Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Laokoon des Sophokles 53) ward Aeneas Auswandrung
vor der Einnahme der Stadt, erzählt, und wir
ihm ein großer Haufe nach neuen Wohnsitzen, vieler Phry-
ger Wunsch, folge. Hatte aber auch der Dichter der Tra-
gödie Fabel im Ganzen aus dem uralten Cycliker entnom-
men, so folgt daraus doch keineswegs daß er nicht auch
hier mit gewöhnlicher Willkühr aus den Erzählungen an-
derer Gedichte von Ilions Zerstörung frey wählte. Dio-
nysius kannte Arktinus Gedicht, nicht allein die Aethiopis,
sondern die Zerstörung Ilions, denn er berichtet seine Er-
zählung über den Raub des falschen Palladiums 54): und
er giebt diese abgesondert von denen welche meldeten das
Götterbild sey von den Troern nach Italien geführt wor-
den. Hätte also Arktinus Aeneas fernere Auswandrung
erzählt, er dessen hohes Alter Dionysius ausdrücklich er-
wähnt, so läßt es sich gar nicht denken daß dieser sein
Zeugniß für troische Auswandrung nach Italien versäumt
haben sollte, wo er aus Hellanikus, Kephalon und an-
dern so viel neueren Schriften, was sich auftreiben ließ
zusammenbrachte.

Hingegen scheint Dionysius weder Pisander, noch
Stesichorus lyrisches Gedicht über Ilions Zerstörung, ge-
kannt zu haben. Können wir der Nachricht glauben daß
Virgil das zweyte Buch der Aeneis jenem Epiker ganz
nachbildete 55): und es scheint keine Ursache vorhanden
ihr zu mißtrauen: so läßt sich wenigstens nicht bezweifeln,

daß
53) Bey Dionysius I. c. 48.
54) I. c. 69.
55) Macrobius, Saturn. V. c. 2.

Laokoon des Sophokles 53) ward Aeneas Auswandrung
vor der Einnahme der Stadt, erzaͤhlt, und wir
ihm ein großer Haufe nach neuen Wohnſitzen, vieler Phry-
ger Wunſch, folge. Hatte aber auch der Dichter der Tra-
goͤdie Fabel im Ganzen aus dem uralten Cycliker entnom-
men, ſo folgt daraus doch keineswegs daß er nicht auch
hier mit gewoͤhnlicher Willkuͤhr aus den Erzaͤhlungen an-
derer Gedichte von Ilions Zerſtoͤrung frey waͤhlte. Dio-
nyſius kannte Arktinus Gedicht, nicht allein die Aethiopis,
ſondern die Zerſtoͤrung Ilions, denn er berichtet ſeine Er-
zaͤhlung uͤber den Raub des falſchen Palladiums 54): und
er giebt dieſe abgeſondert von denen welche meldeten das
Goͤtterbild ſey von den Troern nach Italien gefuͤhrt wor-
den. Haͤtte alſo Arktinus Aeneas fernere Auswandrung
erzaͤhlt, er deſſen hohes Alter Dionyſius ausdruͤcklich er-
waͤhnt, ſo laͤßt es ſich gar nicht denken daß dieſer ſein
Zeugniß fuͤr troiſche Auswandrung nach Italien verſaͤumt
haben ſollte, wo er aus Hellanikus, Kephalon und an-
dern ſo viel neueren Schriften, was ſich auftreiben ließ
zuſammenbrachte.

Hingegen ſcheint Dionyſius weder Piſander, noch
Steſichorus lyriſches Gedicht uͤber Ilions Zerſtoͤrung, ge-
kannt zu haben. Koͤnnen wir der Nachricht glauben daß
Virgil das zweyte Buch der Aeneis jenem Epiker ganz
nachbildete 55): und es ſcheint keine Urſache vorhanden
ihr zu mißtrauen: ſo laͤßt ſich wenigſtens nicht bezweifeln,

daß
53) Bey Dionyſius I. c. 48.
54) I. c. 69.
55) Macrobius, Saturn. V. c. 2.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0150" n="128"/>
Laokoon des Sophokles <note place="foot" n="53)">Bey Diony&#x017F;ius <hi rendition="#aq">I. c.</hi> 48.</note> ward Aeneas Auswandrung<lb/><hi rendition="#g">vor der Einnahme der Stadt</hi>, erza&#x0364;hlt, und wir<lb/>
ihm ein großer Haufe nach neuen Wohn&#x017F;itzen, vieler Phry-<lb/>
ger Wun&#x017F;ch, folge. Hatte aber auch der Dichter der Tra-<lb/>
go&#x0364;die Fabel im Ganzen aus dem uralten Cycliker entnom-<lb/>
men, &#x017F;o folgt daraus doch keineswegs daß er nicht auch<lb/>
hier mit gewo&#x0364;hnlicher Willku&#x0364;hr aus den Erza&#x0364;hlungen an-<lb/>
derer Gedichte von Ilions Zer&#x017F;to&#x0364;rung frey wa&#x0364;hlte. Dio-<lb/>
ny&#x017F;ius kannte Arktinus Gedicht, nicht allein die Aethiopis,<lb/>
&#x017F;ondern die Zer&#x017F;to&#x0364;rung Ilions, denn er berichtet &#x017F;eine Er-<lb/>
za&#x0364;hlung u&#x0364;ber den Raub des fal&#x017F;chen Palladiums <note place="foot" n="54)"><hi rendition="#aq">I. c.</hi> 69.</note>: und<lb/>
er giebt die&#x017F;e abge&#x017F;ondert von denen welche meldeten das<lb/>
Go&#x0364;tterbild &#x017F;ey von den Troern nach Italien gefu&#x0364;hrt wor-<lb/>
den. Ha&#x0364;tte al&#x017F;o Arktinus Aeneas fernere Auswandrung<lb/>
erza&#x0364;hlt, er de&#x017F;&#x017F;en hohes Alter Diony&#x017F;ius ausdru&#x0364;cklich er-<lb/>
wa&#x0364;hnt, &#x017F;o la&#x0364;ßt es &#x017F;ich gar nicht denken daß die&#x017F;er &#x017F;ein<lb/>
Zeugniß fu&#x0364;r troi&#x017F;che Auswandrung nach Italien ver&#x017F;a&#x0364;umt<lb/>
haben &#x017F;ollte, wo er aus Hellanikus, Kephalon und an-<lb/>
dern &#x017F;o viel neueren Schriften, was &#x017F;ich auftreiben ließ<lb/>
zu&#x017F;ammenbrachte.</p><lb/>
          <p>Hingegen &#x017F;cheint Diony&#x017F;ius weder Pi&#x017F;ander, noch<lb/>
Ste&#x017F;ichorus lyri&#x017F;ches Gedicht u&#x0364;ber Ilions Zer&#x017F;to&#x0364;rung, ge-<lb/>
kannt zu haben. Ko&#x0364;nnen wir der Nachricht glauben daß<lb/>
Virgil das zweyte Buch der Aeneis jenem Epiker ganz<lb/>
nachbildete <note place="foot" n="55)">Macrobius, <hi rendition="#aq">Saturn. V. c.</hi> 2.</note>: und es &#x017F;cheint keine Ur&#x017F;ache vorhanden<lb/>
ihr zu mißtrauen: &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich wenig&#x017F;tens nicht bezweifeln,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">daß</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0150] Laokoon des Sophokles 53) ward Aeneas Auswandrung vor der Einnahme der Stadt, erzaͤhlt, und wir ihm ein großer Haufe nach neuen Wohnſitzen, vieler Phry- ger Wunſch, folge. Hatte aber auch der Dichter der Tra- goͤdie Fabel im Ganzen aus dem uralten Cycliker entnom- men, ſo folgt daraus doch keineswegs daß er nicht auch hier mit gewoͤhnlicher Willkuͤhr aus den Erzaͤhlungen an- derer Gedichte von Ilions Zerſtoͤrung frey waͤhlte. Dio- nyſius kannte Arktinus Gedicht, nicht allein die Aethiopis, ſondern die Zerſtoͤrung Ilions, denn er berichtet ſeine Er- zaͤhlung uͤber den Raub des falſchen Palladiums 54): und er giebt dieſe abgeſondert von denen welche meldeten das Goͤtterbild ſey von den Troern nach Italien gefuͤhrt wor- den. Haͤtte alſo Arktinus Aeneas fernere Auswandrung erzaͤhlt, er deſſen hohes Alter Dionyſius ausdruͤcklich er- waͤhnt, ſo laͤßt es ſich gar nicht denken daß dieſer ſein Zeugniß fuͤr troiſche Auswandrung nach Italien verſaͤumt haben ſollte, wo er aus Hellanikus, Kephalon und an- dern ſo viel neueren Schriften, was ſich auftreiben ließ zuſammenbrachte. Hingegen ſcheint Dionyſius weder Piſander, noch Steſichorus lyriſches Gedicht uͤber Ilions Zerſtoͤrung, ge- kannt zu haben. Koͤnnen wir der Nachricht glauben daß Virgil das zweyte Buch der Aeneis jenem Epiker ganz nachbildete 55): und es ſcheint keine Urſache vorhanden ihr zu mißtrauen: ſo laͤßt ſich wenigſtens nicht bezweifeln, daß 53) Bey Dionyſius I. c. 48. 54) I. c. 69. 55) Macrobius, Saturn. V. c. 2.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/150
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/150>, abgerufen am 22.11.2024.