denkmaͤhler, ein Greuel, die verherrlich-
ten Vorfahren rettungsloſe Verdammte ſchienen; und in
Rom, auf ewig der Waffen beraubt, ein geiſtliches Reich
gegruͤndet ward, welches nun nach zwoͤlf Jahrhunderten
auch erloſchen iſt. Er wuͤrde auch vielleicht die ſechs dem
rechtmaͤßigen Augurium des Remus entſprechenden Saͤ-
keln, durch die Dauer der geſetzlichen und freyen Verfaſ-
ſung erklaͤrt, und ſie bis zu den Syllaniſchen oder bis zu
den Caͤſariſchen Zeiten gezaͤhlt haben: denn jede Deutung
einer Weiſſagung fordert freyen Raum, und dieſe haͤtte
ſich auf beide Weiſen rechtfertigen laſſen.

Der Stiftungstag Roms ward am Tage des Feſts
der Pales, dem 21ſten April, gefeyert, an dem das
Landvolk, Roms aͤlteſte Bewohner, die Hirtengoͤttin
um Schutz und Gedeihen fuͤr ihre Heerden, um Verzei-
hung fuͤr abſichtsloſe Verletzung geheiligter Staͤtten an-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0178" n="156"/>
in der letzten Ha&#x0364;lfte des &#x017F;ech&#x017F;ten Jahrhunderts un&#x017F;rer Zeit-<lb/>
rechnung: als die Stadt, mehr als einmal mit &#x017F;tu&#x0364;rmender<lb/>
Hand erobert, durch Hunger, durch Pe&#x017F;t weg&#x017F;terben &#x017F;ah<lb/>
was das Schwerdt ver&#x017F;chont hatte; als der Senat und die<lb/>
noch u&#x0364;brigen alten Ge&#x017F;chlechter von Totila ausgerottet<lb/>
waren, &#x017F;o daß kaum nur der &#x017F;enatori&#x017F;che Nahme, und<lb/>
ein Schattenbild von Municipalverfa&#x017F;&#x017F;ung lebte; Rom un-<lb/>
ter die Gewalt eines entfernt von ihr re&#x017F;idirenden orienta-<lb/>
li&#x017F;chen Statthalters herabgewu&#x0364;rdigt, die alte Religion,<lb/>
mit ihr alles ererbte Herko&#x0364;mmliche vernichtet war; als<lb/>
eine neue andere Tugenden, ein anderes Glu&#x0364;ck aus&#x017F;chließ-<lb/>
lich predigte, andere Su&#x0364;nden verdammte als die alten<lb/>
Sitten; als die alten Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften und Ku&#x0364;n&#x017F;te, alle alte<lb/>
Andenken und Denkma&#x0364;hler, ein Greuel, die verherrlich-<lb/>
ten Vorfahren rettungslo&#x017F;e Verdammte &#x017F;chienen; und in<lb/>
Rom, auf ewig der Waffen beraubt, ein gei&#x017F;tliches Reich<lb/>
gegru&#x0364;ndet ward, welches nun nach zwo&#x0364;lf Jahrhunderten<lb/>
auch erlo&#x017F;chen i&#x017F;t. Er wu&#x0364;rde auch vielleicht die &#x017F;echs dem<lb/>
rechtma&#x0364;ßigen Augurium des Remus ent&#x017F;prechenden Sa&#x0364;-<lb/>
keln, durch die Dauer der ge&#x017F;etzlichen und freyen Verfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung erkla&#x0364;rt, und &#x017F;ie bis zu den Syllani&#x017F;chen oder bis zu<lb/>
den Ca&#x0364;&#x017F;ari&#x017F;chen Zeiten geza&#x0364;hlt haben: denn jede Deutung<lb/>
einer Wei&#x017F;&#x017F;agung fordert freyen Raum, und die&#x017F;e ha&#x0364;tte<lb/>
&#x017F;ich auf beide Wei&#x017F;en rechtfertigen la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Der Stiftungstag Roms ward am Tage des Fe&#x017F;ts<lb/>
der Pales, dem 21&#x017F;ten April, gefeyert, an dem das<lb/>
Landvolk, Roms a&#x0364;lte&#x017F;te Bewohner, die Hirtengo&#x0364;ttin<lb/>
um Schutz und Gedeihen fu&#x0364;r ihre Heerden, um Verzei-<lb/>
hung fu&#x0364;r ab&#x017F;ichtslo&#x017F;e Verletzung geheiligter Sta&#x0364;tten an-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0178] in der letzten Haͤlfte des ſechſten Jahrhunderts unſrer Zeit- rechnung: als die Stadt, mehr als einmal mit ſtuͤrmender Hand erobert, durch Hunger, durch Peſt wegſterben ſah was das Schwerdt verſchont hatte; als der Senat und die noch uͤbrigen alten Geſchlechter von Totila ausgerottet waren, ſo daß kaum nur der ſenatoriſche Nahme, und ein Schattenbild von Municipalverfaſſung lebte; Rom un- ter die Gewalt eines entfernt von ihr reſidirenden orienta- liſchen Statthalters herabgewuͤrdigt, die alte Religion, mit ihr alles ererbte Herkoͤmmliche vernichtet war; als eine neue andere Tugenden, ein anderes Gluͤck ausſchließ- lich predigte, andere Suͤnden verdammte als die alten Sitten; als die alten Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, alle alte Andenken und Denkmaͤhler, ein Greuel, die verherrlich- ten Vorfahren rettungsloſe Verdammte ſchienen; und in Rom, auf ewig der Waffen beraubt, ein geiſtliches Reich gegruͤndet ward, welches nun nach zwoͤlf Jahrhunderten auch erloſchen iſt. Er wuͤrde auch vielleicht die ſechs dem rechtmaͤßigen Augurium des Remus entſprechenden Saͤ- keln, durch die Dauer der geſetzlichen und freyen Verfaſ- ſung erklaͤrt, und ſie bis zu den Syllaniſchen oder bis zu den Caͤſariſchen Zeiten gezaͤhlt haben: denn jede Deutung einer Weiſſagung fordert freyen Raum, und dieſe haͤtte ſich auf beide Weiſen rechtfertigen laſſen. Der Stiftungstag Roms ward am Tage des Feſts der Pales, dem 21ſten April, gefeyert, an dem das Landvolk, Roms aͤlteſte Bewohner, die Hirtengoͤttin um Schutz und Gedeihen fuͤr ihre Heerden, um Verzei- hung fuͤr abſichtsloſe Verletzung geheiligter Staͤtten an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/178
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/178>, abgerufen am 24.11.2024.